Ein helles Pfeifen oder Rauschen ist der ständige Begleiter. Viele Menschen kennen diese Ohrgeräusche. In den meisten Fällen verschwinden sie innerhalb kurzer Zeit selbstständig. Die Patienten berichten über Geräusche, welche offensichtlich keiner äußeren Schallquelle zuzuordnen sind. Selten führt die Suche zu einem eindeutigen Ursprung der Ohrgeräusche: Bei diesem objektiven Tinnitus findet sich als Ursache eine Schallquelle innerhalb des Körpers, die meist in der Umgebung des Innenohrs lokalisiert ist. Dagegen können einem subjektiven Tinnitus keine Schallquellen zugeordnet werden. Der Leidensdruck eines Tinnitus wird von den Betroffenen unterschiedlich stark wahrgenommen. Während manche Menschen mit den Tönen im Ohr gut umzugehen wissen, fühlen sich andere davon im Alltag stark eingeschränkt.
In einigen Fällen lassen sich die Symptome durch Medikamente und Infusionen lindern. Vielfach fehlt jedoch eine effiziente Behandlungsstrategie, zumal die Suche nach einer Ursache des Geräusches selten zum Erfolg führt. Da manche Patienten neben einem bestehenden Tinnitus auch über Verspannungen klagen, könnte ein Zusammenhang mit Beschwerden der Halswirbelsäule vorliegen.
Die Halswirbelsäule (HWS) ist der flexibelste Teil unserer Wirbelsäule. Sie verleiht dem Kopf eine enorme Beweglichkeit. Gleichzeitig bietet sie sowohl Nerven als auch Blutgefäßen auf dem Weg in den Kopf einen optimalen Schutz. Ein komplexes Zusammenspiel von Muskeln und Bändern stützt jeden einzelnen Wirbel und ermöglicht eine Vielzahl von Bewegungen. Zudem wird ein Großteil der Belastungen, welche auf die Halswirbelsäule und den Kopf einwirken, durch die Nackenmuskulatur aufgenommen.
Verspannungen im Bereich der Halswirbelsäule können durch äußere Einflüsse wie ein Schleudertrauma auftreten. Ebenso infrage kommen im fortgeschrittenem Alter Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule. Zahlenmäßig am häufigsten sind indes chronische Beschwerden aufgrund von Fehlhaltungen und Haltungsschäden. In der Folge wird die Funktion der Wirbelsäule auf unterschiedliche Weise beeinträchtigt.
Im Zusammenhang mit Tinnitus und Nacken verbirgt sich hinter dem Begriff neuronale Funktionsstörung eine Schädigung des Nervengeflechts im Bereich des ersten bis vierten Halswirbels (Plexus cervicalis). Dieses dient unter anderem der Versorgung der Ohren und des Hörnervs im Gehirn. Wird die Wirbelsäule mechanisch durch eine falsche Körperhaltung, schweres Heben oder Drehbewegungen überlastet, veranlasst dies die Nerven, ständig Signale an das Gehirn zu senden. Bei einer solchen Überreizung reagiert das Gehirn mit einer übermäßigen Aktivität. In räumlicher Nähe zu den betreffenden Gehirnregionen befinden sich Nervenansammlungen, welche für das Hören zuständig sind (Nucleus cochlearis). Die Überaktivität überträgt sich auf diese und kann einen Tinnitus auslösen.
An den Bewegungen der Halswirbelsäule und des Kopfes sind eine Vielzahl an Muskeln beteiligt. Schmerzen aufgrund einer Über- oder Fehlbelastung der Halswirbelsäule führen zu einer spontanen Anspannung der Nackenmuskulatur. Die angespannten Muskelfasern drücken auf die kleinen Gefäße innerhalb der Muskeln. Dadurch wird die Durchblutung eingeschränkt, was eine Muskelverhärtung zur Folge hat. Die derart angespannten Muskeln üben ihrerseits einen Druck auf die vorgeschädigten Nervenbahnen aus und führen zu einer weiteren Anspannung der Muskulatur.
Unser Körper reagiert auf Schmerzen, indem er versucht, die für ihn am wenigsten schmerzhafte Position einzunehmen. Hält der Schmerz über einen längeren Zeitraum an, führt diese Schonhaltung selbst zu Verspannungen mit entsprechenden Folgen.
