Prof. Müller-Vahl: Das Tourette-Syndrom ist eine Tic-Störung. Genauer gesagt handelt es sich um eine chronische motorische und vokale Tic-Störung. Im klinischen Alltag bedeutet dies, dass die Tics länger als ein Jahr bestehen müssen. Im Verlauf müssen sowohl motorische als auch vokale Tics aufgetreten sein, d.h. sowohl unwillkürliche Zuckungen als auch unwillkürliche Lautäußerungen.
Prof. Müller-Vahl: Die individuellen Ausprägungen des Tourette-Syndroms sind sehr unterschiedlich. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass zwei Menschen genau das gleiche Tourette-Syndrom haben. Einige Tics sind häufiger als andere, aber die Art und Weise, wie sie auftreten, ist von Person zu Person sehr individuell. Dies betrifft sowohl die Lokalisation der Bewegungen am Körper als auch ihre Häufigkeit, Intensität und Komplexität. Ein weiteres charakteristisches Merkmal des Tourette-Syndroms ist die Veränderung der Tics im Verlauf der Erkrankung. Menschen mit Tourette-Syndrom haben nie ihr ganzes Leben lang die gleichen Symptome. Daher gibt es eine große Vielfalt an unterschiedlichen Ausprägungen der Erkrankung. Zu beachten ist auch, dass viele Betroffene neben den Tics auch psychische Begleiterkrankungen haben, die das Gesamtbild noch komplexer machen.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass zwei Menschen genau das gleiche Tourette-Syndrom haben.
Prof. Müller-Vahl: Nicht jedes Zucken oder jeder Laut ist ein Tic. Es gibt viele andere Ursachen für solche Symptome. Motorische Tics im Rahmen eines Tourette-Syndroms äußern sich in erster Linie in umschriebenen Zuckungen im Bereich von Augen, Gesicht und Kopf wie etwa Blinzeln, Augenrollen oder Grimassieren. Vokale Tics treten am häufigsten auf in Form von Geräuschen wie Räuspern, Schniefen oder Hüsteln. Theoretisch können Tics aber auch komplexere Bewegungen beinhalten und selten auch als laute Schreie oder Schimpfwörter auftreten. Es wird oft angenommen, dass das Tourette-Syndrom vor allem durch unkontrolliertes Ausrufen von Beschimpfungen gekennzeichnet ist. Die Mehrheit der Menschen mit Tourette-Syndrom leidet aber nicht an diesem Symptom, welches als Koprolalie bezeichnet wird.
Prof. Müller-Vahl: Das Tourette-Syndrom ist eine hirnorganisch-bedingte Erkrankung. Dies heißt, dass die Ursache im Gehirn liegt. Es wird angenommen, dass ein Ungleichgewicht in bestimmten Hirnbotenstoffen besteht, insbesondere eine Überaktivität im dopaminergen System. Dadurch kommt es vermutlich zu einer unzureichenden Hemmung bestimmter Hirnareale, sodass dann unwillkürliche Bewegungen und Lautäußerungen auftreten.
Prof. Müller-Vahl: Das Tourette-Syndrom ist eine genetisch bedingte Krankheit. Das wissen wir heute sehr sicher, aber wir haben die entsprechenden Genveränderungen noch nicht entdeckt. Wir können es also im Einzelfall noch nicht beweisen. Dies ist aber der Grund, warum Tic-Störungen gehäuft in einzelnen Familien auftreten. Wahrscheinlich müssen zu dieser genetischen Veranlagung noch weitere Risikofaktoren im frühen Leben hinzukommen, damit aus der Veranlagung tatsächlich eine Krankheit wird. Hier gibt es viele Spekulationen, z.B. Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt. Es ist aber bis heute nicht möglich, einen einzelnen Risikofaktor konkret zu benennen, der dann das Tourette-Syndrom auslöst.
Das Tourette-Syndrom ist eine genetisch bedingte Krankheit.
Prof. Müller-Vahl: Das Tourette-Syndrom gehört zu den sogenannten Entwicklungsstörungen. Wie der Name schon sagt, muss die Erkrankung während der Entwicklung auftreten. Typischerweise treten Tics erstmals im Alter zwischen 5 und 7 Jahren auf. Es handelt sich also um eine Erkrankung, die praktisch immer im Kindergarten- oder Grundschulalter auftritt. Es gibt eine offizielle Definition, die besagt, dass Tics vor dem 18. Lebensjahr aufgetreten sein müssen, was eine sehr hohe Altersgrenze ist. Derzeit wird unter Fachleuten diskutiert, ob diese Altersgrenze nicht herabgesetzt werden sollte. Im Gespräch sind Altersgrenzen von 10 bis 12 Jahren. Erwachsene können kein Tourette-Syndrom entwickeln.
