Bei einer Sichelzellkrankheit (Drepanozytose) handelt es sich um eine in unseren Breitengraden eher seltene Erbkrankheit. Schätzungen zufolge werden in Deutschland momentan etwa 3000 Patienten mit einer Sichelzellkrankheit betreut. Die Erkrankung, die bis vor einigen Jahren vermehrt als Sichelzellanämie bezeichnet wurde, erhält ihren Namen durch die sichelförmige Deformierung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten). In der Folge leiden Betroffene unter einer Blutarmut (Anämie), einer erhöhten Infektanfälligkeit, und es kommt zu Verstopfungen von Blutgefäßen, die mit starken Schmerzen und Schädigungen von Organen und Geweben einhergehen können. Obwohl während der Erkrankung schwere Komplikationen und Folgen auftreten können, erreichen heute über 90 Prozent der Betroffenen in den Industriestaaten das Erwachsenenalter. Besonders wichtig hierbei sind allerdings eine frühzeitige Diagnose sowie eine auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Therapie.
Eine Sichelzellkrankheit ist grundsätzlich erblich bedingt. Durch eine genetische Veränderung (eine Mutation des Chromosoms 11) kommt es zu einer Störung bei der Bildung des roten Blutfarbstoffs (Hämoglobin). Ein Hämoglobinmolekül besteht normalerweise aus vier verschiedenen Proteinketten. Durch die genetische Veränderung kommt es bei der Sichelzellkrankheit zur Veränderung einer dieser Ketten.
Da die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) zu einem großen Teil aus Hämoglobin bestehen, wirkt sich die Störung unmittelbar auf die Erythrozyten aus. Statt einer flexiblen Scheibe mit einer kleinen Einbuchtung wird den Zellen durch die Mutation ein sichelförmiges und starres Aussehen aufgezwungen. Zudem können die deformierten Erythrozyten ihrer normalen Funktion des Sauerstofftransports nicht mehr ausreichend nachkommen und sterben deutlich früher ab als herkömmliche rote Blutkörperchen.
Sind sowohl das väterliche als auch das mütterliche Gen von der Mutation betroffen (homozygoter Merkmalsträger), bricht die Krankheit in jedem Fall aus. Ist nur eines der beiden Gene betroffen (heterozygoter Merkmalsträger), kommt es nur unter bestimmten Umständen, wie beispielsweise einem starken Sauerstoffmangel, zu Symptomen.
Da die Mutation den genetischen Vorteil des Schutzes vor Malaria mit sich bringt, ist die Anzahl von Betroffenen in den Malariagebieten Afrikas und Asiens am höchsten. Doch auch in den Ländern des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeeres kommt die Krankheit durchaus vor. Somit können fast ausschließlich Menschen mit einem Migrationshintergrund aus diesen Ländern die genetische Veränderung in sich tragen und an die nächste Generation weitergeben.
Typisches Symptom einer Sichelzellkrankheit sind Schmerzkrisen. Die Schmerzen treten zumeist plötzlich auf und gehen in vielen Fällen vom Skelettsystem aus. Die Schmerzen sind bei einer Vielzahl von Betroffenen so stark, dass sie als lebensbedrohlich empfunden werden. Grund hierfür ist ein Absterben von Gewebe (Nekrose) im Knochenmark, das durch die mangelnde Versorgung mit Sauerstoff entstanden ist. Während der Schmerzkrisen kommt es außerdem zu Fieber und einer Erhöhung der Entzündungswerte im Blut. Bei Kindern treten die Schmerzen eher im Bereich von Händen und Füßen auf, bei Jugendlichen und Erwachsenen in Wirbelsäule, Becken, Brustbein oder Oberschenkeln.
Zudem kann im Verlauf zu ein so genanntes akutes Thoraxsyndrom (ATS) auftreten. Hierbei kommt es zu Symptomen wie Schmerzen im Brustkorb, Fieber, Husten, beschleunigter Atmung und/oder Atemnot. Ursachen hierfür können ins Blut eingeschwemmte Fetttröpfchen aus dem Knochenmark (Embolien), Infektionen oder eine Überwässerung sein. Ein ATS erfordert eine sofortige medizinische Behandlung und zählt zu den häufigsten Todesursachen von älteren Sichelzell-Patienten.
