Prof. Stengel: Das Reizdarmsyndrom ist eine sogenannte funktionelle Störung des Verdauungstraktes, welches eine Vielzahl von Symptomen zeigen kann, welche auf den Darm bezogen sind. In der Psychosomatik sprechen wir auch von somatoformen Störungen. Dies bedeutet, dass die Erkrankung sich mit somatischen Symptomen äußert, alleinig somatisch aber nicht erklärt werden kann.
Gemäß der Deutschen Leitlinie wird das Reizdarmsyndrom wie folgt definiert:
Wenn Symptome bestehen wie Stuhlgangveränderungen, Schmerzen, Blähungen oder Aufgeblähtsein und diese sowohl vom Patienten als auch vom Arzt auf den Darm bezogen werden, diese länger als 3 Monate anhalten, die Lebensqualität einschränken und keine für die Symptome organisch erklärende Ursache gefunden werden kann.
Wenn diese Definitionskriterien zutreffen, sollte das Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden. Generell gilt, dass nicht erst im Sinne der Ausschlussdiagnostik zuletzt an das Reizdarmsyndrom gedacht wird, sondern dieses differenzialdiagnostisch bereits initial als Erkrankung mitbedacht und durchaus auch frühzeitig als Verdacht dem Patienten gegenüber geäußert wird.
Prof. Stengel: Die Symptome können vielfältig sein und letztendlich die gesamte Palette der Magen- und Darmsymptome umfassen. Dennoch gibt es Warnsymptome wie Blut im Stuhl, Gewichtsverlust, nächtliche Beschwerden, ein sehr rapider Verlauf, etc., welche differenzialdiagnostisch zuerst an andere Erkrankungen wie z.B. chronisch entzündliche Darmerkrankung oder auch bösartige Erkrankung denken lassen sollten. Dennoch ist zu sagen, dass nach Ausschluss dieser anderen Erkrankungen die Symptome durchaus auch im Rahmen eines (schweren) Reizdarmsyndroms auftreten können.
Prof. Stengel: Das ist eine gute Frage. Die aktuellen Daten weisen darauf hin, dass das Reizdarmsyndrom weltweit mit einer Prävalenz (Häufigkeit) von etwa 10 % in der erwachsenen Bevölkerung auftritt. Geographische Unterschiede kommen vor allen Dingen durch unterschiedliche Definitionen zustande, weniger durch den Lebensstil per se. So nehmen wir auch in Deutschland eine Prävalenz von um die 10 % an, was das Reizdarmsyndrom zu einer häufigen Erkrankung in der erwachsenen Bevölkerung macht. Interessanterweise zeigte eine neue Auswertung von Krankenkassendaten, dass das Reizdarmsyndrom bei etwa 2 % der Bevölkerung vorliegt. Dies heißt aber nicht, dass diese Erkrankung bei uns seltener vorkommt, sondern weist darauf hin, dass das Reizdarmsyndrom in Deutschland zu selten diagnostiziert und damit sehr wahrscheinlich auch zu selten behandelt wird.
So nehmen wir auch in Deutschland eine Prävalenz von um die 10 % an, was das Reizdarmsyndrom zu einer häufigen Erkrankung in der erwachsenen Bevölkerung macht.
Prof. Stengel: Das Reizdarmsyndrom kann letztendlich in jedem Lebensalter auftreten, auch Kinder können bereits vom Reizdarmsyndrom betroffen sein. Dennoch finden wir einen kleinen Häufigkeitsgipfel zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Es gibt eine Vielzahl von Risikofaktoren, welche auf der biologischen aber auch auf der psychosozialen Ebene zu finden sind. Biologisch sind z.B. stattgehabte Infektionen zu nennen, hier spricht man dann vom postinfektiösen Reizdarmsyndrom. Auch andere Erkrankungen des Magen-Darm Traktes, welche dann im Verlauf wieder ausgeheilt sind, können prädisponierend für ein Reizdarmsyndrom wirken. Nicht zuletzt spielen auch genetische Faktoren in der Empfänglichkeit für ein Reizdarmsyndrom eine Rolle. Auf der psychosozialen Ebene sind ungünstige Lebensbedingungen, chronische Stressoren, schwere Lebensereignisse aber auch Traumatisierungen zu nennen.
Prof. Stengel: Das ist eine gute Frage, welche zum jetzigen Zeitpunkt nicht umfänglich oder abschließend beantwortet werden kann. Wir wissen mittlerweile, dass das Darmmikrobiom eine wichtige Rolle - nicht nur in der Zersetzung des Speisebreis - hat, sondern direkt oder über nachgeschaltete Prozesse auch Magen- und Darmfunktionen reguliert und über die Mikrobiom-Darm-Gehirn-Achse durchaus auch in andere Funktionen wie auch die Regulation von Hunger und Sättigung und sogar in psychische Prozesse involviert ist. Vor diesem Hintergrund nimmt man im Sinne des biopsychosozialen Entstehungsmodells des Reizdarmsyndroms auch eine Rolle des Mikrobioms in der Entstehung und Aufrechterhaltung des Reizdarmsyndroms an, allerdings als einer von multiplen Faktoren. Nicht zuletzt spielt damit auch die Beeinflussung des Mikrobioms z.B. mittels Gabe von Probiotika mittlerweile eine Rolle in der Therapie des Reizdarmsyndroms.
