Prof. Zieglgänsberger: Akute Schmerzreize vermitteln offensichtlich wichtige Warnsignale, um Schädigungen zu vermeiden. Sie sind für das Überleben eines Organismus sehr wichtig. Menschen, die aufgrund eines Gendefekts dieses System nicht adäquat aktivieren können, sind sehr gefährdet. Akute Schmerzreize sind ein sehr bedeutendes Steuerungssignal und sollte besser nicht als „akuter Schmerz“ sondern als „Nozizeption“, bezeichnet werden, also einer Funktion des Nervensystems über die wir lernen, welche Dinge schädlich für uns sind und wie wir sie vermeiden können.
Im Gegensatz dazu ist chronischer Schmerz nicht biologisch relevant und darf offensichtlich nicht als länger anhaltender Akutschmerz betrachtet werden. Obwohl chronischer Schmerz langanhaltende Erinnerungsspuren im Gehirn hinterlässt und emotional sehr belastend ist, gibt es keinen biologischen Sinn dafür. Chronischer Schmerz scheint sich zu einer eigenen Krankheit, entwickelt zu haben.
Mit Inkrafttreten der ICD-11, einer neuen Klassifikation von Krankheiten zum 1. Januar 2022, wird chronischer Schmerz endlich nicht mehr nur als Symptom gesehen, sondern wird zu einer eigenständigen Kategorie. Chronischer Schmerz erfordert immer eine spezifische diagnostische Evaluation, Therapie und Rehabilitation. Der bio-psycho-soziale Hintergrund des Patienten muss stets berücksichtigt werden.
Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer klarer, dass das Gehirn somatische, also körperlich ausgelöste, und psychische Schmerzen in sehr ähnlichen Hirnstrukturen verschaltet. Dies sind Ergebnisse, die von großer Bedeutung für die Wissenschaft und auch wesentlich für die Therapie sind. Beide Schmerzformen sind quälend und spielen eine wichtige Rolle für neuartige Therapieansätze. Ein Patient mit chronischen Schmerzen leidet durch die Erwartung von wiederkehrenden Schmerzen. Selbst wenn er im Moment schmerzfrei ist, weiß er, dass das sein Schmerz zurückkehren wird, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt. Dies ist äußerst frustrierend und führt zu einem Dauerstress. In Deutschland haben wir leider immer noch Patienten, die mehrere Jahre lang suchen müssen, bevor sie eine geeignete Therapie bekommen.
Ein Patient mit chronischen Schmerzen leidet durch die Erwartung von wiederkehrenden Schmerzen.
Prof. Zieglgänsberger: Wichtig ist, ob die Ursache für die Schmerzen klar erkennbar erscheint und für jedermann plausibel ist. Wenn ein Patient sich frustriert, ängstlich und traurig fühlt und diese Ängstlichkeit auch zeigt, neigen wir sehr rasch zur Diagnose Hypochondrie, Die Symptome werden dann oft nicht ernst genug genommen oder sogar ignoriert. Bei multimodalen Therapieansätzen ist es aber unbedingt notwendig, diese emotionalen Komponente zu berücksichtigen.
Info: Ein multimodales Behandlungsprogramm kombiniert verschiedene Behandlungsmethoden. Es wird den Bedürfnissen und Lebensumständen der Patienten angepasst. Wichtige Bestandteile dieser Form der Schmerztherapiesind Bewegung und psychotherapeutische Verfahren.
Die derzeit übliche Therapie mit akut wirkenden Analgetika sollte möglichst frühzeitig mit einem therapeutischen Ansatz gegen Stress und Angst kombiniert werden. Sowohl psychischer als auch somatischer Schmerz rufen gleichermaßen Leidensdruck bei Patienten hervor. Wenn sich Patienten nicht ausreichend behandelt oder angenommen fühlen, kann der psychische Schmerz sogar dominanter erscheinen als der somatische. Das ist beispielsweise bei Patienten der Fall, die an vielen Stellen Schmerzen haben oder bei Patienten, die in verschiedenen Körperbereichen immer wieder Schmerzen empfinden. Nach einer gewissen Zeit klagen sie nur noch über Schmerzen, ohne zu beschreiben, wo der Schmerz ursprünglich entstanden ist.
Prof. Zieglgänsberger: Heute erforschen wir, wie sich Erinnerungsspuren im Gehirn einprägen, wie sich diese Prozesse in neuronalen Netzen festsetzen und sich Erinnerungen bilden. Man kann heute Erfahrungen, die viele Ärzte über Jahre hinweg gemacht haben, mit molekularbiologischen Methoden und bildgebenden Techniken wissenschaftlich untermauern. Es war kaum eine große Überraschung als chronischer Schmerz mit chronischem Stress in zahlreichen Auswirkungen offensichtlich übereinstimmten.
