Prof. Mazurek: Ein Tinnitus ist ein Ohrgeräusch. Das kann ein Summen, Zischen, Pulsieren, Hämmern oder Rauschen sein. Es gibt verschiedene Gründe dafür, die sowohl im Ohr selbst als auch im Gehirn liegen können (periphere als auch zentrale Korrelate). Mit peripher sind zunächst Störungen im Bereich der Hörschnecke gemeint und dort speziell im Bereich der Hörsinneszellen. Schädigungen der Hörsinneszellen können zu einer vermehrten Botenstoffausschüttung und damit in der Hörbahn zu einer erhöhten Spontanaktivität führen, die sich dann im Gehirn als Muster manifestieren. Das Geräusch kann besonders belastend werden, wenn es mit anderen Teilen des Gehirns interagiert, die nicht direkt mit dem Hören zu tun haben. Ein gutes Beispiel dafür ist das limbische System, ein Teil des Gehirns, der für unsere Gefühle verantwortlich ist.
Ein Tinnitus ist ein Ohrgeräusch. Das kann ein Summen, Zischen, Pulsieren, Hämmern oder Rauschen sein...
Prof. Mazurek: Es ist definiert als Symptom, ja, aber aufgrund der zunehmenden Komorbiditäten (es tritt häufig in Verbindung mit anderen Erkrankungen auf) wie Depressionen, Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen entwickelt es sich allmählich zu einer Erkrankung, auch wenn die Definition noch nicht ganz eindeutig ist. Es gibt jedoch erste Bestrebungen in diese Richtung, da Tinnitus in Verbindung mit den Komorbiditäten eine verstärkte Belastung für die Patienten darstellt.
Prof. Mazurek: Es wird zwischen akutem und chronischem Tinnitus unterschieden. Ab einem Zeitraum von drei Monaten gilt ein Tinnitus als chronisch. Der akute Tinnitus wird derzeit ähnlich wie ein Hörsturz behandelt, mit Kortison in Form von Tabletten oder Infusionen. Bei einem chronischen Tinnitus gibt es laut der neuen S3-Leitlinie vor allem vier wichtige Punkte. Erstens das Counselling, also die Beratung und Aufklärung, zweitens eine hörtherapeutische Intervention bei Hörverlust, wie zum Beispiel Hörgeräte oder Cochlea-Implantate in Fällen von Taubheit. Dazu gehört auch Hörtraining. Drittens ist eine verhaltenstherapeutische Ausrichtung sinnvoll, also Verhaltenstherapie. Und viertens kann auch Selbsthilfe hilfreich sein. Das sind im Grunde die vier Hauptaspekte. Was sich verändert hat, ist vor allem die strukturierte Durchführung von Studien und die Veröffentlichung von Ergebnissen in den letzten 10 bis 15 Jahren. Früher wurde das nicht so systematisch durchgeführt und einige Ansätze waren noch nicht einmal bekannt. Jetzt gibt es eine klarere Vorstellung davon, welche diagnostischen Maßnahmen sinnvoll sind, wann therapeutische Interventionen angemessen sind und was nicht sinnvoll ist.
Es wird zwischen akutem und chronischem Tinnitus unterschieden. Ab einem Zeitraum von drei Monaten gilt ein Tinnitus als chronisch...
Prof. Mazurek: Grundsätzlich kann diese Behandlungsstrategie den meisten Patienten im chronischen Stadium helfen. Allerdings kann man den Tinnitus nicht vollständig heilen. Das Geräusch bleibt bestehen, aber der Leidensdruck kann deutlich reduziert werden. Es ist großartig, dass dadurch Depressivität abnimmt, Ängstlichkeit zurückgeht und die Lebensqualität verbessert wird. Wichtig zu beachten ist, dass die Behandlungsansätze keine schnelle Lösung sind. Viele Patienten wünschen sich eine Pille oder eine sofortige Behandlung. Aber wie bei jeder anderen chronischen Erkrankung erfordert die Behandlung Zeit.
Prof. Mazurek: Das hängt von den Ursachen ab. Es tritt sehr häufig bei Berufsgruppen in Verbindung mit Lärm auf, also die mit Lärm arbeiten, hohen Lautstärken ausgesetzt sind und keinen ausreichenden Schutz tragen. Das reicht von Presslufthämmern bis zu Rockkonzerten oder Musikern mit lauten Schallquellen. Diese Gruppen sind natürlich stärker betroffen. Stress und Belastung spielen ebenfalls eine große Rolle. Berufsgruppen wie z.B. Lehrer und Manager, die einem hohen Stresslevel ausgesetzt sind, sind ebenfalls besonders anfällig für Tinnitus.
