Herr Prof. Dr. Windfuhr - Sie sind Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und haben als Vertreter der DGHNO KHC (Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V) die Leitlinie „Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln“ maßgeblich mitentwickelt.
Prof. Windfuhr: Die Diagnose einer Mandelentzündung ist nicht einfach. Mandelentzündungen verursachen Halsschmerzen, aber Halsschmerzen bedeuten nicht immer eine Mandelentzündung. Das ist etwas verwirrend, hat aber damit zu tun, dass es im Hals nicht nur die Gaumenmandeln gibt. Auch die Rachenschleimhaut kann entzündet sein. Typischerweise geschieht dies in 50 bis 80 Prozent der Fälle durch Viren. Die Mandeln sind aber vor allem bei bakteriellen Infektionen betroffen. Das ist insofern wichtig, weil die Übertragungswege die gleichen sind. Die Ansteckung erfolgt durch Tröpfcheninfektion, das heißt, man kann sich beim Husten, beim Sprechen und auch beim Niesen anstecken. Der Unterschied ist, dass die Virusinfektion in der Regel mit einer symptomatischen Therapie von selbst ausheilt, während die bakterielle Infektion gut auf Antibiotika anspricht. In den meisten Fällen überwiegen virale Infektionen. Typischerweise erkranken (junge) Erwachsene daran. Im Gegensatz dazu sind es vor allem Kinder, die durch bakterielle Infektionen an einer Mandelentzündung erkranken. Bei ihnen müssen Kinderärzte, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und Hausärzte genau hinschauen, um zwischen einer einfachen Rachenentzündung und einer
Mandelentzündung zu unterscheiden.
Mandelentzündungen verursachen Halsschmerzen, aber Halsschmerzen bedeuten nicht immer eine Mandelentzündung.
Prof. Windfuhr: Die Mandeln sind ein Teil des Immunsystems. Das Immunsystem brauchen wir von dem Moment an, in dem wir auf die Welt kommen. Davor sind wir im Mutterleib geschützt. Aber wenn wir auf die Welt kommen, sind wir ständig Dingen ausgesetzt, die das Immunsystem herausfordern: Bakterien, Viren, Pilze, Fremdkörper. Wie nehmen wir diese auf? Natürlich durch Essen, Trinken und beim Atmen. Deshalb hat die Natur im Rachen die ersten Abwehrorgane mit Erkennungszellen angebracht. Diese Zellen unterscheiden genau: Das gehört zum Körper, das ist etwas, wo ich nicht aktiv werden muss. Und das gehört nicht zum Körper, das sind Bakterien, Viren, Pilze, Fremd- oder Giftstoffe. Die können krankmachen und die muss ich den Immunzellen präsentieren, damit sie diese angreifen.
Früher hatte man die Vorstellung, dass die Mandeln lebenswichtig sind. Das ist sicher nicht der Fall. Das sieht man schon daran, dass zu Zeiten als Mandeln mit eher unkritisch entfernt wurden, die Patienten im Laufe ihres Lebens keine Anzeichen einer Immunschwäche entwickelt haben. Tatsächlich wissen wir, dass es auch kein kritisches Alter gibt, bis zu dem man die Mandeln unbedingt braucht. Denn der Körper hat noch ein ganz anderes Immunsystem, das schon lange Gegenstand der Forschung ist, nämlich den Darmtrakt. Der übernimmt die Funktion des Immunorgans. Wenn wir also keine Mandeln mehr haben, ist es nicht so, dass wir ohne Immunschutz sind. Der Darmtrakt hat das längst übernommen und ist hier aktiv.
Ich selbst bin ein gutes Beispiel. Ich bin im frühen Alter von vier Jahren entmandelt worden, weil ich einmal Scharlach hatte, eine Indikation, die man heute sicher nicht mehr so vertreten würde. Und trotzdem bin ich in meinem ganzen Leben extrem selten krank. So geht es vielen Menschen, die ohne Mandeln leben. Eine Tonsillektomie (Mandelentfernung) führt also nicht zwangsläufig zu einer Immunschwäche.