Bei Kindern bis zum sechsten Lebensjahr kommt es außerdem häufig zu Bauchschmerzen, auffälliger Blässe und einer Vergrößerung der Milz. Derartige Symptome, die sich schnell entwickeln können, weisen auf eine Milzsequestration (MS) hin, bei welcher das Blut innerhalb kürzester Zeit in den kleinen Gefäßen der Milz versackt. Grund hierfür ist zumeist eine vorausgegangene Infektion. Eine Milzsequestration zählt zu den häufigsten Todesursachen von Säuglingen und Kindern, die an einer Sichelzellenanämie erkrankt sind, und erfordert ebenfalls eine sofortige medizinische Behandlung.
Weitere erste Krankheitsanzeichen oder Komplikationen können sein:
Daneben kommt es aufgrund der Sichelzellkrankheit bei Erwachsenen häufig zu Spätfolgen, die aufgrund der mangelnden Versorgung mit Sauerstoff nahezu jedes Organ betreffen können und zumeist chronisch verlaufen. Gefährdet sind in erster Linie Patienten, bei denen die Sichelzellkrankheit zu spät diagnostiziert oder nicht adäquat behandelt wurde. Zu diesen Spätfolgen zählen unter anderem:
Grundlegend für die Diagnostik einer vermuteten Sichelzellkrankheit ist die Erfragung der Beschwerden und ob es Fälle der Erkrankung innerhalb der Familie gibt sowie die Blutuntersuchung mit Hämoglobinanalyse.
Für die labortechnische Untersuchung des Blutes gelten für Frauen und Männer die folgenden Normwerte (wobei die Referenzwerte des jeweiligen Labors beachtet werden sollten):
Blutwerte | Frauen | Männer |
---|---|---|
Erys (Erythrozytenanzahl in Mio pro µl) | 4,1-5,2 | 4,5-5,9 |
Hb (Konzentration Hämoglobin in g pro dl) | 12-16 | 13-17 |
Hkt (Hämatokrit) | 37-45 Prozent | 42-50 Prozent |
Ist die Hämoglobinkonzentration zu niedrig und einer der beiden anderen Werte ebenfalls vermindert, so liegt eine Anämie vor. Unter dem Mikroskop können danach beispielsweise mit einem Sichelzelltest, bei welchem ein Blutausstrich unter Luftabschluss gelagert wird, die deformierten Erythrozyten sichtbar gemacht werden. In Einzelfällen wird zudem eine genetische Diagnostik durchgeführt, um die Mutation auf dem betroffenen Gen ausfindig zu machen.
Sofern Eltern bereits ein Kind mit einer Sichelzellkrankheit haben, erfolgt eine pränatale (das ungeborene Kind betreffende) Diagnose in der 10. Schwangerschaftswoche bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Empfehlenswert ist eine solche Diagnostik außerdem bei Eltern, die aus Risikogebieten wie Angola oder dem Kongo stammen. Hierbei wird eine Probe des Mutterkuchens entnommen und auf genetische Veränderungen hin analysiert (Chorionzottenbiopsie).
Abgegrenzt werden muss die Sichelzellkrankheit von anderen Erkrankungen, die mit einer Anämie einhergehen, bei welcher die roten Blutkörperchen zerstört oder zu früh abgebaut werden (hämolytische Anämie). Beispiele hierfür wären die paroxymale nächtliche Hämoglobinurie oder Thalassämien (ebenfalls genetische Erkrankungen mit veränderten roten Blutkörperchen).
Da es sich bei der Sichelzellkrankheit um eine seltene Erkrankung handelt, die sich zu Beginn ausschließlich mit Schmerzkrisen bemerkbar machen kann, ist die Liste der Differentialdiagnosen je nach betroffenem Organ oder betroffener Körperregion recht lang. Vor allem die Abgrenzung zu einer Knochenentzündung (Osteitis) kann bei der Diagnose Schwierigkeiten bereiten, wobei Schmerzkrisen bei der Sichelzellkrankheit etwa 50 Mal häufiger vorkommen als eine Osteitis.
Bei der Sichelzellkrankheit handelt es sich um eine extrem komplexe Erkrankung, deren Behandlung sich nach den jeweiligen Symptomen, Komplikationen und den eventuell vorliegenden chronischen Organschäden richtet. Dennoch liegen heute Leitlinien vor, die sich auf fast alle Sichelzellpatienten anwenden lassen.