Prof. Mazurek: Zwei Aspekte erklären, warum manche Menschen Tinnitus als störend empfinden. Zum einen hat es mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun, zum anderen mit unserer persönlichen Reaktion darauf. Zum einen gibt es bestimmte Bereiche im Gehirn - wir nennen sie Netzwerke, die uns den Tinnitus stärker spüren lassen. Dazu gehören das "Default Mode Network", das "Executive Network" und das "Stress Network". Vereinfacht gesagt, beeinflussen diese Netzwerke, wie stark wir den Tinnitus wahrnehmen. Zweitens spielt unsere persönliche Einstellung eine große Rolle. Man nennt dies das "Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell". Dabei geht es um unsere individuellen Fähigkeiten und Ressourcen, den aktuellen Belastungen/Stress und wie wir damit umgehen. Wenn jemand zum Beispiel dazu neigt, Probleme zu vermeiden, anstatt sie anzugehen, kann dies dazu führen, dass der Stress durch den Tinnitus schwerer zu bewältigen ist. Wenn die Belastung durch den Tinnitus die verfügbaren Ressourcen übersteigt, wird das Symptom als belastend empfunden. Sowohl die Funktionsweise des Gehirns als auch der persönliche Umgang mit Belastung und Stress sind also wichtig für das Erleben von Tinnitus.
Prof. Mazurek: Also an Komorbiditäten haben wir vor allem aus dem psychischen Bereich sehr viele. Das sind vor allem Depressionen, Angststörungen, Somatisierungsstörungen und Anpassungsstörungen. Darüber hinaus resultieren durch den Tinnitus und die Komorbiditäten weitere Beeinträchtigungen wie z.B. Beziehungsstörungen, Schlafstörungen und Kommunikationsprobleme. Was man daraus für die Praxis ableiten muss, ist, dass man natürlich nach den häufigsten Komorbiditäten fragen und sie kennen sollte. So kann man beispielsweise einen stark leidenden Patienten im chronischem Stadium mit einer Depression gezielter zur Therapie oder in spezialisierte Zentren überweisen.
Prof. Mazurek: Ja, auch nach den Leitlinien sollte man die Halswirbelsäule untersuchen und therapeutisch eingreifen, wenn es einen Zusammenhang gibt. Zum einen, wenn das Ohrgeräusch bei Bewegungen der Halswirbelsäule veränderbar ist, und zum anderen natürlich, wenn es Einschränkungen oder eine schlechtere Beweglichkeit gibt, da die Blutgefäße, die die Wirbelsäule durchlaufen, das Innenohr versorgen. Das bedeutet, dass die Patienten neben Hörtests und Stressbelastung auch die Halswirbelsäule berücksichtigen sollten. Grundsätzlich ist ein weiterer Aspekt, dass selbst wenn es nicht direkt eine Blockierung ist, durch körperorientierte Behandlungen über eine bessere Körperwahrnehmung die Lebensqualität sich steigern kann und darüber chronische Belastungen stärker in den Hintergrund gedrängt werden.
Prof. Mazurek: Es gibt erste Ansätze, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen, aber nur bei Patienten in den extremen Gruppen, entweder mit einer extremen Hörbeeinträchtigung oder extremen Belastungen. Lange Zeit wurden genetische Aspekte nicht wirklich als relevant angesehen. Diese Gene wurden in verschiedenen Gruppen von Menschen gefunden. Zum ersten Mal wurden sie bei einer Gruppe von Menschen in Spanien entdeckt und dann bei einer weiteren Gruppe in Schweden bestätigt.
Ob diese Gene tatsächlich therapeutisch beeinflusst werden können, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden.