Prof. Windfuhr: Wenn ein Erwachsener Halsschmerzen hat, reagiert er normalerweise mit der Einnahme eines einfachen Schmerzmittels, z.B. Ibuprofen. Bei Kindern ist das nicht so einfach, Eltern suchen einen Kinderarzt auf, um eine Untersuchung durchführen zu lassen. Sie können aber auch selbst eine Untersuchung durchführen. Zum Beispiel kann man bei geöffnetem Mund mit dem Stiel eines Esslöffels leicht auf die Zunge drücken. Wenn sie gleichzeitig die Nase zuzuhalten bewegt sich der Zungengrund in den meisten Fällen automatisch nach unten. Auf diese Weise kann man rechts und links des Rachens die geschwollenen Mandeln erkennen, die eitrige Beläge, so genannte "Stippchen" aufweisen, wenn sie denn tatsächlich entzündet sind.
Es ist wichtig zu wissen, dass diese Stippchen nicht unbedingt ein Anzeichen für eine Erkrankung sind. Sie sind nur im Zusammenhang mit akuten Halsschmerzen relevant. Wenn man solche Vergrößerungen sieht und der Bereich zudem stark gerötet ist, deutet das auf eine Mandelentzündung hin. Im Zweifelsfall ist es die Aufgabe des Arztes, dies festzustellen. Liegt tatsächlich eine solche Vergrößerung und Rötung mit erkennbaren weißlichen Belägen vor, handelt es sich um eine Mandelentzündung.
Prof. Windfuhr: Dieses Thema war vor allem in der Zeit präsent, als es noch nicht die Möglichkeiten der Versorgung mit Antibiotika gab. In den letzten Jahrzehnten haben wir jedoch eine umgekehrte Problematik erlebt: Antibiotika werden tendenziell zu leichtfertig verordnet. Antibiotika sollten nicht verschrieben werden, um Schmerzen zu behandeln, sondern um den verlauf einer bakteriellen Infektion zu verkürzen. Eine Verschleppung kann letztlich nur im Nachhinein beurteilt werden, denn wir wissen aus Studien, dass etwa bis zu 27% der Kinder mit wiederkehrenden Mandelentzündungen eine Spontanheilung erfahren. Ob dieses Kind oder der Betroffene sich tatsächlich selbst hilft und sein Körper mit der Infektion zurechtkommt, kann man im Vorhinein nicht sagen, sondern nur im Nachhinein. Es gibt aber auch gegenteilige Studien, die besagen, dass Abwarten nichts bringt. Man kann diese Patienten nur begleiten. Aber die Befürchtung, wie früher, dass daraus ein rheumatisches Fieber entsteht, dass das Herz oder die Nieren geschädigt werden, ist in unseren Regionen keine berechtigte Befürchtung mehr.
Antibiotika werden tendenziell zu leichtfertig verordnet.
Prof. Windfuhr: Wenn Patienten in die Notaufnahme oder in die Arztpraxis kommen, haben sie oft eines der häufigsten Symptome: Halsschmerzen. Nach den veröffentlichten Zahlen einer großen Krankenkasse waren es während der Pandemie etwa 2 Millionen Patienten, die wegen Halsschmerzen behandelt wurden. Die tatsächlichen Zahlen für ganz Deutschland liegen aber sonst noch höher. Interessant ist, dass die Regeln während der Pandemie die Ansteckungswege beeinflusst haben: die Menschen mussten Distanz wahren und Masken tragen. Trotzdem gab es diese hohe Zahl von Patienten mit Halsschmerzen.
Bei der ärztlichen Erstuntersuchung wegen Halsschmerzen werden Symptome wie Fieber, geschwollene Halslymphknoten, geschwollene Mandeln, Patientenalter und vor allem Husten erfasst. Für jedes Symptom wird vom Arzt ein Punkt vergeben. Damit lässt sich sehr schnell abschätzen, ob es sich um eine bakterielle oder virale Entzündung handelt. Nur, wenn eine bestimmte Punktzahl erreicht ist, wird eine Antibiotikum-Verordnung in Betracht gezogen. In anderen Fällen reichen Schmerzmittel, viel Flüssigkeit und körperliche Schonung aus.
Husten spricht jedenfalls ganz stark gegen eine bakterielle Entzündung. Laboruntersuchungen, Abstriche mit Keimbestimmungen sind in der Regel nicht notwendig, es sei denn, man möchte spezifische Virusinfektionen nachweisen. Bei Kindern unter 15 Jahren kann jedoch in Zweifelsfällen ein Streptokokken-Schnelltest durchgeführt werden. Ist dieser Schnelltest negativ, ist auch kein Antibiotikum erforderlich. Ein früher häufig verwendeter Laborwert, der sogenannte Anti-Streptolysin-Titer, hat heute keine Bedeutung mehr. Erst recht nicht als Begründung für eine Mandelentfernung.
