„Einen kleinen Mann im Ohr haben“ ist eine Redensart, welche gleichermaßen für „verrückt sein“ steht und die Geräusche im Ohr bei einem Tinnitus gut charakterisiert. Wenngleich ein Tinnitus nicht verrückt macht, so kann der „kleine Mann“ mit seinem Rauschen und Pfeifen im Ohr doch für eine außerordentliche körperliche wie seelische Belastung sorgen. Auf der anderen Seite nimmt gerade Stress bei der Entstehung sowie Aufrechterhaltung eines Tinnitus eine wichtige Rolle ein. Das kann so weit gehen, dass sich ein Teufelskreis daraus entwickelt. Die Entstehung eines Tinnitus ist jedoch vielschichtig. Die Geräuschwahrnehmung lässt sich nicht generell und eindeutig auf Stress zurückführen, sondern auf unterschiedliche Faktoren.
Die Ohrmuschel fängt die Schallwellen von außen auf und leitet sie an den Gehörgang und das Trommelfell weiter. Dort werden die Gehörknöchelchen in Schwingung versetzt, wodurch der Schall über die Gehörschnecke im Innenohr (Cochlea) auf die Haarzellen übertragen wird. Die Schallwellen werden mittels elektrischer Impulse über die Nerven an das Gehirn weitergeleitet. Hier entsteht das bewusste Wahrnehmen der unterschiedlichen Geräusche.
Bei einem Tinnitus verhält es sich anders. Bei diesem Leiden ist eine äußere Schallquelle als Auslöser für die Geräusche nicht vorhanden.
Heutigen Erkenntnissen zufolge können an der Entstehung des Tinnitus alle Abschnitte des Hörorgans beteiligt sein. Als eine der häufigsten Ursachen eines Tinnitus wird neben einem Knalltrauma oder einer andauernden Lärmbelastung der Hörsturz angeführt. Schäden am Mittelohr sowie Funktionsstörungen der Halswirbelsäule oder des Kiefergelenks werden ebenso als Auslöser von Ohrgeräuschen benannt. Bei mehr als der Hälfte aller Betroffenen wird indes mehr als eine Ursache angenommen. Psychischen Belastungssituationen, wie sie bei Stress auftreten, wird in vielen Fällen eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Depression und Angst oder weitere seelische Störungen können ebenfalls an der Entwicklung des Tinnitus beteiligt sein. Oft besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Schweregrad des empfundenen Tinnitus und der seelischen Belastung.
Für das Zustandekommen eines Tinnitus durch Stress stehen unterschiedliche Erklärungsmodelle zur Verfügung.
Eine Schädigung der Haarzellen in der Gehörschnecke gilt bei einem Tinnitus bewiesenermaßen als mögliche Ursache. Neben einer rein mechanischen Verletzung konnte die schädliche Wirkung von Glutamat auf die Haarzellen nachgewiesen werden. Glutamat ist als wesentlicher Überträger (Neurotransmitter) bei der Übermittlung von Hörsignalen an das Gehirn bekannt. Bei Tinnitus-Patienten konnte indes eine übermäßige Konzentration dieser Substanz beobachtet werden. Dabei besteht ein Zusammenhang mit Cortisol, das bei der Entstehung von Stress eine herausragende Bedeutung besitzt. Stress mitsamt Ausschüttung von Cortisol ist in erster Linie eine Reaktion des Körpers, um besondere Gefahrensituationen bewältigen zu können. Gleichzeitig mit dem Cortisol kommt es zu einer massiven Ausschüttung von Glutamat. Calcium sammelt sich ebenfalls an. Stress kann auf diesem Weg für eine Schädigung der Sinneszellen und ebenso der Nervenzellen im Hörsystem und damit einem Tinnitus verantwortlich gemacht werden.
Die Schädigung der Haarzellen im Ohr führt zu einer spontanen Überaktivität im Hörnerv, was im auditorischen Cortex (Hörzentrum) zu einer Wahrnehmung von Geräuschen führt. Die Geräusche entstammen hierbei indes nicht einer äußeren Schallquelle, sondern sind ausschließlich der überschießenden Aktivität der Nervenzellen des Ohres zuzuordnen.