Welche Muskeln an der Entstehung eines Tinnitus beteiligt sind, ist individuell verschieden. Infrage kommen alle Muskelgruppen, welche in Verbindung beziehungsweise in unmittelbarer Nähe zu den Ohren stehen. Vor allem die großen sowie kleinen Muskeln im Hals und Nacken sollten bei der Diagnostik eines Tinnitus beachtet werden. Der große Trapezmuskel, der oberflächlich im Bereich von Nacken, Schulter und Wirbelsäule verläuft, wird häufig als Grund muskulärer Verspannungen angesehen. Doch rücken gerade tiefer gelegene Muskeln als mögliche Ursache für einen Tinnitus vermehrt in den Vordergrund. Insbesondere der Musculus splenius capitis und der Musculus semispinalis capitis scheinen aufgrund ihrer Lage eine Rolle bei der Entstehung von Ohrgeräuschen zu spielen.
In diesem Zusammenhang soll auf den sogenannten Handy-Nacken hingewiesen werden. Aufgrund der starken und häufigen Neigung des Kopfes nach unten geraten die Wirbelkörper eng aneinander. Auf die Bänder und die Muskulatur wirken in diesem Moment um bis auf das Fünffache höhere Kräfte ein, als dies in aufrechter Position der Fall ist.
Durch seine unmittelbare Nähe zum Ohr muss ebenso dem Kiefergelenk mit seinen Muskeln eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der Kauapparat ist zudem eng mit den Muskeln der Halswirbelsäule verbunden. Fehlstellungen im Gebiss oder nicht korrekt sitzende Zahnprothesen führen unbehandelt zu einem Fehlbiss. Der andauernde Druck auf Blutgefäße und Nerven könnte damit als Ursache für Ohrgeräusche angesehen werden. Auch kieferorthopädische Korrekturmaßnahmen oder ein Bruch des Kiefers sind als möglicher Auslöser für Verspannungen der Kiefermuskulatur und einem daraus resultierenden Tinnitus in Betracht zu ziehen.
Neben diesen größeren Muskelgruppen können die äußeren Ohrmuskeln oder der Zungenbeinmuskel mit Ohrgeräuschen in Verbindung stehen.
Beim sogenannten pulssynchronen Tinnitus werden die Geräusche im Ohr im Gleichklang mit dem eigenen Herzschlag wahrgenommen. Muskuläre Verspannungen können auch in diesem Fall ursächlich sein. Hier drücken die verhärteten Muskelfasern indes nicht auf einen Nerv. Vielmehr werden große Blutgefäße wie die Halsschlagader eingeengt. Eine Rolle könnte der sogenannte Musculus sternocleidomastoideus spielen. Dieser setzt unterhalb des Ohres an und endet am Schlüsselbein. In seinem Verlauf steht der Muskel in engem Kontakt zur Halsschlagader.
Auf der anderen Seite können Blockaden oder Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule eine Minderdurchblutung des Hör- und Gleichgewichtsnervs bewirken. Verantwortlich können hier Veränderungen einer Arterie gemacht werden, welche entlang der Wirbel im Halsbereich verläuft. Die Wirbelarterie (Arteria vertebralis) ist unter anderem zuständig für die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff und Nährstoffen.
Bei der Diagnose von Ohrgeräuschen sind Mediziner auf einen Zusammenhang zwischen der Art der Beschwerden der Halswirbelsäule und dem wahrgenommenem Tinnitus-Geräusch gestoßen. So berichten Patienten nach einer plötzlich aufgetretenen Problematik der Halswirbelsäule über ein tiefes bis dumpfes Geräusch. Betroffene mit einer bereits langanhaltenden Störung im Bereich der Halswirbelsäule nehmen den Tinnitus dagegen häufiger als ein hochfrequentes Rauschen wahr.
Bei Patienten mit einem Tinnitus sollte eine ausführliche Anamnese (untersuchende Befragung durch den Arzt) unter zusätzlicher Berücksichtigung orthopädischer Gesichtspunkte erfolgen. Muskelverspannungen sind aufgrund der vielfach sitzenden Tätigkeiten das Problem einer breiten Bevölkerung geworden.
Die Behandlung eines Tinnitus umfasst eine Reihe unterschiedlicher Methoden. Geht der Tinnitus von der Halswirbelsäule aus, dann bieten sich Verfahren an, die die Schmerzen lindern, die Haltung verbessern und Verspannungen und Blockaden lösen. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Physiotherapie. Weiterhin kommen Wärmebehandlung oder Kälteanwendung sowie Schmerzmittel infrage. Eine manuelle Therapie kann ebenfalls zu einer raschen Linderung der Beschwerden führen. Ansätze wie die Behandlung von Triggerpunkten oder die Osteopathie sind weitere Möglichkeiten, bei einigen Patienten Bewegungsblockaden und Verspannungen der Nackenmuskulatur erfolgreich zu behandeln.
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aktualisiert am 16.07.2020