Noch immer gelten Essstörungen als eine Frauenkrankheit. Doch die Zahl der Männer, die an Magersucht oder an einer ähnlichen Erkrankung, der sogenannten „umgekehrten Anorexie“ leiden, nimmt zu.
In den zehn Jahren zwischen 2008 und 2018 ist die Zahl der Jungen zwischen 12 und 17 Jahren, die wegen einer Essstörung in ärztlicher Behandlung waren, um 60 Prozent gestiegen. Bei den reiferen Männern über 40 ist sogar eine Zunahme von 96 Prozent zu verzeichnen. Die steigenden Zahlen haben verschiedene Ursachen: Ärzte sind zunehmend mehr dafür sensibilisiert, dass Essstörungen keine Frauenkrankheit sind, und stellen die Diagnose häufiger. Männer sind eher in der Lage, sich eine psychische Erkrankung einzugestehen und Hilfe zu suchen. Zudem gewinnt auch bei Jungen und Männern der Wunsch nach einem perfekten Körper immer mehr an Priorität. Männliche Essstörungen können in allen Ausprägungen auftreten, wie bei Frauen. Man unterscheidet restriktive Anorexie (Vermeidung von Essen) und den Purging-Typ (Vermeidung von Essen in Kombination mit Essanfällen und Erbrechen). Bei Männern ist zudem häufig eine „umgekehrte Anorexie“ zu beobachten, die auch als Muskelsucht oder muskeldysmorphe Störung bezeichnet wird.
Die Ursachen einer Essstörung sind immer vielfältig. Anfällig sind vor allem Jungen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, viel von sich und anderen erwarten und zum Perfektionismus neigen. Treten Essstörungen in der Familie auf, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst eine Essstörung zu entwickeln. Frühere Mobbing- oder Missbrauchserfahrungen erhöhen das Risiko für gestörtes Essverhalten. Meistens treten Essstörungen in der Pubertät auf, wenn sich der Körper stark verändert. Jungen finden sich dann entweder zu dick oder häufig auch zu schlaksig, wollen gegebenenfalls Muskeln aufbauen und männlicher wirken. Aber auch erwachsene Männer spüren zunehmend den Druck der Gesellschaft, dass ein männlicher Körper schlank und durchtrainiert aussehen soll. Die Körperunzufriedenheit kann dann von einer Diät in eine Magersucht oder in eine Muskelsucht umschlagen.
Wie Frauen hungern auch Männer manchmal, bis sie ein lebensbedrohliches Untergewicht erreicht haben. Häufig jedoch zeigt sich die männliche Anorexie weniger offensichtlich. Denn eine männliche Magersucht geht oft einher mit einer sogenannten Muskelsucht. Das heißt, es wird nicht nur versucht, Fett abzubauen und abzunehmen, sondern es sollen gleichzeitig Muskeln aufgebaut werden. So wie Mädchen nach einer Diät häufig in ihrem Tun bestärkt werden: „Du hast aber toll abgenommen!“, so bekommen auch Jungen Anerkennung, wenn sich der Erfolg ihres Muskeltrainings abzeichnet. Die Grenzen zwischen leidenschaftlicher sportlicher Betätigung und krankhaftem Verhalten sind fließend. Sport ist gesellschaftlich anerkannt, gilt sogar als erwünscht. Häufig wird eine Muskelsucht oder Sportsucht deshalb erst spät erkannt.
Eine typische Magersucht (Anorexia nervosa) unterscheidet sich jedoch bei Jungen und Männern nicht wesentlich von der Erkrankung bei Frauen. Die Betroffenen möchten immer weiter abnehmen, empfinden sich als zu dick, obwohl sie nach äußeren Maßstäben schlank oder bereits untergewichtig sind. Sie haben Angst zuzunehmen und vermeiden Nahrung, die viele Kalorien mit sich bringt. Ein zusätzlicher Kalorienabbau wird durch Maßnahmen wie viel Sport, Erbrechen oder Verwenden von Abführmitteln angestrebt.
Muskelsucht wird auch als muskeldysmorphe Störung oder Muskeldysmorphie bezeichnet. Die Muskeldysmorphie ähnelt der Körperschemastörung bei (weiblichen) Magersüchtigen: Anorektische Mädchen sehen im Spiegel noch immer das dicke Mädchen. Jungen oder Männer mit einer Muskelsucht finden sich immer noch zu schmächtig oder zu dünn. In der Folge muss noch härter trainiert werden.