Um einer schweren Infektion mit Pneumokokken vorzubeugen, wird betroffenen Kindern und Erwachsenen eine Impfung empfohlen. Bei unklarem Fieber wird zudem ein Antibiotikum verabreicht. Dabei wird der jeweilige Wirkstoff vom behandelnden Arzt mit Bedacht ausgewählt, da Sichelzellpatienten deutlich schneller eine Blutvergiftung (Sepsis) erleiden. Prophylaktisch erhalten die meisten betroffenen Kinder bis zum sechsten Lebensjahr außerdem Penicillin als Dauermedikament.
Als Dauermedikament kommt zudem Hydroxycarbamid in Frage. Bei diesem Medikament handelt es sich um ein Mittel gegen Krebs (Zytostatikum), welches normalerweise bei einer chronischen Verlaufsform von Leukämie eingesetzt wird. Bei Sichelzellpatienten beugt es Blutgerinnseln (Thromben) vor und senkt somit das Risiko einer Schmerzkrise oder eines ATS (Beschwerden im Brustkorb). Empfohlen wird Hydroxycarbamid vor allem Kindern ab dem zweiten Lebensjahr, Jugendlichen sowie Erwachsenen, die mehr als drei Mal im Jahr unter einer Schmerzkrise leiden.
Da Schmerzkrisen bei Sichelzellpatienten häufig auftreten, sollten Schmerzmittel immer zu Hause verfügbar sein. Zumeist handelt es sich dabei um ein Schmerzmittel der Stufe 1 (Paracetamol, Ibuprofen etc.) sowie ein Schmerzmittel der Stufe 2 (Tramadol, Codein etc.). Sobald die Schmerzen während einer Schmerzkrise dennoch anhalten, kommen Infusionen mit Opiaten in Frage. Ist das Nervensystem betroffen, stehen Antiepileptika oder Präparate auf Cannabis-Basis zur Verfügung.
Bluttransfusionen werden nur unter bestimmten Umständen wie einem ATS (akuten Thoraxsyndrom), einer Milzsequestration, schweren Infektionen oder chronischen Nierenschäden eingesetzt. Einem Teil der Patienten helfen zudem Aderlässe. Diese müssen allerdings immer mit dem behandelnden Arzt abgesprochen werden.
In Bezug auf den Alltag sollten Sichelzellpatienten darüber hinaus stets auf eine ausreichende Trinkmenge achten. Sie sollten Alkohol, Nikotin sowie Kälte meiden und bei jedem Infekt ihren behandelnden Arzt aufsuchen, um schwerwiegenden Komplikationen und Folgeschäden vorbeugen zu können.
Eine Sichelzellkrankheit konnte bisher bei einigen Betroffenen mit Hilfe einer Stammzellentransplantation geheilt werden. Als Spender kommen hierfür allerdings ausschließlich Familienspender in Frage, bei denen es sich in erster Linie um gesunde und kompatible Geschwisterkinder handelt. Idealerweise erfolgt eine solche Stammzellentransplantation im Kleinkindalter. Die Erfolgsrate liegt bei etwa 90 Prozent. Transplantationen mit Fremdspendern befinden sich noch im experimentellen Stadium.
Für alle anderen Betroffenen ist die Lebenserwartung ohne Heilung abhängig von der medizinischen Versorgung. In den Industrieländern erreichen heute die meisten Sichelzellpatienten das Erwachsenenalter. Die mittlere Lebenserwartung liegt derzeit bei 48 Jahren (Frauen) beziehungsweise 42 Jahren (Männer).
Da es sich um eine genetische Erkrankung handelt, kann einer Sichelzellkrankheit nicht vorgebeugt werden.
Für weitere Informationen empfiehlt sich die Interessengemeinschaft IST e.V. - hier finden sowohl Betroffene der Sichelzellkrankheit als auch Betroffene einer Thalassämie Ansprechpartner sowie detaillierte Informationen über die Erkrankung:
http://www.ist-ev.org
Außerdem hilfreich ist der aktuelle Leitfaden zur Betreuung von Sichelzellpatienten. Die Website enthält neben dem Leitfaden ebenfalls detaillierte Informationen für Betroffene und Familienangehörige:
http://www.sichelzellkrankheit.de/
Letzte Aktualisierung am 01.11.2022.