Bei Muskelkrämpfen handelt es sich um komplexe Phänomene, die sowohl muskuläre als auch neurologische Ursachen haben können. Eine vielversprechende Behandlungsmethode ist die Elektrostimulation, mit der durch gezieltes Training der Muskulatur die Krampfschwelle deutlich erhöht werden kann. Diese Methode zeigt eine gute Wirksamkeit, ist aber aufgrund der schmerzhaften Anwendung derzeit vor allem für Patienten mit hohem Leidensdruck geeignet.
Prof. Behringer: Muskelkrämpfe sind plötzlich auftretende, unwillkürliche und schmerzhafte Kontraktionen der Muskulatur. Obwohl Muskelkrämpfe den Menschen vermutlich schon seit Anbeginn der Zeit bekannt sein dürften, war die Ursache dieses Phänomens lange ungeklärt. Dies lag unter anderem daran, dass man Krämpfe, durch ihren unvorhersehbaren Beginn, nur schwer im Labor unter standardisierten Bedingungen untersuchen konnte.
Neuere Methoden erlauben aber nun die gezielte Auslösung von Muskelkrämpfen. In der Wissenschaft hat sich hierfür die Elektrostimulation der Muskulatur in verkürzter Muskelposition als reliable Methode herausgestellt. Mit Hilfe dieser neuen Möglichkeiten konnte gezeigt werden, dass Muskelkrämpfe kein rein peripheres, also auf die Muskulatur beschränktes, Phänomen darstellen, sondern dass die Nervenschleife über das Rückenmark an der Pathophysiologie beteiligt sind.
Nach aktueller Vorstellung geht man davon aus, dass die Nervenzellen im Rückenmark, die für die Ansteuerung der Muskelfasern verantwortlich sind, ein Ungleichgewicht an hemmenden und aktivierenden Informationen aus dem Muskel erhalten und damit den Krampf auslösen. Werden diese Informationen aus dem Muskel chemisch unterbrochen (durch die Gabe von Lokalanaesthetika, also lokaler Betäubung), lassen sich nur noch schwache und deutlich kürzere Krämpfe auslösen. Diese Daten sprechen für eine neurologische Genese von Muskelkrämpfen. Interessanterweise leiden häufig Menschen mit degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen unter Muskelkrämpfen.
Lange Zeit ging man davon aus, dass ein Magnesiummangel für das Auftreten von Muskelkrämpfen verantwortlich ist. Die Evidenzlage hierfür ist jedoch eher schwach und Untersuchungen von Ausdauerathleten haben gezeigt, dass sich die Elektrolyte im Blut nicht zwischen denen mit und ohne Krämpfe unterscheiden. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Untersuchung von Magnesiumkonzentrationen im Blut auch ein wenig kurz greift, da diese nicht zwingend die Konzentrationen in anderen Kompartimenten des Körpers widerspiegeln, was die Untersuchung der Zusammenhänge sehr komplex macht.
Prof. Behringer: Es ist anzunehmen, dass bei der Genese von Muskelkrämpfen viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Interessant ist jedoch, dass Muskelkrämpfe fast ausschließlich in verkürzter Muskelposition entstehen – das heißt, wenn sich die beiden Knochenpunkte des Muskelursprungs und des Muskelansatzes stark annähern. Bei dieser kurzen Muskellänge sind die hemmenden Informationen aus der Muskulatur stark reduziert und es überwiegt die Aktivierung, welche die Nervenzellen im Rückenmark erreichen.
Muskeln, die zwei Gelenke überspannen, lassen sich, je nach Gelenkstellung, besonders stark verkürzen. Diese Tatsache wird auch dafür verantwortlich gemacht, warum die Wadenmuskulatur (überspannt das Knie- und Sprunggelenk) besonders häufig von Krämpfen heimgesucht wird.
