Die Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung (ADHS oder ADS) ist eine neurobiologische Störung, die durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet ist. Diese Kernsymptome der ADHS treten in einem abnormen Ausmaß und situationsübergreifend auf. Die Störung beginnt vor den Alter von sechs Jahren und sollte mindestens zwei Lebensbereiche oder Situationen umfassen. Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörungen sind keine Erscheinungen unserer modernen Zeit, vielmehr finden sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts Beschreibungen dieser Verhaltensstörungen und seit den 50er Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft systematisch mit diesem Krankheitsbild.
Die Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung galt lange ausschließlich als eine Erkrankung des Kindes- und Jugendalters, obwohl bereits in den 70er Jahre die Hypothese aufgestellt, dass ADHS - damals als Minimal Brain Dysfunction bezeichnet - in das Erwachsenenalter persistiert. Inzwischen ist gut belegt, dass mindestens 50 Prozent der betroffenen Kinder diese Störung bis in das Erwachsenenalter beibehalten.
Es gilt heutzutage als gesichert, dass der ADHS eine gestörte Informationsverarbeitung in denjenigen Hirnregionen zu Grunde liegt, die für die Verhaltens- und Gefühlssteuerung zuständig ist. Bei der ADHS handelt es sich also um eine neurobiologische Funktionsstörung, die durch genetische und umweltbedingte Faktoren verursacht wird. Im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen ist die genetische Komponente besonders ausgeprägt. Man geht davon aus, dass der ADHS eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen bestimmten Hirnabschnitten zugrunde liegt. Diese Störung ist wiederum durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter) in diesen Hirnbereichen – vor allem von Dopamin und Noradrenalin – bedingt. Diese Botenstoffe stehen zwischen den einzelnen Nervenzellen, im sog. synaptischen Spalt, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung, was eine gestörten Informationsweiterleitung und eine unzureichende Filterung von Reizen zur Folge hat. Vereinfacht kann man sich vorstellen, dass aus diesem Grund z.B. das Auftreten neuer Gedanken nicht gehemmt wird, was zu einer abnorm erhöhten Ablenkbarkeit und „Zerstreutheit“ führt.
Genetik und Neurobiologie alleine reichen jedoch in der Regel nicht aus, um die Problematik eines ADHS-Patienten vollständig zu erklären. In der biographischen Entwicklung des Menschen treten eine Vielzahl von Umweltfaktoren auf, die die Entwicklung der angelegten Störung begünstigen oder eindämmen, möglicherweise sogar ganz verhindern können. Es handelt sich also um ein komplexes Wechselspiel zwischen körpereigenen und Umweltfaktoren (wie z.B. frühe Kindheitsentwicklung, Vernachlässigung durch Bezugspersonen, traumatische Lebensereignisse oder aber Förderung und emotionale Unterstützung durch Eltern etc.), die die Entstehung und den Verlauf der Erkrankung maßgeblich beeinflussen.
Die Kernsymptome der Erkrankung sind die Aufmerksamkeitsstörung, die Hyperaktivität und die Impulsivität. Zusätzlich existieren Auffälligkeiten im Bereich der sogenannten Affektkontrolle, wobei nicht immer alle Symptome vorliegen oder auf den ersten Blick erkennbar sein müssen.
Das Hauptproblem der Patienten liegt in der Schwierigkeit, längere Zeit bei einer Sache oder Aufgabe zu bleiben, wichtige Punkte zu beachten und Ablenkungen zu minimieren. Gerade wenn die Tätigkeit eintönig ist, können die Betroffenen abwesend, wenig ausdauernd und unorganisiert wirken. Sie neigen dazu, sich zu verzetteln, mehrere Dinge gleichzeitig anzufangen und keine zu beenden. Dies führt zu einem ineffizienten, langsamen und desorientierten Arbeitsstil, der häufig zu Schwierigkeiten im Berufsleben führt. Ein weiteres typisches Symptom ist die starke Vergesslichkeit im Alltag, so werden zum Beispiel Termine versäumt, Vereinbarungen nicht eingehalten oder Alltagsutensilien verlegt. Es bestehen Probleme in Gesprächen, Besprechungen oder etwa im Studium zuzuhören und die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Die Organisation des Alltags ist beeinträchtigt und häufig wirken die Patienten desorganisiert und planlos.