Mit dem strengen Training geht ein nicht weniger striktes Ernährungsprogramm einher: Fettmasse soll reduziert, Muskelmasse weiter aufgebaut werden. Dafür wird jede Menge Eiweiß gegessen, während Fett und Kohlenhydrate sowie häufig die Gesamtkalorienzufuhr weiter eingeschränkt werden.
Wie magersüchtige Personen haben auch muskelsüchtige Männer eine lange Liste an verbotenen Lebensmitteln. Die Nahrungsaufnahme wird nicht mehr als Genuss empfunden, sondern folgt einem genauen Plan. Abweichungen davon sind mit Stress und Schuldgefühlen verbunden. Die einseitige Ernährung und das Hungern können zu Heißhungerattacken und Essanfällen führen. Diese werden dann mit Erbrechen oder mit noch mehr Sport kompensiert. Wiegen und Messen des Körper- und Muskelumfangs werden zu wichtigen Erfolgsparametern. Stimmung und Selbstwert sind stark davon abhängig. Auch bei Verletzungen oder Krankheit wird eisern weitertrainiert. Soziale Beziehungen werden zugunsten des Trainings vernachlässigt. Essen mit Freunden und Familie wird aufgrund des strikten Ernährungsverhaltens vermieden. Die Muskeldysmorphie kann zudem dazu führen, dass Anabolika eingenommen werden, die den Muskelaufbau beschleunigen sollen.
Essstörungen bei Jungen oder Männern werden oft erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Sie müssen nicht mit Untergewicht einhergehen, sondern können sich auch hinter einem austrainierten Körper verstecken, was eine hohe Dunkelziffer nahelegt. Die gängigen Fragebögen sind auf Anorexie bei Frauen zugeschnitten und greifen bei Männern nicht in allen Punkten. Die Ängste, das Körperbild betreffend, unterscheiden sich ebenso wie das Ernährungsverhalten. Da Männer einen geringeren Körperfettanteil haben, wird niedriges Gewicht bei ihnen seltener als Alarmzeichen gesehen. Auch wollen sich viele Männer eine Essstörung, eine „Frauenkrankheit“, lange selbst nicht eingestehen.
Eine Diagnose wird gestellt, in dem die Entwicklung des Gewichts, Gewichtsschwankungen und das Körperideal abgefragt werden, das Sport- und Ernährungsverhalten unter die Lupe genommen werden. Eine starke Körperunzufriedenheit, die Art, wie über den eigenen Körper gesprochen wird, wie häufig Gewicht und Maße überprüft werden, können ein Hinweis auf eine Essstörung sein.
Bei betroffenen Männern und Jungen kann es durch die Magersucht zu schwerwiegenden Auswirkungen kommen:
Magersucht ist eine lebensbedrohliche Krankheit. Bei Jungen und Männern ist die Prognose noch schlechter als bei Frauen. 15 bis 20 Prozent der männlichen Magersüchtigen hungern sich zu Tode.
Ohne therapeutische Hilfe ist der Weg aus der Mager- oder Muskelsucht kaum möglich. In der Therapie lernen die Betroffenen nicht nur wieder zu essen und zu einem normalen Sportverhalten zurückzukehren, sie bauen auch ihr Selbstwertgefühl auf und lernen mit den unterdrückten Gefühlen, die hinter dem gestörten Essverhalten stehen, konstruktiv umzugehen.
BZGA Essstörungen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) – Essstörungen bei Jungen und Männern: https://www.bzga-essstoerungen.de/habe-ich-eine-essstoerung/essstoerungen-bei-jungen-und-maennern/ (online, letzter Abruf: 10.03.2022)
Landesfachstelle Essstörungen NRW, Ute Waschescio – Essstörungen bei Jungen und Männern: https://www.landesfachstelle-essstoerungen-nrw.de/fileadmin/contents/Broschueren/Essstoerungen_bei_Jungen_und_Maennern.pdf (online, letzter Abruf: 10.03.2022)
Men’s Health, Tove Marla Hortmann – Muskelsucht erkennen - Was steckt hinter dem Adonis-Komplex: https://www.menshealth.de/behandlung/muskelsucht-das-steckt-hinter-dem-adonis-komplex/ (online, letzter Abruf: 10.03.2022)
aktualisiert am 10.03.2022