Bei der ärztlichen Erstuntersuchung wegen Halsschmerzen werden Symptome wie Fieber, geschwollene Halslymphknoten, geschwollene Mandeln, Patientenalter und vor allem Husten erfasst.
Prof. Windfuhr: Es hat sich ein sogenanntes Punktesystem durchgesetzt, das es seit vielen Jahren gibt und das sich bewährt hat. Es gibt jeweils:
Jeder dieser Punkte wird addiert. Wenn man einen Punktwert unter drei erreicht, dann weiß man, dass ein Antibiotikum nicht notwendig ist. Ab einem Wert von 3 sollte man über eine Antibiotikaverordnung nachdenken. Man kann das Antibiotikum verordnen und ein Rezept ausstellen, jedoch dem Patienten sagen, er solle bitte 24 Stunden warten. Wenn es schlimmer wird, kann der Patient weitere 24 Stunden abwarten. Wenn er dann feststellt, dass es ihm besser geht, braucht er das Antibiotikum nicht.
In den Fällen mit voller Punktzahl ist in der Regel ein Antibiotikum indiziert, insbesondere wenn es den Patienten allgemein sehr schlecht geht. Dieses Punktesystem ist sehr hilfreich. Was steckt hinter dem Punktesystem? Es schätzt die Wahrscheinlichkeit einer Streptokokkeninfektion ein. Nur wenn die Wahrscheinlichkeit einer Streptokokkeninfektion hoch ist, ist es sinnvoll, ein Antibiotikum zu geben. Wenn Patienten mit einer laufenden Nase und Husten kommen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Virusinfektion hoch. Und Viren reagieren bekanntlich nicht auf Antibiotika, die kann man
dem Patienten ersparen.
Prof. Windfuhr: Neuere Studien haben gezeigt, dass die Mandelentfernung einen Nutzen haben kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Patienten tatsächlich einen hohen Leidensdruck haben. Es ist nicht automatisch eine Operationsindikation gegeben, wenn man ein- oder zweimal Halsschmerzen hatte. Hier müssen noch ganz andere Faktoren hinzukommen. Generell gehen wir heute davon aus, dass Patienten mit mindestens sieben Halsschmerzepisoden in den letzten zwölf Monaten von einer Mandeloperation profitieren. Hierzu wurde im Mai dieses Jahres eine Studie aus England mit über 400 Patienten veröffentlicht. Untersucht wurde, ob Patienten, die wiederholt Halsschmerzen hatten, tatsächlich von der Behandlung profitieren. Voraussetzung war nicht unbedingt die Einnahme von Antibiotika, aber die Patienten mussten stark betroffen sein und mindestens sieben solcher Halsschmerzepisoden hinter sich haben. Erfreulich war, dass die Operation einen signifikant positiven Effekt auf den weiteren Krankheitsverlauf hatte. Die Patienten hatten in einem Beobachtungszeitraum von zwei Jahren signifikant weniger Tage mit Halsschmerzen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass die Mandelentfernung selbst Halsschmerzen verursacht, deswegen bitten die Operierten ja häufig nach der Operation um Eis.
Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass Kinder im Alter von 3 bis 15 Jahren von der Operation profitieren, insbesondere wenn sie vor der Operation stark betroffen waren. Als Kriterium wurden damals ebenfalls mindestens sieben Halsschmerzepisoden in den letzten 12 Monaten festgelegt. Alternativ fünf Episoden pro Jahr in den letzten zwei Jahren oder drei Episoden pro Jahr in den letzten drei Jahren. Diese Kriterien werden nach dem Studienleiter "Paradise Kriterien" genannt und haben sich auch in der Studie aus England bei Erwachsenen bewährt.
Prof. Windfuhr: Heilungsschmerzen lassen sich natürlich in erster Linie nicht vermeiden, weil man dabei die Schluckmuskulatur freilegen muss, um die Mandeln zu entfernen. Sie haben keine echte Organkapsel. Es gibt eine Komplikation, die uns HNO-Ärzten immer noch Sorgen bereitet: die Nachblutung. Das Problem ist, dass wir nicht sagen können, welcher Patient blutet und wann der Patient blutet. Das ist auch der Grund, warum wir in Deutschland immer noch der Meinung sind und es auch so praktizieren, dass man diesen Eingriff nicht ambulant durchführt. Da die Wunden während der Heilungsphase immer mit den Bakterien und Enzymen des Speichels in Kontakt stehen, können die Adern in der Wunde plötzlich angedaut werden – so
erklären wir uns das späte Auftreten von Blutungen. Die medizinische Versorgung muss gewährleisten, dass diese Komplikation kompetent und schnell behandelt wird.
