Prof. Hagmann: Nun, wie bei allen Eltern, die Ihre Kinder bei uns vorstellen und sich Sorgen machen, versuchen wir sie erst einmal zu beruhigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass hinter den Rückenschmerzen ihres Kindes nämlich eine „schlimme“ Erkrankung, also ein bösartiger Tumor, eine Infektion, oder ähnliches steckt, ist nämlich sehr gering. Natürlich gehen die Überlegungen aber dennoch sofort los: je nach Alter des Kindes (also insbesondere, wenn das Kind jünger als vier Jahre ist und mit Rückenschmerzen vorgestellt wird) und sonstiger Symptome (Fieber, Gewichtsverlust und ähnliches) erfolgt zusammen mit der dann notwendigen ausführlichen Anamnese und Untersuchung eine Risikobewertung. Dazu gibt es im Übrigen auch eine Leitlinie, an der wir Ärzte uns orientieren können: die S3 Leitlinie Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen.
Prof. Hagmann: Diese Leitlinie hat in der Praxis über viele Jahre gefehlt und ist erst vor wenigen Jahren, Ende 2021, erschienen. Auf der anderen Seite haben sicherlich mehrere Faktoren dazu beigetragen, dass diese Leitlinie im Gegensatz zu entsprechenden Leitlinien des Erwachsenen erst jetzt vorliegt.
Zum einen gibt es grundsätzlich deutlich weniger Studien zum Thema Rückenschmerzen bei Kindern als bei Erwachsenen, weil sie insgesamt deutlich seltener sind als beim Erwachsenen. Wenn man ältere Lehrbücher in die Hand nimmt, so liest man dort, dass Rückenschmerzen bei Kindern immer ein Grund zur Beunruhigung sind, da Kinder deutlich seltener unter unspezifischen Rückenschmerzen leiden als Erwachsene. Zum Vergleich: etwa 80% aller Erwachsenen hatten schon einmal Rückenschmerzen, aber nur ungefähr 3% aller 3- bis 6-jährigen. Allerdings zeigt sich aber in den vergangenen Jahren ein deutlicher Trend hin zu einer Häufung unspezifischer Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen.
Somit ist das Thema schlichtweg auch in der Praxis relevanter geworden. Immerhin war die Leitlinie ja auch seit 2017 in der Planung und die Autoren haben sich viel Arbeit damit gemacht, trotz der widersprüchlichen Datenlage einen möglichst evidenz-basierten Konsens darzustellen. Was die negativen Konsequenzen anbetrifft, so haben auch diese deutlich zugenommen, lassen sich aber noch schwerer fassen und vor allem quantifizieren. Kinderärzte und Orthopäden berichten alle von einer deutlichen Zunahme in den vergangenen Jahren.
Ich denke, es spricht für sich, dass die entsprechenden Studien, die negative Auswirkungen der Rückenschmerzen für den Alltag von Kindern und Jugendlichen nachweisen, fast alle nicht viel älter als 10 Jahre alt sind. Hier gibt es noch einiges an Arbeit zu tun.
Zum einen gibt es grundsätzlich deutlich weniger Studien zum Thema Rückenschmerzen bei Kindern als bei Erwachsenen, weil sie insgesamt deutlich seltener sind als beim Erwachsenen.
Prof. Hagmann: Als Mediziner lernt man glücklicherweise früh, sich die relevanten Informationen zu verschaffen, auch ohne einen solchen Text vollständig lesen zu müssen. Sicherlich mag das für den einen oder anderen erst einmal abschreckend wirken, auf der anderen Seite erlaubt die Gliederung, die Leitlinie auch quer zu lesen, um bei Bedarf zum Beispiel auf sehr seltene spezifische Ursachen für Rückenschmerzen bei Kindern wieder zurückzukommen. Ich denke, es war den Autoren wichtig, eine möglichst vollständige Leitlinie zu verfassen. Gut ist vor allem, dass es endlich eine Leitlinie gibt, die allen zugänglich ist.
Prof. Hagmann: Man hat sich bemüht, möglichst alles, was es zum Thema gibt, auch in die Leitlinie einfließen zu lassen. Die mit der Leitlinie zusammen veröffentlichten Evidenz-Tabellen ermöglichen eine gute Einsicht in die Datenlage. Auch dass man über mehrere Fachgesellschaften hinweg einen Konsens erreichen konnte, bewerte ich sehr positiv.
