Prof. Marina Fuhrmann wurde 2013 zur ersten Professorin für Osteopathie in Deutschland berufen. Osteopathie ist eine ganzheitliche, komplementärmedizinische Heilkunde, die sich durch eine umfassende manuelle Diagnostik und Therapie auszeichnet und als eigenständige medizinische Disziplin gilt. Sie stellt die Ursachen von Beschwerden in den Mittelpunkt, anstatt nur rein symptomorientiert zu behandeln. Trotz der hohen Nachfrage und des nachgewiesenen Nutzens für das Gesundheitssystem bleibt eine klare gesetzliche Regelung zur Gewährleistung der Patientensicherheit eine zentrale Herausforderung für die Zukunft der Osteopathie.
Prof. Fuhrmann: Auf Initiative des Verbandes der Osteopathen Deutschland ist der erste Studiengang nach langer Vorbereitung in Kooperation mit der Hochschule Fresenius entstanden. Die Akademisierung der Osteopathie ist ein notwendiger Weg gewesen, um mit einer vergleichbaren Qualifikation Patientensicherheit zu gewährleisten, die Forschung voranzutreiben und eine gute Grundlage für die Etablierung des eigenständigen Berufs des/r Osteopathen/in zu schaffen. Dort wurde ich 2013 zur ersten Professorin berufen und war inhaltlich mit der Studienleitung betraut.
Prof. Fuhrmann: Das ist so nicht ganz richtig. Immer häufiger arbeiten Ärzte und Fachtherapeuten interdisziplinär zum Wohle ihrer Patienten mit Osteopathen zusammen. Die Osteopathie oder Osteopathische Medizin ist ein Teil der Integrativen Medizin. Osteopathen mit der Zulassung des Primärkontaktes können durch ihre fundierten Kenntnisse in der Differenzialdiagnostik Hausärzte entlasten. Gut ausgebildete Osteopathen sind Experten der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation. Die Ausbildung beinhaltet eine umfassende Schulung in manueller Diagnostik und Therapie sowie fachübergreifendes Wissen aus allen medizinischen Bereichen. Erste Auswertungen der Krankenkassen belegen rund 20 Prozent Kostenersparnis durch Osteopathie im Gesundheitssystem. Osteopathie hat sich gut im zweiten Gesundheitsmarkt etabliert.
Erste Auswertungen der Krankenkassen belegen rund 20 Prozent Kostenersparnis durch Osteopathie im Gesundheitssystem.
Prof. Fuhrmann: Osteopathie ist eine komplementärmedizinische, ganzheitliche Medizinform. Das bedeutet, sie kann als Heilkunde alleinstehend oder begleitend zur sogenannten schulmedizinischen Versorgung gesehen werden. Osteopathen untersuchen und behandeln ausschließlich mit ihren Händen. Der zusammengesetzte Begriff Osteopathie wird aus den altgriechischen Wörtern "osteon" für Knochen und "pathos" für Leiden hergeleitet, wobei sich Osteopathie nicht auf den muskuloskelettalen Bereich alleine beschränkt. Die Lehre stammt von dem US-amerikanischen Arzt Andrew Taylor Still. Der Mediziner entwickelte im 19. Jahrhundert ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Prof. Fuhrmann: Osteopathie und Physiotherapie sind in ihrer Zielsetzung grundverschieden. Physiotherapeuten (früher auch Krankengymnasten) üben einen sogenannten Heilhilfsberuf aus und werden daher in der Regel auf Delegation eines Arztes tätig. Physiotherapeuten erhalten also einen Behandlungsauftrag und fokussieren sich auf diese Diagnose. Die klassische Physiotherapie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Bewegungsapparat des Menschen und behandelt in erster Linie symptombezogen.