Prof. Zieglgänsberger: Auch bei chronischen Schmerzen, bei denen kein Auslöser mehr erkennbar ist, ist es wichtig die klassische Schmerztherapie nicht zu vernachlässigen aber auch eine zusätzliche (add-on) Therapie gegen den psychischen Anteil des Schmerzes zu beginnen. Nur wenige der gängigen Schmerzmittel sind in der Lage, die Angst und die sich steigernde Frustration des Patienten nachhaltig zu mildern.
Wenn Betroffene über Monate oder Jahre hinweg wegen erfolgloser Therapieversuche immer wieder feststellen, dass der Schmerz erneut auftritt, entwickeln sie eine frustrierte Erwartungshaltung, auch häufig gegenüber dem Arzt, bei dem sie Hilfe durch die Verabreichung von akut wirksamen Medikamenten erfahren. Eine Schmerztherapie sollte also stets eine Kombination von Therapieformen sein, die sowohl somatische Schmerzen als auch psychische schmerzverstärkende Einflüsse reduzieren. Zu den neuen Möglichkeiten, gehören neuerdings auch medizinisch genutzte Cannabinoide, die heute dazu bereits in neuartigen Zubereitungen zur Verfügung stehen.
Eine Schmerztherapie sollte also stets eine Kombination mit zusätzlichen Therapieformen sein...
Prof. Zieglgänsberger: Früher wurden neben kurzfristig analgetisch wirkenden Medikamenten nur Meditation, Akupunktur, Yoga, Entspannung und ähnliches angewendet. Heute wissen wir jedoch, dass Medikamente, die nur Angst lösen und dabei Müdigkeit verursachen, unzureichend sind, um das Gehirn beim sog. Re-learning zu unterstützen, einer Therapie bei der durch neue positive Erinnerungen frühere aversive Erinnerungen überlagert werden. Es gilt, die angstgeprägte Informationsverarbeitung im Gehirn zu überschreiben. Dieser Zusammenhang lässt sich aufgrund von Daten aus der Grundlagenforschung, die ein außerordentlich weitverbreitetes, körpereigenes System - das sogenannte Endocannabinoid-System - erforscht, bereits vermuten. Es ist wichtig, dass ein Patient, der sich weniger ängstlich fühlt, in seinen kognitiven Möglichkeiten nicht eigeschränkt wird.
In einer großangelegten Studie mit dem Namen DISCOVER gegen chronische Schmerzen unter der Federführung des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München und unter Mitarbeit von 50 Prozent deutscher und österreichischer Universitätskliniken sowie weiteren renommierten Schmerzzentren wird weiter untersucht, welche klinisch wichtigen Effekte sich beim Einsatz eines Nano Endocannabinoid-System Modulators mit der Wirkstoffbezeichnung Adezunap ergeben. In dieser Studie werden an mehr als 2000 Patienten die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Adezunap über ein ganzes Jahr im Vergleich zur Standardtherapie bei chronischen Schmerzen und Placebo untersucht. Wir hoffen, viele Patienten zu rekrutieren, die an dieser Untersuchung teilnehmen und so von einem neuartigen multimodalen Therapieansatz profitieren möchten. (https://www.mri.tum.de/discover-studien).
Prof. Zieglgänsberger: Seit etwa einem halben Jahrhundert wissen wir, dass das Nervensystem sensitiver reagiert, wenn es wiederholt gereizt wird. Ein Reiz, der zuvor nur eine leichte Reaktion ausgelöst hat, wird effektiver, wir sprechen von Konditionierung oder neuronaler Plastzität.
Es wurde bald klar, dass hier etwas Langanhaltendes im Nervensystem passiert. Heute wissen wir aus der molekularbiologischen Forschung, dass es im Nervensystem dabei nicht nur zu funktionellen, sondern auch zu strukturellen Veränderungen kommt (Schmerzgedächtnis). Diese Veränderungen können wir mittels Bildgebung nachweisen und sehen, dass Stress und Schmerz zu massiven Veränderungen führen. Das Gehirn reagiert nachhaltig, ohne dass ein weiterer akuter Stress als Auslöser notwendig ist, um es zu aktivieren.
Unsere Forschung ist derzeit auf Affektstörungen ausgerichtet und verfolgt das Ziel, die multimodale Therapie weiterzuentwickeln und zu optimieren und um einige dieser Ansätze wissenschaftlich zu untermauern. Cannabis könnte eine Option sein, um etwas gegen Angst bei chronischen Schmerzen zu unternehmen.
Prof. Zieglgänsberger: Die Schmerztherapie wird sich durch die neuen Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung verändern. Man wird sich vermehrt auf die affektiven Wirkungen von chronischem Schmerz fokussieren und nicht mehr so sehr auf den somatischen Schmerz, der bisher im Vordergrund stand. Die Erfolge der multimodalen Therapie werden zu diesen Veränderungen beitragen. Ein bereits anerkanntes angstlösendes Medikament aus der Gruppe der Cannabinoide könnte beispielsweise bald auch in der Lage sein, gegen die Angst im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen im klinischen Alltag eingesetzt zu werden.