Interessant ist jedoch, dass Muskelkrämpfe fast ausschließlich in verkürzter Muskelposition entstehen
Prof. Behringer: Warum ältere Menschen besonders häufig von Krämpfen heimgesucht werden und die Krämpfe nachts auftreten, ist bislang nicht komplett geklärt. Vor dem Hintergrund der Beteiligung des Nervensystems an der Pathophysiologie von Muskelkrämpfen kann jedoch vermutet werden, dass die Altersabhängigkeit eine Funktion degenerativer Wirbelsäulenerkrankungen ist, die ebenfalls mit dem Alter zunehmen. Da zumindest manche Daten auf eine Beteiligung des Hydrationsstatus bei der Krampfgenese hinweisen und das Durstgefühl bei älteren Menschen nachlässt, ist es jedoch auch hier eine Verbindung denkbar.
Weiterhin treten Muskelkrämpfe auch bei verschiedenen Grunderkrankungen (z.B. beim Diabetes oder einer Schilddrüsenüberfunktion) oder aber als Nebenwirkung von verschiedenen Medikamenten auf. Aufgrund der Multimorbidität vieler Menschen im höheren Lebensalter, ist demnach auch an diese Ursachen zu denken.
Prof. Behringer: Die Hydration ist ein umstrittener Faktor bei der Genese von Muskelkrämpfen, da nicht genau klar ist, wie eine Dehydration die Krämpfe auslösen soll. Studiendaten weisen aber darauf hin, dass Menschen sowohl auf der Nord- wie auch auf der Südhalbkugel der Erde vermehrt in den warmen Monaten des Jahres nach Muskelkrämpfen und ihrer Therapie im Internet suchen. Zudem gibt es zahlreiche Medienberichte über Sportwettkämpfe, die unter extrem hohen Temperaturen durchgeführt wurden und mit zahlreichen Muskelkrämpfen bei den Athleten einhergingen.
Zudem gibt es in der Literatur Hinweise darauf, dass sich die Krampfneigung erhöht, wenn der Flüssigkeitsverlust nach Belastungen unter hohen Außentemperaturen durch hypotone Getränke ausgeglichen wird. Wenngleich diese Daten kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen Hydration und Wadenkrämpfen darstellt, so legt es einen Zusammenhang zwischen Schwitzen, Wasserhaushalt und Muskelkrämpfen nahe. Als pathophysiologische Erklärung wird in der Literatur vermutet, dass es durch den Flüssigkeitsmangel zu einer Verminderung des Volumens des Extrazellularraums kommt, wodurch Nervenendigungen irritiert werden und damit die Krämpfe auslösen.
Wenngleich diese Daten kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen Hydration und Wadenkrämpfen darstellt, so legt es einen Zusammenhang zwischen Schwitzen, Wasserhaushalt und Muskelkrämpfen nahe.
Prof. Behringer: Die Evidenzlage für einen Nährstoffmangel als Ursache für Muskelkrämpfe ist gering. Viele der verfügbaren Daten sind eher anekdotisch und stammen nicht aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Das heißt nicht, dass ein Nährstoffmangel nicht auch an der Genese von Krämpfen beteiligt sein kann, aber es fehlen bislang belastbare Daten für eine solche Aussage. Dies gilt zumindest für die meisten interindividuellen Varianzen in den Nährstoffkonzentrationen im Körper.
Anders sieht es beispielsweise bei Dialysepatienten aus. Hier wurden in der Literatur Elektrolytmängel mit Krämpfen in Verbindung gebracht. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass es im Rahmen der Dialyse auch zu einer schnellen Entfernung von überschüssiger Flüssigkeit kommt, die selbst wieder das Auftreten von Krämpfen fördert.
Prof. Behringer: Es gibt eine ganze Reihe an Medikamenten, bei denen Muskelkrämpfe als Nebenwirkung bekannt sind. Dazu gehören insbesondere Diuretika (kaliumsparende-Diuretika und Thiazid-Diuretika) sowie inhalierte langwirksame Beta-Agonisten (LABA). Aber auch andere Medikamente wie Benzodiazepine oder manche orale Kontrazeptiva erhöhen das Risiko. Sollte eine Medikation im Verdacht stehen, die Häufigkeit von Muskelkrämpfen zu erhöhen, sollte die Medikation ausgiebig mit dem behandelnden Arzt besprochen und nach möglichen Alternativen gesucht werden.
