Herr Prof. Dr. Gosch, Sie sind Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Alterstraumatologie.
Prof. Gosch: Unser Hauptziel ist die bestmögliche Versorgung älterer Patienten. Häufig treten bei älteren Menschen Frakturen auf. Die Unfallstatistik zeigt überwiegend und zunehmend, dass ältere Patienten davon betroffen sind. Obwohl die Ausbildung zum Unfallchirurgen hauptsächlich auf traumatologische Aspekte ausgerichtet ist, haben ältere Patienten oft auch internistische und neurologische Probleme. Daher ist es wichtig, ein Co-Management zu etablieren, bei dem verschiedene Fachrichtungen eng zusammenarbeiten, um diese Patienten optimal zu versorgen. Die Lösung liegt in der Zusammenführung von Geriatrie und Unfallchirurgie in einem Modell der Alterstraumatologie.
Prof. Gosch: Das Besondere an Verletzungen und Wunden im Alter ist, dass das Trauma oft eine direkte Folge von Grunderkrankungen ist. Ein Beispiel dafür ist die Osteoporose, bei der die Knochen schon bei geringfügigen Traumata wie einem Sturz vom Stuhl oder im Stehen leicht brechen. Auch innere Erkrankungen und die Einnahme von Medikamenten können Stürze auslösen. Es ist wichtig, die Ursache des Sturzes herauszufinden und präventiv zu handeln, um zukünftige Stürze und Knochenbrüche zu vermeiden. Dies erfordert die Behandlung der Osteoporose und eine adäquate Therapie der zugrunde liegenden internistischen und neurologischen Erkrankungen.
Das Besondere an Verletzungen und Wunden im Alter ist, dass das Trauma oft eine direkte Folge von Grunderkrankungen ist.
Prof. Gosch: Bestimmte Krankheitsbilder und Verletzungen treten im Alter besonders häufig auf, insbesondere Hüftfrakturen. Die Zusammenarbeit zwischen Geriatrie und Unfallchirurgie hat nachweislich zu einer deutlichen Senkung der Sterblichkeit und zu besseren Ergebnissen für die Patienten geführt. Wir behandeln aber auch viele andere Frakturen wie Oberarmfrakturen, Wirbelkörperfrakturen und komplexe Beckenfrakturen, für die es noch wenig Evidenz gibt, die aber zunehmend an Bedeutung gewinnen. Unsere Aufgabe ist es, ältere Patienten umfassend zu versorgen und sicherzustellen, dass sie die bestmögliche Behandlung und Pflege erhalten, sowohl für ihre akuten Verletzungen als auch für ihre zugrunde liegenden Gesundheitsprobleme.
Prof. Gosch: Ältere Patienten haben ein deutlich höheres Risiko für Komplikationen nach Verletzungen oder Operationen. Eine der häufigsten Komplikationen ist das Auftreten eines akuten Verwirrtheitszustandes, auch Delir genannt. Interessanterweise kann dies sowohl nach chirurgischen Eingriffen als auch nach konservativer Behandlung auftreten. Dieses Trauma, begleitet von Schmerzen und Stressfaktoren, kann dazu führen, dass der Patient nach der Narkose verwirrt aufwacht und möglicherweise längere Zeit benötigt, um zu seinen normalen Alltagsfunktionen zurückzukehren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass wir es häufig mit brüchigen und porösen Knochen zu tun haben, insbesondere bei Patienten mit Osteoporose. Dies bedeutet, dass der Unfallchirurg bei der Operation besondere Sorgfalt walten lassen und möglicherweise spezielle Implantate verwenden muss, um sicherzustellen, dass der Patient nach der Operation wieder voll belastbar ist. Wir wissen, dass viele Patienten bereits vor dem Sturzereignis in ihrer Mobilität und Leistungsfähigkeit eingeschränkt waren und es für sie schwierig sein kann, nach der Operation eine Teilentlastung einer Extremität durchzuführen.
Unser Ziel ist es, dass die Patienten ihre Extremitäten unmittelbar nach der Operation so schnell wie möglich wieder voll belasten können. Für Hüftfrakturen haben wir bereits sehr erfolgreiche Konzepte entwickelt, die es den Patienten ermöglichen, dieses Ziel zu erreichen. Wir arbeiten intensiv daran, ähnliche Lösungen auch für andere Frakturen zu finden, zum Beispiel für Oberarmfrakturen.