Prof. Zieglgänsberger: Die Medizin ging lange Zeit davon aus, dass Kinder Schmerzen schnell vergessen. Es ist aber wichtig zu beachten, dass die Gefahr besteht, ein langfristiges Gedächtnis niederzulegen, welches nur schwer erforscht werden kann, da direkte Untersuchungen dazu nicht durchführbar sind. Obwohl das Schmerzgedächtnis bei Kindern noch nicht neurobiologisch sicher erforscht ist, müssen wir davon ausgehen, dass es auch bereits in diesem Alter aktivierbar ist. Daher ist es wichtig, die Therapie kindlicher Schmerzen ernst zu nehmen und nicht einfach abzuwarten.
Wir sollten darauf achten, dass sich Schmerzerfahrungen nicht dauerhaft im Gehirn festsetzen und nach einer sorgfältigen Diagnose rechtzeitig eine wirksame Therapie einleiten. Bei Kindern besteht zusätzlich zur Schmerzempfindung auch noch eine große Hilflosigkeit, die bei Schmerzen die Angst verstärkt. Kinder klagen beispielsweise auch über Kopfschmerzen wie ihre Bezugspersonen. Dann wird aber oft angenommen, dass das Kind nur das Verhalten imitiert und das Ganze als Lernprozess zu betrachten ist. Man muss aber davon ausgehen, dass Kinder auch unter Schmerzen leiden, die sie möglicherweise nicht äußern können. Es ist von großer Bedeutung, dass dies ernst genommen wird, da sich eine Sensibilisierung auf das Verhalten der Kinder im Jugend- und Erwachsenenalter auswirken kann.
Wir sollten darauf achten, dass sich Schmerzerfahrungen nicht dauerhaft im Gehirn festsetzen...
Prof. Zieglgänsberger: Zahlen der Deutschen Schmerzgesellschaft sprechen von 4 bis 5 Millionen Patienten, bei denen chronischer Schmerz eine eigenständige Erkrankung ist und die derzeit keine ausreichende therapeutische Behandlung erfahren. Die FDA und EMA haben chronischen Schmerz als "unmet medical need" deklariert, also eine Indikation mit unerfülltem therapeutischem Bedarf.
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 zeigte, dass 78% der Patienten, die unter chronischen Schmerzen leiden, mit ihrer derzeitigen Behandlung unzufrieden sind, da sie entweder zu starke Nebenwirkungen verursacht oder die Schmerzreduktion zu gering ist.
Bei meinen Vorträgen betone ich stets, dass es primär egal ist, ob es sich um 4 Millionen, 5 Millionen oder „nur“ um 500.000 Menschen handelt, die unter chronischen Schmerzen leiden, es sind auf jeden Fall zu viele! Wir können vielen davon helfen, diese Qual zu lindern, die sie ertragen müssen. Jeder einzelne Patient, dem keine adäquate Therapie angeboten wird, ist einer zu viel.
Wir verfügen heute über Therapiealgorithmen, mit denen wir in das Schmerzgeschehen eingreifen können. Auch in Zukunft wird es nicht immer möglich sein den chronischen Schmerz vollkommen zum Verschwinden zu bringen, aber die Lebensqualität lässt sich meist erheblich verbessern. Die von uns bisher verordneten Medikamente reduzieren Schmerzen meist nur vorübergehend. Kehrt der Schmerz zurück, frustriert es den Patienten und macht ihn ängstlicher. Die Angst überlagert zunehmend den Schmerz und verschlimmert somit die chronische Schmerzbelastung.
Ein gesunder Mensch würde einen akuten Schmerz nur kurz wahrnehmen, z.B. die Hand von der heißen Herdplatte zurückziehen und dabei aber nicht ängstlich werden. Wenn man jemandem aber die Hand auf eine Herdplatte legt oder in die Nähe einer heißen Herdplatte hält, nachdem er weiß, dass er da nicht hinfassen darf, ist das eindeutig eine Form von Folter. Es ist interessant zu sehen, dass chronische Schmerzpatienten und Opfer von Folter Gemeinsamkeiten haben und dass die Behandlung von stressinduzierten Erkrankungen auch Ähnlichkeiten mit der Behandlung von Schmerzen aufweist.
Die Bedeutung der Erwartungsangst wird besonders deutlich bei Masochisten, die den Schmerz quasi suchen und nach Belieben ausschalten können. Sie entwickeln kein quälendes Schmerzgedächtnis, da keine Angst entsteht. Das Fortschreiten der Chronifizierung des Schmerzgeschehens beruht auf einer funktionellen und strukturellen Änderung an Nervenzellen im Gehirn als Folge wiederholter unkontrollierbarer schmerzhafter Reize und kann somit zu einem quälenden Zustand der Erinnerung (Schmerzgedächtnis) in diesem Patienten führen. Angst und Schmerz werden im Gehirn miteinander verknüpft und erzeugen eine dauerhafte Erwartungshaltung.
Angst und Schmerz werden im Gehirn miteinander verknüpft und erzeugen eine dauerhafte Erwartungshaltung.
Vielen Dank für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 09.11.2023.