Prof. Windfuhr: Generell wird seit vielen Jahren versucht, diese Frage zu klären. Letztlich ist es nirgendwo gelungen, tatsächliche Nachteile nachzuweisen oder zu belegen. Man kann Veränderungen der Immunglobulinkonzentration, also der Antikörper, die der Körper gegen verschiedene Antigene bildet, messen. Klinische Auswirkungen hat die Mandelentfernung jedoch nicht. Das ist einerseits beruhigend. Denn man müsste sich sehr viel mehr Gedanken über die Indikation dieses Eingriffs machen, wenn man in Kauf nehmen müsste, dass das Abwehrsystem dadurch langfristig geschädigt wird. Das befürchten wir zum Beispiel nach einer Chemotherapie oder nach einer langfristigen Kortisongabe. Aber das ist sicher nicht der Fall. Man sieht Tausende von Menschen ohne Mandelgewebe, die völlig problemlos durchs Leben gehen. Das Immunsystem wird durch eine Mandelentfernung sicher nicht geschädigt.
Prof. Windfuhr: Besonders bei der Verschreibung von Antibiotika wird mittlerweile zu mehr Zurückhaltung geraten. Dies ist seit einiger Zeit so und wurde bereits in verschiedenen Leitlinien berücksichtigt. Es wird empfohlen, zunächst genau zu analysieren, wie gefährdet die Patienten tatsächlich durch eine bakterielle Mandelentzündung sind. Kann man abwarten und auf Antibiotika verzichten? Es mag banal klingen, aber es ist wichtig zu betonen, dass die WHO generell seit Langem vor den Gefahren einer unkritischen Verschreibung von Antibiotika warnt. Bakterien entwickeln Resistenzen gegen diese Medikamente. Das bedeutet, dass wir immer häufiger in die Situation kommen, Infektionen mit sogenannten Reserveantibiotika behandeln zu müssen.
Wenn diese nicht mehr wirken, haben wir keine Möglichkeit mehr, bakterielle Entzündungen zu behandeln. Seit vielen Jahren setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass eine Mandelentfernung nicht immer notwendig ist. Die bereits genannte Studie von 1984 aus den USA zeigte, dass Kinder nur dann von einem solchen Eingriff profitieren, wenn sie nicht zuverlässig und langfristig mit Antibiotika behandelt werden können.
Um die Jahrtausendwende kam eine neue Methode hinzu: die Teilentfernung der Mandeln. In den 80er und 90er Jahren erkannte man, dass vor allem Kinder unter der Größe ihrer Mandeln leiden. Sie entwickeln Atemprobleme vor allem, wenn zusätzlich Mandelentzündungen hinzukommen. In Schweden begann man, die Mandeln nicht mehr vollständig, sondern nur noch teilweise zu entfernen. Dieses Vorgehen wurde anfangs kritisiert, hat sich aber in der Praxis bewährt. Der Vorteil der Teilentfernung liegt darin, dass der Eingriff für die Patienten angenehmer ist. Sie haben weniger Schmerzen, da der Schnitt im Mandelgewebe erfolgt, wo die Blutgefäße kleiner sind und Schmerzfasern fehlen. Das Risiko von Nachblutungen ist somit geringer und die Patienten können schneller wieder normal essen und trinken. In Deutschland und Finnland laufen derzeit interessante Studien zu diesem Thema. Es wird untersucht, ob es ausreicht, nur die Mandeln zu verkleinern, auch wenn eine Mandelentzündung vorliegt. Die Ergebnisse dieser Studien werden mit Spannung erwartet. Seit vielen Jahren setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Mandelentfernung nicht immer notwendig ist.
Seit vielen Jahren setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass eine Mandelentfernung nicht immer notwendig ist.
Prof. Windfuhr: Ich kann mir vorstellen, dass die soeben kurz skizzierten Studien aus Deutschland und Finnland auch in anderen Ländern durchgeführt werden. Ziel ist es zu zeigen, dass in vielen Fällen, nicht allen, mit einer Teilentfernung der Mandeln geholfen werden kann. Dieser Eingriff ist nicht nur für die Patienten weniger belastend, sondern reduziert auch das Belastung für die Chirurgen und Krankenhäuser. Sie müssen deutlich weniger Blutungskomplikationen befürchten, die nach einem solchen Eingriff auftreten können.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 15.11.2023.