Der Begriff Dissoziation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Zerfall oder Trennung. Im Bereich der Psychiatrie versteht man unter Dissoziation die Unterbrechung von normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt. Es handelt sich um einen Defekt der mentalen Integration, bei der eine oder mehrere Bereiche mentaler Prozesse vom Bewusstsein getrennt werden und unabhängig voneinander ablaufen.
Dissoziationen sind vielgestaltige Störungen, bei der es zu einem teilweisen oder völligen Verlust von psychischen Funktionen wie Gefühle, Erinnerung oder Empfindungen, der Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung sowie der Kontrolle von Körperbewegungen kommt. Miteinander in Verbindung stehende Prozesse oder Inhalte können nicht mehr in Beziehung gesetzt und nicht in Bewusstsein, Gedächtnis und/oder Selbstbild integriert werden.
Im Folgenden beschränken wir und auf dissoziative Symptome, die unter Extrembelastungen auftreten. Diese Störungen werden fast immer durch einmalige oder wiederholte traumatische Erfahrungen ausgelöst. Man kann zwischen verschiedenen Formen dissoziativer Störungen unterscheiden, je nachdem welche Funktionsbereiche betroffen sind.
Die Betroffenen leiden unter Erinnerungslücken, die Zeiträume von Minuten bis zu Jahren umfassen können. Es fehlen meist wichtige Erinnerungen an persönliche (meist hochgradig belastende oder traumatische) Erfahrungen. Diese können weder sprachlich ausgedrückt noch vollständig im Bewusstsein gehalten werden. Es bestehen Gedächtnislücken, die weit über das Maß der normalen Vergesslichkeit hinausgehen.
Hierunter versteht man das plötzliche und unerwartete Verlassen der gewohnten Umgebung (z.B. Arbeitsplatz, Wohnumfeld). Die Betroffenen sind außerdem nicht in der Lage, sich an Teile bzw. die gesamte eigene Vergangenheit zu erinnern. Des Weiteren besteht Unsicherheit über die eigene Identität und/oder die Übernahme einer neuen Identität.
Bei der DIS handelt es sich um eine schwere Beeinträchtigung des Identitätserlebens, bei der zwei oder mehr getrennte, völlig unterschiedliche Identitäten oder Persönlichkeitszustände vorhanden sind und im Wechsel das Verhalten des Betroffenen bestimmen. Diese Störung gehört jedoch nicht zur Gruppe der Schizophrenie, wie von vielen angenommen wird. Die dissoziierten Persönlichkeitsanteile werden von den Betroffenen häufig als nicht zur eigenen Persönlichkeit gehörend wahrgenommen. Daneben können andere dissoziative Symptome wie z.B. Erinnerungslücken und Entfremdungserleben auftreten.
Anhaltende bzw. wiederkehrende Phasen, in denen die Betroffenen ein starkes Gefühl der Entfremdung oder des Losgelöstseins vom eigenen Selbst haben. Hierzu gehören vor allem Symptome wie gestörte Körperwahrnehmung, Mangel an Gefühlsreaktionen oder das Gefühl, sich selbst wie außen zu betrachten bzw. die eigenen Handlungen oder die eigene Sprache nicht vollständig kontrollieren zu können. Veränderung der Selbstwahrnehmung sowie von Sinneswahrnehmungen.
Durch ein Gefühl der Unwirklichkeit wird die Umwelt als fremd oder verändert wahrgenommen. Sie tritt meist als ein Symptom anderer Störungen auf, z.B. im Zusammenhang von Panikattacken.
Verlust oder Veränderungen von Bewegungsfunktionen oder Sinnesempfindungen, denen keine organische Ursache zugrunde liegt.
Häufig treten dissoziative Störungen und Symptome im Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen auf. Ein großer Teil der Betroffenen hat wiederholte schwere Traumatisierungen erlebt. Dissoziative Störungen werden daher auch als besondere Form der posttraumatischen Störungen verstanden.
Das Kernmerkmal ist das Vorliegen dissoziierter Persönlichkeitsanteile. Es handelt sich hierbei um Anteile der Gesamtpersönlichkeit, die durch anhaltende, weitreichende dissoziative Prozesse voneinander abgetrennt sind. Diese Anteile haben im Laufe der Zeit so etwas wie ein „Eigenleben" entwickelt und sind nun in der Lage, mehr oder weniger eigenständig die Kontrolle zu übernehmen.