Personen mit Hyperaktivität sind häufig in Bewegungen oder leiden unter einer starken inneren Unruhe. Sie wirken rastlos, nervös und berichten von innerer Anspannung sowie der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Es kann vorkommen, dass sie ständig mit den Füßen wippen, auf der Tischplatte trommeln oder ihre Sitzposition übermäßig oft wechseln. Das Bedürfnis nach permanenter Bewegung und „Action“ äußert sich aber auch nicht selten in exzessivem Sport oder Risikoverhalten.
Die erhöhte Impulsivität von ADHS Patienten kann sich beispielsweise dadurch zeigen, dass sie anderen Menschen ständig in das Wort fallen, Antworten geben, bevor die Frage zu Ende gestellt wurde oder in zwischenmenschlichen Situationen zu wütenden Impulsdurchbrüchen neigen („Ausrasten“).
Viele Patienten klagen über eine rasche und sehr belastende Stimmungslabilität. Schon bei kleinsten Anlässen kann die Stimmung von sehr gut bis zu tief bedrückt und verzweifelt schwanken. Typischerweise werden diese Stimmungsschwankungen zwar sehr intensiv erlebt, sind aber meist nur von kurzer Dauer.
Bei Erwachsenen können sich folgende Symptome im Alltag zeigen:
Die Diagnosestellung sollte durch einen in diesem Krankheitsbild erfahrenen Facharzt für Psychiatrie und/oder Psychotherapie erfolgen. ADHS ist eine klinische Diagnose, das bedeutet, dass die Diagnose anhand der spezifischen Symptome erfolgt, wobei geprüft wird, ob international festgelegte Diagnosekriterien erfüllt sind. Es ist wichtig zu prüfen, ob die Symptome bereits in der Kindheit vorhanden waren, ob sie situationsübergreifend und in verschiedenen Lebensbereichen auftreten. Es kann durchaus sein, dass in der Kindheit nur eine sehr milde Symptomausprägung vorlag. Oftmals bekommen die Patienten dann mehr Probleme, wenn sie ihr Leben eigenverantwortlich strukturieren müssen und die äußere Rahmengebung durch die Eltern wegfällt. Die krankheitstypischen Defizite im Bereich von Aufmerksamkeit und Konzentration können sich in bestimmten neuropsychologischen Test abbilden, häufig zeigen jedoch gerade erwachsene Patienten ein relativ unauffälliges Testprofil, obwohl sie im Alltag mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben. Es gibt also keinen spezifischen „ADHS-Test“, sondern die Diagnosestellung erfolgt in der
Zusammenschau aller Befunde. Die Befragung von Eltern oder Partnern ist vor allem bei jenen Patienten hilfreich, die sich schwer tun, ihre Befindlichkeit zu vermitteln oder eigene Defizite wahrzunehmen.
Die einzelnen Symptome einer ADHS sind für sich genommen relativ unspezifisch und können sowohl bei anderen psychischen Krankheiten als auch in besonderen Stresssituationen bei gesunden Menschen auftreten. Die Abgrenzung zu körperlichen Krankheiten wie z.B. Schilddrüsenfunktionsstörungen fällt in der Regel leicht.
Auf psychiatrischem Fachgebiet müssen insbesondere depressive Erkrankungen, bipolare affektive Störungen leichteren Schweregrades und emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ oder vom impulsiven Typ sowie die sog. antisoziale Persönlichkeitsstörung abgegrenzt werden. Ferner spielt im Kindesalter die Abgrenzung zu Entwicklungsverzögerungen und Intelligenzminderungen eine Rolle, während im höheren Lebensalter eine sog. milde kognitive Störung oder eine beginnende Demenz abgegrenzt werden muss.