Prof. Müller-Vahl: Tic-Störung ist ein Oberbegriff, worunter auch das Tourette-Syndrom zählt. Bei vielen Erkrankungen haben wir solche Oberbegriffe, unter die dann spezifische Erkrankungen fallen. Es gibt verschiedene Formen von Tic-Störungen, das Tourette-Syndrom ist eine davon. Diese verschiedenen Formen von Tic-Störungen werden danach unterschieden, ob nur motorische, nur vokale oder beide Arten von Tics vorhanden sind. Außerdem wird berücksichtigt, ob die Erkrankung bzw. die Tics seit mehr oder weniger als einem Jahr bestehen. Es mehren sich jedoch Hinweise darauf, dass diese traditionelle und etablierte Einteilung unbegründet ist. Man geht heute davon aus, dass es sich bei den verschiedenen Unterformen der Tic-Störungen wahrscheinlich nur um unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Erkrankung handelt.
Prof. Müller-Vahl: Zunächst muss geklärt werden, welches Symptom behandelt werden soll. Wir haben bereits festgestellt, dass alle Menschen mit Tourette-Syndrom Tics haben. Viele Menschen mit Tourette-Syndrom haben aber auch psychische Erkrankungen, die von ADHS über Zwänge, Depressionen, Angststörungen bis hin zu aggressivem Verhalten und Schlafstörungen reichen. Bei der Behandlung ist es wichtig, zunächst herauszufinden, welche Symptome tatsächlich vorliegen.
Dann muss geklärt werden, welche Symptome einen Krankheitswert haben. Nicht jedes Symptom muss behandelt werden. Für jedes einzelne Symptom muss dann die geeignete Therapie ausgewählt werden. Nehmen wir zum Beispiel die Tics. Zunächst sollte der Patient über die Art, Ursache und den Verlauf der Tics aufgeklärt werden und wissen, welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Wenn eine Behandlung gewünscht wird und notwendig ist, wird in der Regel zunächst eine spezielle Verhaltenstherapie empfohlen. Ist diese nicht ausreichend wirksam, stehen verschiedene medikamentöse Behandlungen zur Verfügung.
Prof. Müller-Vahl: Menschen mit Tourette-Syndrom berichten häufig, dass sich ihre Tics unter Stress, Aufregung oder Anspannung verstärken. Wir wissen nicht genau, warum das so ist, aber es ist wahrscheinlich auf Veränderungen im Gehirn und die Aktivität der Neurotransmitter zurückzuführen. Stress wirkt sich wahrscheinlich auf das Dopaminsystem aus, das bei der Entstehung von Tics eine wichtige Rolle spielt.
Prof. Müller-Vahl: Das Wichtigste ist zunächst die richtige Diagnose. Leider kommt es auch heute noch vor, dass bei Menschen mit Tourette-Syndrom nicht die richtige Diagnose gestellt wird. Wir kennen aber auch das Gegenteil: Die Diagnose Tourette-Syndrom wird gestellt, obwohl die Betroffenen eine ganz andere Erkrankung haben. Aus Studien zur Lebensqualität von Menschen mit Tourette-Syndrom wissen wir, dass oft nicht die Tics das Leben am meisten beeinträchtigen, sondern die psychischen Begleiterkrankungen, insbesondere Depressionen, Zwänge und ADHS. Deshalb ist es so wichtig, diese Erkrankungen richtig zu diagnostizieren und gegebenenfalls zu behandeln. Dabei ist es immer wichtig, gemeinsam mit den Patienten vorzugehen. Letztlich stellt sich die Frage: Was belastet den Betroffenen am meisten und wie kann am besten geholfen werden?
Es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten: neben der Psychotherapie auch die medikamentöse Behandlung. Darüber hinaus gibt es weitere Unterstützungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises oder die Beantragung von Nachteilsausgleichen in Schule oder Studium. Für viele Betroffene ist auch der Kontakt zu Selbsthilfegruppen wichtig.
Aus Studien zur Lebensqualität von Menschen mit Tourette-Syndrom wissen wir, dass oft nicht die Tics das Leben am meisten beeinträchtigen, sondern die psychischen Begleiterkrankungen...