Osteopathie hingegen gilt in Deutschland als Heilkunde und ist eine eigenständige medizinische Disziplin. Osteopathen diagnostizieren vor der Behandlung und verfügen aufgrund ihrer umfassenden, breiten medizinischen Ausbildung über ein großes differentialdiagnostisches Wissen. Vor jeder Behandlung wird der Patient untersucht, um Risikofaktoren zu erkennen bzw. auszuschließen. Der Hauptfokus der Behandlung liegt im Aufspüren der Ursache der Beschwerden des Patienten.
Osteopathie geht davon aus, dass unser Körper mit natürlichen Korrekturkräften ausgestattet ist, die versuchen, den Organismus gesund zu halten. Dieser Selbstregulierungsmechanismus funktioniert ungehindert, solange der Körper die Gewebe, die Gelenke, Muskeln, Nerven und Knochen und das Organsystem gut versorgen kann. Im Zentrum der osteopathischen Behandlung stehen nicht nur das Knochengerüst, sondern vor allem die Leitungsbahnen im Körper, Blutgefäße, Lymphen, Nervensystem, Bindegewebe. Durch Verspannungen oder zum Beispiel auch durch alte Narben können sich über diese Strukturen Ungleichgewichte ausbreiten. Dadurch kann es zu Blockaden kommen, die mit der Zeit zu manifesten Erkrankungen führen können.
Osteopathie geht davon aus, dass unser Körper mit natürlichen Korrekturkräften ausgestattet ist, die versuchen, den Organismus gesund zu halten.
Prof. Fuhrmann: Grundsätzlich kann die Osteopathie bei allen Beschwerdebildern sinnvoll sein. Osteopathie wird unter anderem bei Beschwerden am Bewegungsapparat, im internistischen, urogenitalen und Hals-Nasen-Ohren-Bereich und der Kinderheilkunde eingesetzt. Häufig haben unsere Patienten schon eine Odyssee bei (Fach)-ärzten und Therapeuten hinter sich, kommen mit Ergebnissen bildgebender Verfahren wie MRT oder CT. Inzwischen suchen immer mehr Menschen aller Altersklassen (vom Säugling bis zum Senior) und jeden Geschlechts, bei denen keine Ursache für ihre Beschwerden gefunden werden konnte, Hilfe beim Osteopathen. Einer Forsa-Umfrage von 2024 zufolge war deutschlandweit fast jeder Dritte bereits beim Osteopathen.
Prof. Fuhrmann: Der menschliche Körper stellt eine Einheit dar. Alles hängt miteinander zusammen. Osteopathen beseitigen Funktionsstörungen, deren Auswirkungen an jedem Körperteil und in jedem Organ auftreten können. Oftmals an anderer Stelle als da, wo der Schmerz sitzt – weil alle Organe, Muskeln, Knochen über das Faszien- (Bindegewebs-) Netz miteinander verbunden sind, können Ursache und Wirkung weit auseinanderliegen. Mit manuellen Techniken lassen sich diese Fixationen lösen. Das sorgt für neue Bewegungsfreiheit und beseitigt auch Beschwerden, bei denen eher selten eine organische Ursache vermutet wird. So können etwa langanhaltende Knieprobleme beispielsweise von einer stark gespannten Nierenfaszie herrühren. Diese ist direkt mit einem Faserstrang der von der Wirbelsäule durch das Becken über das Hüftgelenk bis zum Knie und zur Fußsohle verläuft.
Ein anderes Beispiel: Eine Patientin hat unter wochenlangen Nackenschmerzen gelitten, weil sie einige Zeit zuvor mit dem Sprunggelenk umgeknickt war. Die Störung des unteren Wadenbeins hat dann zu einer erhöhten Spannung der Rückenmuskulatur geführt und sich auf die Nacken- und Halsmuskeln ausgewirkt. Dank der Osteopathie konnte man diese Ursache behandeln und die Patientin dauerhaft von ihren Beschwerden befreien.
Osteopathen beseitigen Funktionsstörungen, deren Auswirkungen an jedem Körperteil und in jedem Organ auftreten können.