Prof. Behringer: Die effektivste Methode bei einem akuten Wadenkrampf ist die Dehnung des betroffenen Muskels. Mit zunehmender Länge des Muskels können dadurch die Hemmenden Informationen aus dem Muskel wieder auf die Nervenzellen im Rückenmark wirken und den Teufelskreislauf zwischen Anspannung-Verkürzung-verminderte Hemmung unterbrechen. Es ist aber auch gut zu wissen, dass Muskelkrämpfe normalerweise selbstlimitierend sind. Das bedeutet, dass man den Schmerz auch aushalten und warten kann, bis der Krampf wieder nachlässt. Ob dieser Ansatz besser ist, um nachfolgende Krämpfe zu vermeiden, ist Gegenstand der aktuellen Untersuchungen.
Die effektivste Methode bei einem akuten Wadenkrampf ist die Dehnung des betroffenen Muskels.
Prof. Behringer: Zahlreiche Erkrankungen gehen mit einer erhöhten Krampfneigung einher. Dazu gehören neben neurologischen Erkrankungen (z.B. Polyneuropathien) und Muskelerkrankungen (z.B. Glykogenosen) auch internistische Erkrankungen (z.B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenüberfunktion, Leberzirrhose oder Durchblutungsstörungen).
Prof. Behringer: Die Lebenszeitprävalenz von Muskelkrämpfen liegt bei über 90%. Das heißt mit anderen Worten, dass fast jeder Mensch in seinem Leben mindestens einmal einen Muskelkrampf erleidet. Treten die Krämpfe aber immer häufiger auf, sollte ärztliche Hilfe aufgesucht und die Ursache abgeklärt werden. Dies gilt insbesondere für solche Krämpfe die von ihrer Häufigkeit und/oder Intensität die Lebensqualität deutlich einschränken.
Prof. Behringer: Kann eine Ursache für die Krämpfe identifiziert werden, dann richtet sich die ärztliche Therapie primär auf die Behebung des Auslösers. Das bedeutet, dass zugrundeliegende Erkrankungen therapiert und/oder Medikationen umgestellt werden. In vielen Fällen ist die Ursache jedoch nicht ausmachbar. Dann kommt nur eine symptomatische Therapie in Betracht. Leider ist die medikamentöse Therapie von Muskelkrämpfen stark eingeschränkt und die wenigen verfügbaren Wirkstoffe mit teils hohen Nebenwirkungen verbunden.
Dies gilt z.B. für Chinin, welches eigentlich aus der Malariatherapie stammt, aber zur Therapie von Muskelkrämpfen eingesetzt wird. Aufgrund der seltenen aber heftigen Nebenwirkungen, ist dieses Medikament in vielen Ländern nicht mehr zur Therapie von Muskelkrämpfen zugelassen. Auch im nicht-medikamentösen Bereich sind die Optionen überschaubar. Da Elektrolytmängel vermutlich nur selten Ursache für Muskelkrämpfe sind, ist nicht verwunderlich, warum die meisten Patienten keinen Benefit durch die Supplementation von Elektrolyten erfahren.
Manche Daten weisen darauf hin, dass ein Stretching der Wadenmuskulatur vor dem Zubettgehen hilft, die spontan auftretenden Krämpfe in der Nacht zu reduzieren. Vergleichsweise neu ist der Ansatz, die Muskulatur durch Elektrostimulation vor Krämpfen zu schützen. Da es unter dieser Therapie zum Auslösen von Krämpfen kommt, was mit Schmerzen einhergeht, ist dieser Ansatz aber bislang nur solchen Patienten zu empfehlen, die stark unter ihren Muskelkrämpfen leiden.
Manche Daten weisen darauf hin, dass ein Stretching der Wadenmuskulatur vor dem Zubettgehen hilft, die spontan auftretenden Krämpfe in der Nacht zu reduzieren.