Prof. Müller-Vahl: Es ist schwierig, dies aus der Ferne zu beurteilen. Ich kenne diesen Sänger und habe auch Videos von ihm gesehen, aber ich habe ihn nie persönlich untersucht. Die Videos, die ich gesehen habe, zeigen ihn bei Konzerten, die er angeblich wegen seiner Tics abbrechen musste. Die Symptome, die ich in diesen Videos gesehen habe, würde ich aber nicht als Tics einstufen. Basierend auf den dort zu sehenden Symptomen ist nach meiner Überzeugung die Diagnose Tourette-Syndrom nicht zutreffend, sondern eine andere Ursache anzunehmen. Da ich Lewis Capaldi aber nicht selbst untersucht habe und mir keine weiteren Fakten bekannt sind, kann ich nicht abschließend beurteilen, ob eventuell zusätzlich ein Tourette-Syndrom besteht.
Wir kennen Musiker, die am Tourette-Syndrom leiden, und zum Teil berichten, dass sie beim Musizieren, Singen oder bei Auftritten kaum oder gar keine Tics haben. Dieses Phänomen wird oft mit Konzentration in Verbindung gebracht, denn die meisten Menschen mit Tourette-Syndrom berichten, dass ihre Tics nachlassen, wenn sie sich stark konzentrieren. Es ist also durchaus möglich, dass dies auch bei Konzerten der Fall ist.
Prof. Müller-Vahl: Nein, das Tourette-Syndrom kann nicht geheilt werden. Das liegt auch daran, dass wir die genaue Ursache bis heute nicht kennen. Alle Behandlungen, die wir anbieten können, sind symptomatisch. Das heißt, wir können die Tics lindern, aber wir haben keine Therapie, die die Tics ganz beseitigt.
Prof. Müller-Vahl: Die Behandlung von Tics hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Eine entscheidende Entwicklung war die Entdeckung, dass eine spezielle Form der Verhaltenstherapie, das sogenannte Habit Reversal Training, wirksam ist. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass die Tics im Durchschnitt nur um etwa 30% reduziert werden. Dies kann für einige Patienten hilfreich sein, aber nicht für alle.
Gegenwärtig forschen mehrere Pharmaunternehmen an neuen Medikamenten. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, denn bis heute gibt es in Deutschland nur ein einziges zugelassenes Medikament zur Behandlung des Tourette-Syndroms, nämlich das Präparat Haloperidol. Dieses wird jedoch wegen seiner starken Nebenwirkungen kaum noch eingesetzt. Erfreulich ist das Interesse der Industrie, neue Medikamente für diese Erkrankung zu entwickeln. In den letzten Jahren wurde auch in internationalen Konsortien intensiv zu den genetischen Ursachen des Tourette-Syndroms geforscht. Wir hoffen, die genetischen Ursachen bald entschlüsseln zu können, auch wenn wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben.
Eine entscheidende Entwicklung war die Entdeckung, dass eine spezielle Form der Verhaltenstherapie, das sogenannte Habit Reversal Training, wirksam ist.
Prof. Müller-Vahl: Wir hoffen, dass es in Zukunft noch bessere Behandlungsmöglichkeiten geben wird. Dies betrifft vor allem die Entwicklung neuer Medikamente. Wir forschen intensiv im Bereich der Cannabis-basierten Medikamente. Es gibt aber auch alternative Behandlungsansätze. Zum Beispiel hat eine Firma in England ein Stimulationssystem entwickelt, das Tics durch die Stimulation eines Nervs im Arm reduzieren soll.
Neben der genetischen Forschung ist die Abgrenzung zu anderen Krankheiten ein besonders wichtiger Aspekt. Insbesondere seit Beginn der Pandemie ist weltweit eine Zunahme von Patienten mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen zu verzeichnen. Häufig wird fälschlicherweise ein Tourette-Syndrom diagnostiziert und entsprechend behandelt, obwohl die Ursache rein psychischer Natur ist. Man spricht hier von funktionellen oder sogenannten dissoziativen Störungen. Es ist wichtig, dass in Zukunft eine bessere Aufklärung stattfindet, damit bei diesen Menschen die richtige Diagnose einer dissoziativen Störung gestellt wird. Nur so kann eine adäquate Behandlung eingeleitet werden und nicht fälschlicherweise eine Behandlung wie sie für Tics wirksam ist.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 22.04.2024.