Prof. Fuhrmann: Ja, das kann sie. Der Darm umfasst verschiedene Abschnitte wie Dünn- und Dickdarm und wird durch das Gekröse (Mesenterium) befestigt. Das Zusammenspiel mit Nachbarorganen wie Gallenblase und Bauchspeicheldrüse ist von großer Bedeutung für eine gesunde Verdauung. Ein besonderer Fokus liegt auf der Beweglichkeit und Befestigung des Darms sowie seiner Versorgung durch Blut und Lymphe. Die Osteopathie erkennt, dass eine optimale Funktion nur gewährleistet ist, wenn der Darm in einer harmonischen Umgebung arbeiten kann, auch frei von Einschränkungen wie Narben oder Verwachsungen im Bindegewebe, die nach Operationen entstehen können. Mit spezifischen Techniken lassen sich solche Störungen sanft lösen.
Prof. Fuhrmann: Auf der Internetseite des Verbandes der Osteopathen Deutschland (VOD) oder in der Geschäftsstelle des Verbandes unter der Telefonnummer 0611 5808975 – 0 können Interessierte Therapeutenlisten komfortabel nach Postleitzahlen und Umkreissuche abfragen. Hierauf sind nur diejenigen Osteopathen verzeichnet, die die Mindestanforderung der Ausbildung, das heißt mindestens 4 bis 5 Jahre, erfüllen und eine klinische Prüfung absolviert haben. Sie unterliegen zudem, anders als bei vielen im Netz kursierenden sogenannten Therapeutenlisten, einer regelmäßigen Fortbildungspflicht, die von uns überprüft wird.
Prof. Fuhrmann: Die Behandlung beginnt mit einer gründlichen Anamnese, bei der wir auch schulmedizinische Befunde abklopfen. Es ist wichtig die Krankengeschichte der Patienten – Unfälle, Operationen – zu kennen und zu wissen, welche Medikamente sie nehmen. Die typische osteopathische Untersuchung erfolgt dann ausschließlich mit den Händen. Dabei versuchen wir, den Körper zu "screenen" und die Befunde in den Kontext der Beschwerden des Patienten zu setzen.
Prof. Fuhrmann: Ein gut ausgebildeter Osteopath kann bei der Untersuchung das menschliche Gewebe Schicht für Schicht erspüren (palpieren). So spürt er Bewegungseinschränkungen und Spannungen auf. Das Palpieren ist die Grundlage der osteopathischen Diagnostik und Behandlung. Dabei ist es Voraussetzung, dass der Osteopath möglichst wertfrei und ohne Intention den Patienten in seinem Sein und seinem Körper, das Gewebe wahrnimmt. So ist es nicht nur möglich, die Beschaffenheit, die Temperatur, die Spannung, die Beweglichkeit der Haut zu erkennen, sondern auch das darunter liegende Gewebe, die Muskeln, Bänder, Faszien, Knochen und inneren Organen zu erkunden und sich davon leiten lassen.
Ein gut ausgebildeter Osteopath kann bei der Untersuchung das menschliche Gewebe Schicht für Schicht erspüren (palpieren).
Prof. Fuhrmann: Eine osteopathische Behandlung dauert durchschnittlich 50 Minuten. Der Körper kann etwa zwei bis drei Wochen lang auf eine osteopathische Behandlung reagieren. Jede neue Therapiesitzung wird individuell auf die Symptome des Patienten abgestimmt. Nach drei- bis viermaliger osteopathischer Behandlung wird durch den Patienten und den Osteopathen eine Neubewertung durchgeführt und gemeinsam entschieden, ob das aktuelle Symptombild eine Fortführung der osteopathischen Behandlung notwendig macht und sinnvoll erscheinen lasst. Der genaue Verlauf und Dauer der Behandlung ist immer von dem Einzelfall abhängig.