Am Anfang der Behandlung wissen die meisten nichts von der Existenz der dissoziierten Persönlichkeitsanteile und streiten diese Möglichkeit strikt ab. Andere hingegen wissen einige Anteile von der Existenz der anderen Anteile, können sogar deren Aktivität beobachten, sind aber nicht oder nur mit großer Mühe in der Lage, das Verhalten anderer Anteile zu beeinflussen.
Hinweise auf ein mögliches Vorliegen dissoziierter Persönlichkeitsstörungen können sein:
Zudem berichten viele Betroffene über innere Stimmen oder als nicht zu sich selbst gehörig erlebte Gedanken oder Gefühle sowie Entfremdungserleben, oder körperliche Symptome ohne organische Ursache. Viele berichten auch über andere Formen von psychischen Problemen und Symptomen. Hierzu gehören insbesondere Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Symptome, Probleme in sozialen Beziehungen, Tendenz zu selbstschädigendem Verhalten, Suchtprobleme sowie Probleme im Umgang mit Gefühlen und Handlungsimpulsen.
Es gibt verschiedene Verfahren zur Diagnostik einer schweren dissoziativen Störung. Wichtig ist vor allem die Erhebung der Krankengeschichte, Informationen über den persönlichen Hintergrund, die Schilderung der Symptome durch den Patienten und die Beobachtung durch den Therapeuten oder den Arzt. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Diagnostik wird durchgeführt durch Fragebogen zu Selbst- und Fremdbeurteilung. Anhand der Fragebögen kann man sich einen Überblick über das allgemeine Ausmaß an vorliegenden Symptomen verschaffen.
Meist werden Symptome vorgegeben, bei denen der Patient einschätzen bzw. angeben muss, ob und gegebenenfalls wie häufig die jeweiligen Symptome bei Ihm vorkommen. Dadurch kann man ermitteln, ob ein erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer schweren dissoziativen Störung besteht. Ist dies der Fall, so wird eine genauere klinische Diagnostik beispielsweise durch strukturierte Gesprächsleitfäden oder diagnostische Interviews durchgeführt.
Im Vordergrund der Behandlung einer schweren dissoziativen Störung steht eine ambulante Einzelpsychotherapie, die zeitweise durch eine medikamentöse Behandlung unterstützt werden kann. Manchmal können auch einzelne oder wiederholte stationäre Behandlungen zur Krisenintervention notwendig sein, diese sind jedoch von kurzer Dauer. Eine weitere Möglichkeit sind die so genannten Intervall-Therapien, bei denen die Betroffenen in regelmäßigen Abständen für zeitlich begrenzte Therapie-Intervalle in einer Klinik aufgenommen werden, um intensiv an vorab geplanten Fragestellungen zu arbeiten.
Im Anschluss wird die Therapie über mehrere Monate ambulant fortgesetzt, bis sich das nächste stationäre Behandlungsintervall anschließt. Weitere Behandlungsmöglichkeiten sind z.B. ambulante Gruppentrainings oder Stabilisierungsgruppen sowie die Einbeziehung von Familie oder anderen wichtigen Bezugspersonen in die Behandlung. Des Weiteren stehen auch nicht sprachliche Therapieformen wie Tanztherapie, Kunsttherapie oder Musiktherapie zur Verfügung.
Kernelement der Behandlung ist jedoch die ambulante Psychotherapie. Es handelt sich um eine Langzeitbehandlung, welches in den meisten Fällen über mehrere Jahre verläuft. Am häufigsten kommen kognitive Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zum Einsatz, die meist durch trauma-spezifische Techniken ergänzt werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist eine gute vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Ziel der Behandlung ist die Stabilisierung, Traumabearbeitung, Integration und Neuorientierung.
Dissoziative Störungen lassen sich in der Regel gut behandeln. Die Prognose gilt, bei einer spezifisch auf das Störungsbild und den Einzelfall zugeschnittenen Therapie, bei einem Großteil der Betroffenen als günstig. Bei den meisten erreicht man bei einer optimalen Behandlung eine erhebliche Reduktion ihrer Symptome.
Letzte Aktualisierung am 15.12.2020.