Tinnitus ist eine Erkrankung, bei der die Patienten Geräusche im Ohr wahrnehmen, welche keiner vorhandenen äußeren Schallquelle zugeordnet werden können. In den meisten Fällen dauert das Pfeifen oder Klingeln nur eine kurze Zeit. Hält ein Tinnitus darüber hinaus an, wird von einem akuten Krankheitsgeschehen ausgegangen. Die Deutsche Tinnitus-Liga geht davon aus, dass zwischen einem und drei Prozent der Bevölkerung unter einem Tinnitus leidet, welcher länger als drei Monate andauert. In diesem Fall ist der Tinnitus chronisch.
Die Mechanismen, welche den Tinnitus verursachen, sind zum Großteil noch ungeklärt, sodass eine wirksame Therapie bisher eher auf Erfahrungen denn auf wissenschaftlichen Grundlagen basiert. Eine Empfehlung für eine medikamentöse Behandlung kann laut der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde bei einem chronischen Tinnitus derzeit nicht gegeben werden. Neben der als wirksam bewiesenen kognitiven Verhaltenstherapie kommen für die Behandlung eines Tinnitus vermehrt alternative Methoden zum Einsatz. Zu diesen gehört die Akupunktur.
Längst hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Ohrgeräusche nicht allein als eine Funktionsstörung des Hörsystems anzusehen sind. Ein Tinnitus ist ähnlich dem Schmerz das Symptom und nicht die Ursache einer Erkrankung.
Akupunktur ist untrennbar mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) verbunden. Der Mensch wird dabei als Teil des Kosmos betrachtet. Qi, die Lebenskraft, steht im Zentrum der Lehre. Die Lebenskraft fließt entlang sogenannter Meridiane, wobei alle Organe einer dieser Bahnen zugeordnet werden können. Bei einer Störung, wie es die Ohrgeräusche beim Tinnitus sind, soll der freie Fluss der Lebenskraft in den Meridianen wiederhergestellt werden.
Die stellenweise Hilflosigkeit bei der Behandlung des Tinnitus bringt viele, vor allem chronisch kranke Menschen dazu, sich Hilfe durch die Akupunktur zu erhoffen. Doch kann dabei das in der Schulmedizin gängige analytische Vorgehen nicht auf das asiatische Erklärungsmodell angewendet werden.
Ein der chinesischen Medizin kundiger Arzt wird eine Behandlung erst nach einer ausführlichen Erhebung der Familiengeschichte und einer Untersuchung aller Organe sowie der Lebensgewohnheiten durchführen. Die TCM unterscheidet die gegensätzlichen (polarisierenden) Zustände der Fülle oder Leere. Ein Zuviel an Lebensenergie führt zu akuten lauten Ohrgeräuschen. Eine Leere hingegen äußert sich in einem sich langsam steigernden Tinnitus.
Der Einstieg in die Akupunktur mag für westlich orientierte Behandlungsmethoden ungewöhnlich klingen. Doch lassen sich viele Parallelen finden, wenn der Körper als Ganzes wahrgenommen wird.
Die Leber spielt in der Traditionellen Chinesischen Medizin die Rolle, die Lebensenergie in Fluss zu halten. Liegt eine Füllestörung der Leber vor, kann dies nach Ansicht der chinesischen Heilkunde die Hörfähigkeit beeinträchtigen. Auslöser sind in erster Linie Emotionen wie Ärger oder Wut. Ebenfalls werden unterdrückte Gefühle als Ursache eines Tinnitus angenommen. Ebenso können Lärm oder bestimmte Nahrungsmittel (scharf, Koffein, Zwiebeln) oder eine fettreiche Ernährung ein solches Fülle-Syndrom auslösen.
Hingegen kann die Leere durch einen sogenannten Jing-Mangel der Niere oder des Herzens entstehen. Insbesondere eine Störung im Bereich der Niere scheint bei einem Großteil der Patienten in Betracht dafür zu kommen, ursächlich für den Tinnitus zu sein. Die Niere gilt unter anderem als zuständig für das Funktionieren der Ohren. Ihr wird der Ausgangspunkt des Qi zugesprochen. Krankheiten, Kälte von außen wie von innen oder auch eine Unterfunktion der Schilddrüse setzen der Niere zu und könnten somit einen Tinnitus verursachen.
Bei der klassischen Akupunktur werden feine Nadeln verwendet, welche an definierten Akupunkturpunkten angesetzt werden. Bei der Akupunkturbehandlung des Tinnitus geht man davon aus, dass ähnlich der Schmerzbehandlung durch die Nadeln ein Reiz an das Gehirn übermittelt wird. Wissenschaftlich betrachtet wird eine elektrische Ladung hervorgerufen, welche sich auf das Nervensystem im Gehirn sowie die Gehörschnecke auswirkt. In der TCM wird davon ausgegangen, dass die von Niere oder Leber ausgehenden Meridiane durch das Ohr fließen. Die Akupunktur entlang dieser Bahnen kann auf diesem Weg die Funktion des Ohres wieder in ein Gleichgewicht bringen.
Bei der neueren Variante der Akupunktur, der Ohrakupunktur, werden gleichfalls Nadeln an Akupunkturpunkte der Leber- oder Nierenmeridiane gesetzt. Obgleich diese Methode durch die Nähe zum Ohr an eine größere Wirksamkeit denken lässt, wird auch hier der Qi-Fluss beeinflusst.
Gleiches gilt für die Implantat-Akupunktur, bei welcher winzige Nadeln in das Ohr eingesetzt werden. Der Vorteil dieser Methode liegt in der über mehrere Monate anhaltenden Wirkung und der Tatsache, dass diese Nadeln sich anschließend rückstandslos auflösen.
In den Leitlinien wird bei einem chronischen Tinnitus keine Empfehlung für die Akupunktur ausgesprochen. Studien, welche die Behandlung der Ohrgeräusche überzeugend belegen können, liegen aktuell nicht vor. Dennoch kann eine Akupunktur eine Behandlungsmöglichkeit darstellen – zumal der Beleg der Wirksamkeit anderer Therapien ebenso dürftig erscheint. Die Durchführung einer Akupunktur sollte erfahrenen und in Akupunktur ausgebildeten Ärzten überlassen werden. Da Akupunktur eine ärztliche Leistung darstellt, kann sie von privaten Leistungsträgern übernommen werden. Auch bei gesetzlich versicherten Patienten besteht unter bestimmten Voraussetzungen bei einigen Kassen die Möglichkeit einer Kostenübernahme.
Deutsche Tinnitus-Liga e.V. – Ohrgeräusche, Ohrensausen oder Ohrenklingeln - Was ist Tinnitus?: https://www.tinnitus-liga.de/pages/tinnitus-sonstige-hoerbeeintraechtigungen/tinnitus.php (online, letzter Abruf: 06.08.2020)
AWMF online – S3-Leitlinie 017/064: Chronischer Tinnitus:– S3-Leitlinie 017/064: Chronischer Tinnitus: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017-064l_S3_Chronischer_Tinnitus_2015-02.pdf (online, letzter Abruf: 06.08.2020)
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aktualisiert am 06.08.2020