Prof. Mazurek: Wenn der Tinnitus länger anhält, also nicht nur eine Minute, sondern den ganzen Tag über besteht, sollte er zunächst einen Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde aufsuchen und eine Abklärung anstreben. Der Ohrenarzt wird das Ohr, die Nase und den Mund untersuchen und eine Hörtestung durchführen, um akute Ursachen auszuschließen und eine entsprechende Behandlung einzuleiten. Wenn es sich um ein chronisches Ohrgeräusch handelt, sollte ebenfalls eine Abklärung erfolgen, da es verschiedene Ursachen geben kann. Zum Beispiel können ein Hörsturz, Lärmtrauma, Medikamenteneinnahme wie Aspirin, auch Tumore oder internistische Erkrankungen wie Hypertonie dahinterstecken. Eine Abklärung sollte also immer erfolgen. Zudem sollte auch das Hörvermögen überprüft werden, da viele Patienten auch eine Schwerhörigkeit haben. Je nachdem, ob fulminante Ursachen gefunden werden oder nicht, können entsprechende primäre Ursachen behandelt oder bei starkem Leidensdruck weitere therapeutische Interventionen durchgeführt werden.
Zum Beispiel können ein Hörsturz, Lärmtrauma, Medikamenteneinnahme wie Aspirin, auch Tumore oder internistische Erkrankungen wie Hypertonie dahinterstecken.
Prof. Mazurek: Natürlich ist die psychologische Unterstützung bei Tinnitus-Patienten sehr, sehr wichtig. Wie bei jeder chronischen Erkrankung müssen die Patienten aufgeklärt werden, das ist schon der erste Schritt einer psychologischen Therapie. Wenn ein großer Leidensdruck besteht, sollte eine Verhaltenstherapie erfolgen. Diese zielt darauf ab, dass der Patient Muster erkennt und sein Verhalten entsprechend ändert, damit er langfristig mit den Ohrgeräuschen umgehen kann. Natürlich gibt es auch direkte Anlaufstellen. Zum einen gibt es die Deutsche Tinnitus-Liga auf der Selbsthilfe-Ebene. Es gibt auch Behandlungszentren wie hier an der Charité oder anderen Universitäten, aber auch Rehabilitationskliniken oder spezifisch auf Tinnitus ausgerichtete Kliniken wie die Klinik in Bad Arolsen, die sich diesem Phänomen und dem Leidensdruck der Patienten widmen. Man muss schauen, was sich in der Nähe befindet, um die beste Anlaufstelle zu finden.
Prof. Mazurek: Die Stiftung setzt sich dafür ein, dass die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam gemacht wird. Ja, Tinnitus ist etwas, das man nicht sieht, und es ist für die Patienten oft sehr schwer, damit umzugehen. Gleichzeitig muss man jedoch darauf achten, seine Ohren zu schützen, denn man hat nur zwei, und die Hörsinneszellen wachsen nicht nach. Wenn das Hören schlechter wird, steigt das Demenzrisiko. Das bedeutet, wir haben vielfältige Problematiken. Die Stiftung ist also einerseits relevant für die Aufklärung der Öffentlichkeit über diese Symptomatik und andererseits für die wissenschaftliche Kommunikation über Kongresse und Veranstaltungen. Wir führen auch gezielte Projekte durch, um zum Beispiel den Einfluss von Stress bei Tinnitus zu untersuchen. Darüber hinaus geht es auch um Prävention, zum Beispiel durch Aufklärungsarbeit bei großen Konzerten oder Veranstaltungen, wie zum Beispiel Fußballspiele, bei denen viel Lärm herrscht. Dort verteilen ehrenamtliche Helfer auch Material, einschließlich Gehörschutz und möchten einfach das Bewusstsein und die Achtsamkeit mehr hervorrufen. Das sind die großen Schwerpunkte der Stiftung.
Prof. Mazurek: Von unserer Seite, von der Charité, liegt der Schwerpunkt natürlich auf Stress, der Rolle von Komorbiditäten und dem gesamten Bereich der Biomarker. Biomarker sind biologische Zeichen, die uns helfen können, besser zu erkennen, wie Therapien gezielter anzupassen sind oder ob Patienten später einmal Tinnitus entwickeln könnten. Unser Ziel ist es also, diese Biomarker zu finden und möglicherweise zu beeinflussen, um Tinnitus vorzubeugen oder frühzeitig zu diagnostizieren und gezielt zu behandeln. Es gibt bereits verschiedene Untergruppen bei Tinnitus, zum Beispiel Vermeidungstypen und Stresstypen. Wenn wir dieses Wissen haben, müssen wir die Diagnostik und auch die Therapie daran anpassen. Das ist der Weg, den die Behandlung des Tinnitus langfristig im Hinblick auf eine personalisierte Medizin einschlagen sollte.
Vielen Dank für das Interview!
aktualisiert am 25.08.2023