Prof. Gosch: Ein häufiges und wichtiges Problem im Zusammenhang mit akuten Erkrankungen ist das akute Delirium, ein Verwirrtheitszustand. Neben diesem Delirium treten häufig klassische internistische Komplikationen auf. Dazu gehören der Herzinfarkt und die Verschlechterung der Herzinsuffizienz, bei denen der Patient dringend ärztliche Hilfe benötigt. Auch Lungenembolien treten mit zunehmendem Alter häufiger auf. Auch neurologische Komplikationen wie Schlaganfälle können auftreten. Diese Ereignisse werden häufig durch Stresssituationen und die Aktivierung des Gerinnungssystems begünstigt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele dieser Patienten mehrere Medikamente einnehmen, von denen einige die Blutgerinnung beeinflussen. Dies erhöht das Risiko von Blutungen, was wiederum Auswirkungen auf Operationen und Blutverluste haben kann. Alle diese Faktoren müssen daher sorgfältig berücksichtigt werden.
Prof. Gosch: Ein entscheidender Faktor für die Genesung unserer Patienten ist die frühzeitige Mobilisierung. Unser oberstes Ziel ist es, dass unsere Patienten so früh wie möglich aufstehen und sich bewegen. Studien zeigen, dass Patienten bei einer Bettruhe von nur fünf Tagen etwa ein Kilogramm reine Muskelmasse verlieren können. Für junge Menschen mag das kein großes Problem sein, da sie diese Muskelmasse in der Regel schnell wieder aufbauen können. Bei älteren Menschen kann dieser Muskelverlust jedoch zu erheblichen Mobilitätsproblemen führen, da es im Alter oft schwieriger ist, diese Muskelmasse wieder aufzubauen. Deshalb setzen wir gezielt auf das Konzept der Frühmobilisierung, bei dem die volle Belastung des Körpers eine entscheidende Rolle spielt. Darüber hinaus achten wir darauf, dass die Ernährung unserer Patientinnen und Patienten ausreichend Eiweiß enthält, um Muskelmasse aufzubauen oder zumindest zu erhalten. Dies hat sich in vielen Fällen bereits bewährt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Genesungsprozess bei unseren Patienten oft länger dauert und nicht nur während des Krankenhausaufenthaltes abgeschlossen ist. Die ersten Schritte sind entscheidend, aber für jeden Patienten muss ein individuelles Konzept entwickelt werden. Dieses Konzept kann von der Frührehabilitation bis zur geriatrischen Rehabilitation reichen, um sicherzustellen, dass der Patient nach 8 bis 12 Wochen wieder so mobil ist wie vorher.
Prof. Gosch: In Deutschland gibt es immer noch viele Patienten, die keine adäquate, insbesondere keine spezifische Osteoporosetherapie erhalten. In der Tat haben wir hierzulande ein erhebliches Problem, das man als “Osteoporose-Versorgungsdefizit” bezeichnen kann. Das heißt, viele Patienten erhalten nicht die Medikamente, die sie dringend benötigen. Das Problem der Osteoporose ähnelt in gewisser Weise dem Problem des Bluthochdrucks, vielleicht ist es sogar noch dramatischer. Denn Osteoporose verläuft oft ohne spürbare Symptome, bis es zu einem Knochenbruch kommt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Krankheit oft schon weit fortgeschritten. Deshalb müssen wir sowohl die Primärprävention verstärken, wo wir bisher viel zu wenig tun, als auch in die Sekundärprävention investieren. Das heißt, wir müssen dringend dafür sorgen, dass Patienten, die mit Knochenbrüchen in die Notfallambulanz kommen und älter sind, auf Osteoporose untersucht werden und gegebenenfalls eine entsprechende Osteoporosetherapie erhalten. Dies ist in fast 90% der Fälle notwendig. Leider wissen wir aber auch, dass der sogenannte “Fracture Liaison Service” in der Regel noch nicht optimal funktioniert. Hier sind viele Akteure im Gesundheitswesen involviert und oft geht der Patient in diesem komplexen Prozess verloren. Hier setzt der Fracture Liaison Service an und vermittelt zwischen der Akutsituation im Krankenhaus, der stationären Behandlung und dem Patienten selbst. Ziel ist es, dass der Patient die notwendige Osteoporose-Therapie erhält. Auf diese Weise kann ein Großteil der langfristigen gesundheitlichen Folgen vermieden werden.
In Deutschland gibt es immer noch viele Patienten, die keine adäquate, insbesondere keine spezifische Osteoporosetherapie erhalten.
Prof. Gosch: Das Fachgebiet der Geriatrie erfordert viel Erfahrung und die Fähigkeit, problematische Substanzen zu erkennen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Wechselwirkung von Medikamenten. Einige Substanzen können erhebliche Probleme verursachen, weil sie stark mit anderen Medikamenten interagieren, während andere relativ harmlos sind. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Vorstellung, dass eine Person nicht mehr als fünf Medikamente gleichzeitig einnehmen sollte, oft falsch ist. Tatsächlich gibt es Fälle, in denen Patienten 10, 12 oder noch mehr Medikamente benötigen, um angemessen behandelt zu werden. Und das aus gutem Grund, denn wir wissen, dass diese Medikamente unseren Patienten helfen können. Der Umgang mit Multimedikation erfordert daher nicht nur das Fachwissen der Unfallchirurgen, sondern auch das der Geriater. Die Kombination von Unfallchirurgie und Geriatrie hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, da sich die beiden Fachgebiete hervorragend ergänzen. Während der Unfallchirurg im Operationssaal Spitzenleistungen erbringt, kümmert sich der Geriater auf der Station um die medizinische Betreuung der Patienten. Dies gewährleistet eine umfassende Betreuung und optimale medikamentöse Behandlung unserer älteren Patienten.