Die Therapie der ADHS umfasst verschiedene Bausteine, die je nach individueller Symptomatik, aber auch Bedürfnissen und Wünschen des Patienten zusammengestellt werden. Die ausführliche Aufklärung über das Krankheitsbild und die Beratung des Patienten (Psychoedukation) bildet die erste Behandlungsmaßnahme. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und das Einbeziehen von Bezugspersonen sind oftmals hilfreich, um eine psychische Entlastung bei den Betroffenen und ihrer Familie zu erreichen.
Wenn die Symptome stark ausgeprägt sind und in mehreren Lebensbereichen Beeinträchtigungen bestehen, sollte eine medikamentöse Behandlung unbedingt in Erwägung gezogen werden. Die spezifisch für die Therapie der ADHS eingesetzten Medikamente beeinflussen und harmonisieren den Stoffwechsel der Botenstoffe im Gehirn, führen zu einem Ausgleich der bei ADHS bekannten Neurotransmitterdysbalance und bewirken so in den meisten Fällen eine ganz erhebliche Verbesserung der Symptomatik.
Coaching oder eine störungsspezifische Verhaltenstherapie können helfen, mit den krankheitsbedingten Einschränkungen und Konflikten besser umgehen zu können oder einzelne Symptome abzumildern. Ab einem gewissen Ausprägungsgrad zeigt sich die Kernsymptomatik der ADHS jedoch recht resistent gegen solche psychotherapeutischen Hilfen. Eine Psychotherapie im engeren Sinne ist vor allem dann angezeigt, wenn zusätzliche Probleme, etwa eine Depression, Ängste oder eine gravierende Störung des Selbstwertgefühls vorliegen.
Die Prognose einer unbehandelten ADHS ist weniger günstig, meistens „wächst“ sich diese Erkrankung nicht aus – eine Auffassung, die viele Jahre auch von Ärzten vertreten wurde. Eine unbehandelte ADHS birgt das Risiko weiterer psychischer Krankheiten (sog. komorbide Störungen), vor allem Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen.
Die Prognose ist bei einer adäquaten Therapie jedoch sehr günstig. Ungefähr 70 Prozent der Betroffenen werden durch eine medikamentöse Behandlung entweder symptomfrei, oder verspüren eine erhebliche Verbesserung ihrer Problematik. Psychotherapie alleine ist allenfalls bei sehr leichten Formen der Erkrankung erfolgversprechend. Eine häufige Frage gilt der Dauer einer medikamentösen Behandlung. Es ist in der Regel so, dass die Medikation die Symptome für die Dauer der Einnahme unterdrückt, diese jedoch bei Absetzen wieder auftreten. Wenn jedoch die Medikamente kontinuierlich über einen längeren Zeitraum von ein bis zwei Jahren eingenommen wurden, bleiben die Patienten oftmals auch nach Absetzen weiterhin stabil. Es muss also jeweils im Einzelfall geprüft werden, wie lange die Medikamenteneinnahme erforderlich ist.
So verständlich der Wunsch nach einer „Selbstdiagnose“ durch Informationen aus dem Internet oder Literatur auch sein mag, die Diagnosestellung gehört unbedingt in die Hand von Fachleuten. Lassen Sie sich durch Kommentare wie „das gibt es doch nur bei Kindern“ oder „das ist so eine Modediagnose“ nicht verunsichern und suchen Sie einen Experten für ADHS auf, wenn Sie bei sich oder Ihren Angehörigen Symptome einer ADHS entdecken. In der Regel sind die ortsansässigen Selbsthilfegruppen gut darüber informiert, welcher Arzt in der Umgebung sich besonders mit diesem Krankheitsbild auskennt.
Hauptautorin: Dr. med. Sabine Krämer
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
AWMF, Banaschewski Tobias, Hohmann Sarah, Millenet Sabina, Langfassung der Leitlinie "ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen": https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_2018-06.pdf (online, letzter Abruf: 05.03.2020)
aktualisiert am 05.03.2020