Prof. Behringer: Mir sind keine Studien bekannt, die das Aufwärmen und Abkühlen beim Sport zur Vermeidung von Wadenkrämpfen untersucht hätten. Da die belastungsinduzierten Muskelkrämpfe nach aktueller Vorstellung aber durch ermüdungsinduzierte Veränderungen des Feedbacks aus der Muskulatur entstehen (weniger Hemmung und mehr Aktivierung erreichen die Nervenzellen im Rückenmark), gehe ich nicht davon aus, dass das Aufwärmen einen starken Effekt auf die Entstehung von Muskelkrämpfen hat.
Prof. Behringer: Schwangere leiden in der Tat häufiger unter Muskelkrämpfen. Diese treten insbesondere nachts auf. Die Ursache dafür ist noch nicht komplett geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass dies mit schwangerschaftsbedingten Veränderungen des Flüssigkeitshaushaltes zusammenhängt. Auch Elektrolytveränderungen wurden in diesem Zusammenhang diskutiert. Laut einer umfassenden Übersichtsarbeit zur Behandlung von Muskelkrämpfen mit Magnesium scheinen zumindest Schwangere von einer Magnesiumsupplementation zu profitieren, was die Elektrolytveränderung während der Schwangerschaft als mögliche Ursache unterstreicht.
Bei einer Schwangerschaft muss aber auch an die Möglichkeit gedacht werden, dass die vergrößerte Gebärmutter oder der Kopf des Fötus auf Nervenbahnen des Beckens drücken und damit Krämpfe auslösen können. Nicht zuletzt sind Veränderungen der Schilddrüsen- oder Nierenfunktion während der Schwangerschaft auszuschließen, die ebenfalls mit Muskelkrämpfen einhergehen können.
Prof. Behringer: Durch die Möglichkeit Muskelkrämpfe im Labor auszulösen, sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr Details über Muskelkrämpfe verstanden worden. Obwohl die Zahl der Menschen, die unter diesen Beschwerden leiden, extrem hoch ist und die Dunkelziffer vermutlich noch deutlich höher liegt, muss jedoch bedauernswerter Weise festgestellt werden, dass weltweit nur wenig Forschungsgruppen an diesem Phänomen arbeiten. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass das Ausmaß der Beschwerden, die oft mit regelmäßigen Krämpfen einhergehen, allgemeinhin unterschätzt wird und damit wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Es gibt verschiedene Therapieansätze. Einer davon baut auf der Beobachtung auf, dass Gurkenwasser das Auftreten von Muskelkrämpfen positiv beeinflussen kann. Ursprünglich ging man davon aus, dass dies an dem hohen Elektrolytgehalt im Gurkenwasser liegt. Durch die schnelle Wirkung (teilweise innerhalb von 1 min.) auf einen bestehenden Muskelkrampf, wird heute jedoch eher vermutet, dass die Säure im Gurkenwasser bestimmte Rezeptoren im Mund-Rachenraum aktiviert, wodurch die Muskelkrämpfe gehemmt werden. Eine Firma aus den USA hat aufbauend auf diesen Erkenntnissen ein Getränk aus Jalapeños, Ingwer und Zimt entwickelt, welche diese Rezeptoren noch stärker aktivieren. Die Dauer des Effektes war in Untersuchungen unseres Labors jedoch auf wenige Minuten beschränkt.
In eigenen Forschungsuntersuchungen konnten wir zeigen, dass eine Art Krampftraining (elektrische Stimulation der Wadenmuskulatur, die zumindest zu Beginn des Trainings Krämpfe auslöst) die individuelle Krampfschwelle deutlich erhöht – und das über mehrere Wochen. Damit lässt sich die Krampfneigung reduzieren. Die Therapie ist aktuell jedoch noch schmerzhaft und damit nur für Patienten mit starkem Leidensdruck zu empfehlen. Wir forschen allerdings an einer Optimierung des Protokolls.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 15.08.2024.