In den 1950er Jahren war erstmals im Zusammenhang mit einem Tinnitus von Phantomschmerzen die Rede. Diese Erklärung basiert ebenfalls auf einer Schädigung der Haarzellen im Innenohr. Es wird angenommen, dass benachbarte Sinneszellen dabei die Aufgabe der defekten Zellen übernehmen. Dies führt zu einer Wahrnehmung von Geräuschen – ein Mechanismus, welcher einem Phantomschmerz ähnelt. Ebenso wie beim Phantomschmerz kann ein so entstandener Tinnitus durch Stress negativ beeinflusst werden.
Ein Tinnitus kann seine Ursache ebenso in einer gestörten Reizwahrnehmung haben. Die Erkennung, Verarbeitung sowie die Bewertung von Hörreizen im Gehirn besitzt einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung eines Tinnitus. Andauernde und neuartige Geräusche werden, einem Alarm gleichkommend, rasch erkannt und sind imstande, Angst und Stress hervorzurufen. Eine besondere Bedeutung kommt an dieser Stelle der Amygdala zu. Sie gehört zu einem Areal im Gehirn, in welchem die Gefühle verarbeitet werden. Fatalerweise werden die Ohrgeräusche in der Amygdala mit den negativen Gefühlen, wie sie bei Stress und Angst entstehen, verknüpft. Dies kann zu einer verstärkten Wahrnehmung eines Tinnitus führen.
Verschiedene Studien konnten bei Patienten mit einem Tinnitus ähnliche chemische Veränderungen nachweisen, wie sie bei langanhaltendem Stress beobachtet werden.
Oberstes Ziel aller Organismen ist es, ein Gleichgewicht (Homöostase) einzuhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Stressauslösende Faktoren sowie andere psychische Stimuli (wie Reizüberflutung) können diese Balance ins Schwanken bringen. Als Reaktion darauf kommt es unter anderem zu einer Änderung unseres unbewussten Verhaltens, was sich in einem erhöhten Maß an Aufmerksamkeit ausdrückt. Hält diese Aktivierung über einen längeren Zeitraum an, kann dies zu einer negativen Beeinflussung der Bewältigung eines Tinnitus führen.
Ob der Tinnitus bedrohlich oder als Herausforderung angesehen wird, ist individuell unterschiedlich und beruht meist auf der unbewussten Beurteilung vergangener Wahrnehmungen. Inwiefern Stress der Auslöser für einen Tinnitus werden kann, entscheidet somit die persönliche Fähigkeit, damit umzugehen.
Werden Reize als Bedrohung wahrgenommen, kommt es zur vermehrten Ausschüttung von Adrenalin. Der Blutdruck steigt, wodurch vermehrt Energie zur Verfügung gestellt wird. Im Gehirn findet gleichzeitig eine zusätzliche Aktivierung des Limbischen Systems statt. Kann die negative Bewertung der Reize nicht gestoppt werden, kommt es zur Freisetzung von Stresshormonen wie dem Cortisol. Eine dauerhaft hohe Konzentration dieses Hormons kann, wie bereits beschrieben, einen Tinnitus hervorrufen.
Welche Strategie gegen einen Tinnitus hilfreich sein mag, kann durch eine eingehende persönliche Beratung (Counseling) herausgefunden werden. Mit Hilfe entsprechender Therapieformen wird der Patient in die Lage versetzt, die Ohrgeräusche weniger störend zu empfinden. Die Besserung eines Tinnitus kann durch Maßnahmen zum Stressmanagement und Entspannungsverfahren gelingen. Körperliche Bewegung und eine optimistische Lebenseinstellung können weitere Ansatzpunkte sein, Stress zu bewältigen und somit die Geräuschwahrnehmungen zu überwinden.
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aktualisiert am 30.07.2020