Prof. Hagmann: Die Literatur zu Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen ist leider alles andere als eindeutig. Einige Studien widersprechen sich direkt, bei anderen fällt die Bewertung schwer. Wie zweckdienlich es also ist, bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen Leistungssport und weibliches Geschlecht als Risikofaktor aufzuführen, weil Studien hier einen Zusammenhang herstellen konnten, bleibt fraglich.
Für mich ist es eher Ausdruck dafür, wie wenig wir noch von der Entstehung dieser Art von Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen verstehen. Es ist deswegen natürlich nicht falsch, diese Daten darzustellen, kann aber im Kontext falsch verstanden werden, insbesondere heutzutage, wo Eltern sich scheinbar mehr denn je Sorgen um Ihre Kinder und ihre Zukunft machen. An den entsprechenden Stellen der Leitlinie, wo solche Aussagen getroffen wurden, hätte ich mir vielleicht noch einen Hinweis darauf gewünscht, dass einige Zusammenhänge mangels Studien noch im Dunkeln bleiben.
Für mich ist es eher Ausdruck dafür, wie wenig wir noch von der Entstehung dieser Art von Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen verstehen.
Prof. Hagmann: Bei Kindern unter vier Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Rückenschmerzen eine spezifische Ursache haben, relativ hoch. Diesen Faktor erachtet man daher als recht wichtig. Die nächste Altersgruppe, bei der man dann genauer hinsehen sollte, sind die Kinder bis 10 Jahre. Ansonsten kann man als weitere wichtige Warnzeichen die Schmerzcharakteristik (insbesondere Nachtschmerz und konstanter Schmerz, ausstrahlende, insbesondere radikuläre Schmerzen), den zeitlichen Zusammenhang mit einem Trauma oder sportlicher Betätigung, Gewichtsverlust und Fieber, sowie eine auffällige neurologische Untersuchung aufzählen.
Da hört es natürlich nicht auf! In der Leitlinie sind die wichtigsten red flags daher noch einmal in einer Tabelle (Tabelle 18) zusammengefasst worden, was ich sehr gut finde. In der Praxis dienen diese red flags allerdings auch nur zur schnellen Orientierung. Gerade weil sich durch eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung sowohl die Notwendigkeit einer weiterführenden Diagnostik, aber auch erste differentialdiagnostische Überlegungen zu spezifischen und unspezifischen Rückenschmerzen ergeben, kann die Bedeutung dieser Maßnahmen nur noch einmal unterstrichen werden.
Prof. Hagmann: Warum Mädchen häufiger Rückenschmerzen zu haben scheinen, kann man nur mutmaßen. Möglicherweise spielt eine Rolle, dass Mädchen in der körperlichen Entwicklung gleichaltrigen Jungen um ungefähr ein bis zwei Jahre voraus sind. Da sich eine klare Altersabhängigkeit zeigen lässt- also je älter, desto häufiger unspezifische Rückenschmerzen, ist wohl nicht nur das kalendarische Alter, sondern auch die körperliche Entwicklung von Bedeutung, also mehr im Sinne: je erwachsener der Körper, desto häufiger sind unspezifische Rückenschmerzen.
Das würde dann auch erklären, warum ältere Jugendliche mehr betroffen sind. Die Verteilung legt das nahe: deutsche Daten zeigten, dass zwischen 3 und 6 Jahren ca. 3%, zwischen 7 und 10 ca. 7%, zwischen 11 und 13 schon ca. 18%, und zwischen 14 und 18 ca. 44% Rückenschmerzen erfahren haben.
Prof. Hagmann: Ehrlich gesagt hat mich das nicht sehr überrascht: erstens sind Kinder keine kleinen Erwachsenen, bei denen alles genau so funktioniert wie bei den Großen, nur in klein. Das kennen wir aus der Medikamentenforschung. Der kindliche Körper funktioniert anders, wächst noch, und ist im Gegensatz zum Erwachsenen in manchen Belangen auch deutlich mehr zur Anpassung in der Lage (das wird z.B. bei der Frakturheilung deutlich). Da man auch gar nicht genau weiß, wie unspezifische Rückenschmerzen funktionieren, kann man also auch nicht so einfach eine oder mehrere „einfache“ Ursachen dafür verantwortlich machen.