Prof. Fuhrmann: Osteopathie ist keine Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen. Seit Inkrafttreten des Versorgungsstrukturgesetzes Anfang 2012 haben jedoch fast 100 Kassen die anteilige Kostenerstattung für Osteopathie als freiwillige Leistung übernommen. Dies wiederum hat die Nachfrage nach osteopathischer Behandlung nochmals verstärkt. In einer aktualisierten Liste können sich Patienten über die jeweiligen Bedingungen informieren. Patienten sind größtenteils Selbstzahler, Privatversicherte oder gesetzliche Versicherte, deren Kassen den Zuschuss als freiwillige Satzungsleistung gewähren. Durch die freie Kassenwahl und den Wettbewerb mit teils hohen Zuschüssen können auch gesetzlich Versicherte Osteopathie in Anspruch nehmen.
Prof. Fuhrmann: Vor jeder Behandlung wird der Patient untersucht, um Risikofaktoren zu erkennen bzw. auszuschließen. Osteopathie ist in der Regel nebenwirkungsarm – Müdigkeit oder eine Art "Muskelkater" nach einer Behandlung können auftreten.
Prof. Fuhrmann: Prävention ist ein sehr wichtiger Bereich, eine der besonderen Stärken der Osteopathie. Vielleicht sogar eines unserer Alleinstellungsmerkmal. Im besten Fall erkennen wir Dysregulationen und Kompensationen, bevor Beschwerden auftreten und die Vitalität und Leistung eingeschränkt ist.
Ein einfaches Beispiel wäre, wenn jemand öfter leichte muskuläre Probleme im Training hat, werden diese zunächst diagnostisch untersucht. Wenn kein struktureller Schaden festgestellt wird, kommt der osteopathische Check dazu, mit anschließender Behandlung. Oft sind die Gründe abseits vom eigentlich betroffenen Muskel, wie Blockaden in Iliosakralgelenk, Rücken oder benachbarten Gelenken wie Knie und Fuß, Ursache-Folgeketten. Vielleicht auch Probleme zwischen Muskel und Organen, z.B. eine Verklebung der Faszien von Muskulus Ileopsoas (Lenden-Darmbeinmuskel) und Niere.
Im besten Fall erkennen wir Dysregulationen und Kompensationen, bevor Beschwerden auftreten und die Vitalität und Leistung eingeschränkt ist.
Prof. Fuhrmann: Die Osteopathie hat ihre Grenzen dort, wo die Selbstregulierungskräfte des Körpers nicht ausreichen. Bei Tumorerkrankungen, Unfällen sowie bei akuten und schweren Erkrankungen kann sie die Schulmedizin mit ihren medikamentösen und operativen Behandlungen nicht ersetzen. Qualifizierte Osteopathen wissen um diese Abgrenzungen und raten in solchen Fällen zum Arztbesuch.
Prof. Fuhrmann: Bislang gibt es keinen funktionierenden Patienten- und Verbraucherschutz in der Osteopathie und das, obwohl bereits über 19 Millionen Bundesbürger osteopathische Behandlungen in Anspruch genommen haben und ihre Zahl weiterwächst. Ein Berufsgesetz, welches Ausbildung und Ausübung klar regelt, gibt es trotz dieser enormen Zahlen bis heute unverständlicherweise nicht. Diverse europäische Nachbarländer haben bereits Berufsgesetze für Osteopathie. Deutschland darf hier nicht zum Schlusslicht werden.
Nach dem einstimmigen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz bereits im Juli 2019, der Bund möge für den notwendigen Patientenschutz ein Berufsgesetz prüfen, sind wir überzeugt, dass die Politik zumindest das Risiko für viele Millionen Patienten und die Notwendigkeit der Regelung erkannt hat. Wir mahnen mit Nachdruck die Umsetzung an, damit Patientinnen und Patienten sicher sein können, dass dort, wo Osteopathie draufsteht, auch Osteopathie drin ist. In unserem Bemühen werden wir im Interesse von Millionen von Patienten und einer bestmöglichen integrativen Gesundheitsversorgung, bei der auch die Kolleginnen und Kollegen anderer Gesundheitsberufe und Ärzte klar wissen, welche Qualifikation der Osteopathie zugrunde liegt, nicht lockerlassen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 13.02.2025.