Prof. Gosch: Es ist nie zu früh, mit einem gesunden Lebensstil zu beginnen! Viele Menschen, die heute älter sind, wissen, dass die Stärke unserer Knochen bereits in jungen Jahren festgelegt wird. Das bedeutet, dass körperliche Aktivität sehr wichtig ist. Langes Sitzen wird oft als das moderne Rauchen bezeichnet, denn es trägt in keiner Weise zur Vorbeugung von Osteoporose bei. Unser Lebensweg sollte ständig von Bewegung begleitet sein. Es ist bekannt, dass sich eine gut entwickelte Muskelmasse positiv auf die Knochengesundheit auswirkt und umgekehrt. Kraft- und Ausdauertraining sollten daher fester Bestandteil unseres Alltags sein oder zumindest integriert werden. Dies muss nicht unbedingt im Fitnessstudio geschehen, viele Übungen können auch zu Hause durchgeführt werden.
Mit zunehmendem Alter, etwa ab 60 Jahren bei Frauen und ab 70 Jahren bei Männern (abhängig von individuellen Risikofaktoren), ist es ratsam, mit dem Hausarzt zu besprechen, wann und unter welchen Umständen eine Knochendichtemessung sinnvoll ist. So kann rechtzeitig mit einer Osteoporose-Therapie begonnen werden, bevor das Frakturrisiko steigt.
Es ist nie zu früh, mit einem gesunden Lebensstil zu beginnen!
Prof. Gosch: Wie bereits erwähnt, sind wir in der Lage, belastungstolerante Situationen zu meistern. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir bei Augmentationen Knochenzement verwenden, um osteoporotische Knochen zu festigen und um Implantate und Schrauben besser zu verankern. Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Sarkopenie, der altersbedingte Muskelabbau. Wir wissen, dass die Muskelmasse ab dem 25. bis 30. Lebensjahr kontinuierlich abnimmt und im Alter oft eine kritische Schwelle erreicht, die die Alltagsfunktionen beeinträchtigt. Wir führen Projekte durch und untersuchen wissenschaftlich, wie man Sarkopenie zuverlässig diagnostizieren kann - was nicht immer einfach ist. Außerdem arbeiten wir daran, den Verlauf positiv zu beeinflussen. Derzeit konzentrieren wir uns vor allem auf Maßnahmen wie frühzeitiges Muskeltraining, Mobilisierung und ausgewogene Ernährung, um den Muskelabbau zu minimieren. In Zukunft könnten aber noch weitergehende Ansätze zur Verfügung stehen. So wird bereits an Antikörpern geforscht, die zum Beispiel Myostatin blockieren, ein Hormon, das die Hypertrophie der Muskeln verhindert, aber für unsere Funktion wichtig ist.
Zusammengefasst sind die beiden Hauptforschungsbereiche in der Alterstraumatologie die Implantatforschung und die Sarkopenieforschung. Natürlich arbeiten wir auch weiter an der Verbesserung der Behandlung der Osteoporose, um wirksamere Medikamente und Langzeittherapien zu entwickeln, die die Patienten über Jahrzehnte begleiten können.
Prof. Gosch: Die Alterstraumatologie könnte als Vorbild für die Geriatrie dienen und die Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Fachgebieten fördern. In einer Zeit, in der medizinische Fachgebiete immer komplexer werden und komplexe Eingriffe und Verfahren von häufiger Wiederholung profitieren, ist es gleichzeitig wichtig, sich den Tatsachen zu stellen: Viele Patienten haben nicht nur ein Problem, sondern kämpfen mit mehreren Gesundheitsproblemen gleichzeitig. Deshalb brauchen wir jemanden, der diese komplexen Fälle koordiniert und gezielt an Spezialisten überweist. In diesem Zusammenhang spielt die Geriatrie eine entscheidende Rolle für die Zukunft des Gesundheitswesens. Wir brauchen sowohl Fachärzte, die als Fallmanager für ältere Patienten fungieren, als auch Fachärzte, die vom Geriater hinzugezogen werden. Gemeinsam können sie diskutieren, welche technischen Möglichkeiten es gibt, was sinnvoll ist und wie wir die Probleme der Patienten effektiv behandeln können. Dies ist besonders wichtig bei älteren Patienten mit multiplen Gesundheitsproblemen, da es oft nicht einfach ist, Lösungen zu finden.
Vielen Dank für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 15.11.2023.