Auf der anderen Seite ist es aber auch unheimlich schwierig, bei so etwas variablem, wie der Schultasche oder körperlicher Bewegung, eindeutige Effekte herauszuarbeiten und das drückt sich in der zitierten Studienlage ja auch aus. Und manchmal ist es so, dass man mit dem „common sense“ auch einfach nicht richtig liegt. Viele medizinische Mythen haben sich ja auch als unwahr herausgestellt, obwohl sie über Generationen weitergegeben wurden: das Fingerknacken schädlich sei, oder die Nase hochzuziehen. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, diese Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen.
In diesem Zusammenhang konnten bei den psychosozialen Faktoren etwas mehr Zusammenhänge herausgearbeitet werden. Das scheint bei den unspezifischen Rückenschmerzen auch tatsächlich wichtiger zu sein. Auch hier möchte ich aber auch gerne noch mal meine Aussage von vorhin wiederholen: bei Kindern und Jugendlichen sind auch diese Faktoren bei weitem nicht so gut untersucht wie bei Erwachsenen. Somit empfiehlt die Leitlinie auch weitere Studien.
Da man auch gar nicht genau weiß, wie unspezifische Rückenschmerzen funktionieren, kann man also auch nicht so einfach eine oder mehrere „einfache“ Ursachen dafür verantwortlich machen.
Prof. Hagmann: Das ist eine schwierige Frage. Zum einen muss man die Entstehung dieser Schmerzen als einen multifaktoriellen Prozess verstehen. Es ist also anders, als wenn man sich stößt, verbrennt, sich etwas bricht. Das wären ja auch alles spezifische Ursachen. Die spezielle Warnfunktion, die Schmerz im Körper hat, ist hier etwas komplizierter. Offensichtlich prädisponieren bestimmte Risikofaktoren für die Entstehung dieser Schmerzen, bei denen im Regelfall auch keine organischen Korrelate in der Diagnostik nachweisbar sind, was natürlich keineswegs heißt, dass diese Schmerzen nicht „echt“ sind.
Vermutlich sind die eindeutig identifizierten z.B. psychosozialen Risikofaktoren für die Entstehung unspezifischer Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen wie geringe Lebenszufriedenheit, Ängstlichkeit, Depressivität und geringer Selbstwert auch nur die Spitze des Eisbergs. Besonders wichtig ist diese Art von Schmerz auch daher, weil er sich zu chronischem Schmerz entwickeln könnte. Ergänzt man die oben genannten psychosozialen Faktoren um regelmäßiges Rauchen und weibliches Geschlecht, hat man darüber hinaus auch schon alle gesicherten Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf.
Prof. Hagmann: Chronische Schmerzen können unter anderem als Verarbeitungsstörung interpretiert werden. Es existieren zahlreiche Theorien, wie diese Schmerzen entstehen, und wie sie unterhalten werden. Hinsichtlich der psychosozialen Risikofaktoren für eine Chronifizierung der Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind diese nur ein Baustein in der komplexen Entstehung. So ist die Schmerzschwelle bei depressiven Erkrankungen in der Regel herabgesetzt.
Ängstlichkeit führt zu einer Verhaltensänderung als Reaktion auf die Schmerzen, die wiederum die Entstehung chronischer Schmerzen begünstigt, usw. Beim Erwachsenen sind diese Faktoren noch etwas besser herausgearbeitet worden, es bleibt zu hoffen, dass dies in der Zukunft auch für Kinder und Jugendliche möglich wird. In jedem Fall gehört die Behandlung chronischer Schmerzen auch bei Kindern und Jugendlichen in die Hände von Spezialisten, die dem multifaktoriellen Geschehen mit multimodalen Ansätzen begegnen.
Prof. Hagmann: Es wird zu oft bildgebende Diagnostik angefordert, ohne dass vorab durch eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung erste differentialdiagnostische Überlegungen in die Entscheidungsfindung einfließen. Das betrifft dann nicht nur, ob, sondern auch welche Diagnostik durchgeführt werden sollte. In Zeiten einer immer höheren Verdichtung der Arbeit im Gesundheitswesen kommt meines Erachtens nach die «ärztliche Kunst» der Anamnese und Untersuchung häufig zu kurz und wird durch zu viel Diagnostik ersetzt. Hier kann man gut herausarbeiten, ob eher spezifische oder unspezifische Rückenschmerzen vorliegen.
Zu einer gründlichen Anamnese gehört dann auch ein Abfragen möglicher psychosozialer Faktoren. Die Leitlinie ist auch hier recht eindeutig: bei Fehlen von Hinweisen auf spezifische Ursachen und das Vorliegen bestimmter psychosozialer Faktoren ist eine erweiterte psychologische Diagnostik indiziert.
Zu einer gründlichen Anamnese gehört dann auch ein Abfragen möglicher psychosozialer Faktoren.
Prof. Hagmann: Hauptsächlich bei den unspezifischen Rückenschmerzen werden psychosoziale Faktoren zunächst einmal oft zu wenig gewürdigt. Auch müssen bereits chronifizierte Schmerzen völlig anders angegangen werden als noch nicht chronifizierte. In diesem Sinne würde ich auch gar nicht sagen, dass bei der Therapie Fehler gemacht werden, sondern dass den Ärzten im niedergelassenen Bereich und in der Klinik schlichtweg von Berufs wegen zu wenig Zeit bleibt, um sich so um die Patienten zu kümmern, wie es sich gehören würde. Und dass das zu einer Verzögerung der richtigen Diagnostik und Therapie, bzw. auch einer zu großen Latenz führt, bis die Patienten bei der Stelle sind, die für die Behandlung spezialisiert ist.
Prof. Hagmann: Natürlich, und das ist ja auch verständlich. Allerdings sind auch die Eltern so unterschiedlich wie die Kinder und Jugendlichen, mit denen sie sich vorstellen. Das gehört im Übrigen auch dazu, die Eltern müssen mitbehandelt werden.
Prof. Hagmann: Die medikamentöse Therapie sollte mit wenigen Ausnahmen für akute Schmerzen und spezifische Ursachen reserviert bleiben. Die Auswahl des Präparates hängt dann von Ursache und Schmerzstärke ab. Umgekehrt wird eine medikamentöse Therapie bei chronischen oder wiederkehrenden unspezifischen Schmerzen nicht empfohlen.
Prof. Hagmann: Zunächst einmal wurden zum interessanten Thema Prävention von Rückenschmerzen in der S3-Leitlinie zahlreiche Studien angeführt, die aber deutliche methodische Schwächen aufweisen. Letztlich stammen diese beiden genannten Empfehlungen daher, dass die wenigen Studien, die methodisch nicht so schwach daherkommen, entweder bei einem Programm mit Edukation und Bewegungsübungen oder aber bei regelmäßiger sportlicher Aktivität ein geringeres Auftreten von Rückenschmerzen nachweisen konnten. Die Autoren der Leitlinie verweisen aber auch darauf, dass die Datenlage in dieser Hinsicht ziemlich dünn ist.
Die unterschiedlichen Altersgruppen der Studien, die den scheinbaren Widerspruch um die sportliche Aktivität zu Tage fördern, die methodischen Unterschiede, all das macht sicher einen Teil aus. Auf der anderen Seite kommen die Autoren der Leitlinie trotz der sehr widersprüchlichen Datenlage für moderate sportliche Aktivität auch in der Risikobewertung zum Schluss, dass dies einen Schutzfaktor darstellt. Für mich zeigt das Beispiel wieder einmal, wie wenige eindeutige Daten wir zum Thema eigentlich erst haben, und wie methodisch schwierig es ist, diese Zusammenhänge zu untersuchen.
Prof. Hagmann: Wir leben in einer Zeit, in der Informationen - auch zu medizinischen Themen - in kürzester Zeit für alle zugänglich sind. Leider lässt sich in der Flut von Information nicht immer sicher sagen, wie valide bestimmte Aussagen zu diesen Themen sind und oft wird mit der Interpretation von Information Missbrauch betrieben. Bleiben Sie daher kritisch und prüfen Sie möglichst Quellen, anstatt sich auf Meinungen zu verlassen. Das kostet Zeit und Mühe, aber bewahrt vor Fehlentscheidungen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 28.06.2024.