Prof. Stengel: Auch diese Frage ist nicht abschließend beantwortbar. In der Tat sehen wir, dass das Reizdarmsyndrom bei Frauen etwa 2-3 mal häufiger vorkommt als bei Männern. Dies könnte durchaus mit dem hormonellen Status der Frauen zu tun haben, welcher dann eine besondere Empfindlichkeit des Gehirns für viszerale (aus dem Inneren kommende) Reize mitbedingt und damit eine veränderte (diesem Fall gesteigerte) Wahrnehmung für Darmschmerzen oder Aufgeblähtsein bahnt. Auch ist vorstellbar, dass sich Frauen mit entsprechenden Beschwerden häufiger beim Arzt vorstellen und das Reizdarmsyndrom bei Frauen damit auch häufiger diagnostiziert wird.
Prof. Stengel: Das biopsychosoziale Modell meint das Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren in der Entstehung und Aufrechterhaltung des Reizdarmsyndroms. Dieses ist in individueller Kombination bei jedem Patienten entsprechend wirksam und möglichst in der Erhebung der Krankengeschichte und damit auch in der sich anschließenden Therapie zu berücksichtigen. Wenn z.B. ungünstige Lebensbedingungen eine Rolle spielen, sollten z.B. Lebensstiländerungen Bestandteil der Therapie sein. Bei Vorliegen einer diätetischen Beeinflussung der Beschwerden sollten entsprechende diätetische Maßnahmen Baustein der Therapie sein. Nicht zuletzt sollten bei akuten oder chronischen Stressoren oder schweren Lebensereignissen diese auch in der Therapie berücksichtigt werden. Hier haben wir gute Daten für eine Psychotherapie bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, wenn ein schweres Krankheitsbild vorliegt, bei psychischen Begleiterkrankungen und nicht zuletzt bei Vorliegen von psychosozialen Belastungsfaktoren.
Prof. Stengel: Wir haben eine Vielzahl von Medikamenten zur symptomorientierten Behandlung. Das bedeutet, dass wir damit nicht an der Ursache der Beschwerden angreifen oder gar eine Heilung des Reizdarmsyndroms erwarten, dennoch ist es legitim und wird auch in der Leitlinie entsprechend empfohlen, dass eine symptomorientierte Medikation eingesetzt wird. So können bei entsprechenden Verstopfungsbeschwerden stuhlregulierende oder abführende Medikamente verwendet werden, bei Durchfall entsprechend stuhlandickende Medikamente und bei Schmerzen schmerz- oder krampflösende Medikamente. Auch Probiotika finden hier ihren Einsatz und adressieren häufig mehrere der oben genannten Symptome. Nicht zuletzt sind auch pflanzliche Präparate (sogenannte Phytotherapeutika) zu nennen, welche ebenfalls häufig mehrere der oben genannten Symptome beeinflussen können.
Prof. Stengel: Das Reizdarmsyndrom ist gut behandelbar, sollte jedoch auch behandelt werden. Hierbei hängt die Behandlung von der Schwere der Beschwerden, der Dauer der Beschwerden und dem Vorliegen von (häufig psychischen) Begleiterkrankungen ab. Generell gilt, je früher das Reizdarmsyndrom diagnostiziert und dann eine Behandlung angeboten wird, desto besser ist die Prognose. Bei leichter Verlaufsform reicht häufig eine Aufklärung über das Krankheitsbild (sogenannte Psychoedukation) verbunden mit einem gesunden Lebensstil, um Beschwerden deutlich zu verbessern. Bei mittelgradigen Verlaufsformen kommen häufig medikamentöse und diätetische Therapiebausteine, gegebenenfalls verbunden mit dem Erlernen von Entspannungsverfahren, dazu. Bei schweren Verlaufsformen werden diese Bausteine dann häufig um eine Psychotherapie erweitert.
...je früher das Reizdarmsyndrom diagnostiziert und dann eine Behandlung angeboten wird, desto besser ist die Prognose.
Prof. Stengel: Darm und Gehirn kommunizieren sehr eng miteinander und sind über die Darm Gehirnsachse miteinander verbunden. Diese Kommunikation findet auf nervaler aber auch hormoneller (humoraler) Achse statt und geht sowohl in die Richtung Darm zum Gehirn aber nach einer entsprechenden Bewertung im Gehirn auch vom Gehirn zum Darm. Aufgrund der immer deutlicher werdenden Rolle des Mikrobioms in diesen Verschaltungsprozessen, spricht man heutzutage auch häufig von der Darmmikrobiom-Darm-Gehirn-Achse.
Prof. Stengel: Das Reizdarmsyndrom, vor allen Dingen eine schwere oder lang anhaltende Verlaufsform, ist überzufällig häufig mit psychischen Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder depressiven Störungen assoziiert. Dies ist relevant in der Erhebung der Krankengeschichte und dann auch in der Behandlung der Erkrankung, da die Begleiterkrankungen maßgeblich an einer zusätzlichen Einschränkung der Lebensqualität beteiligt sind.
Das Reizdarmsyndrom,..., ist überzufällig häufig mit psychischen Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder depressiven Störungen assoziiert.
Prof. Stengel: Es wird wichtig sein, besser zu erforschen, welche Rolle das Mikrobiom in der Entstehung und Aufrechterhaltung des Reizdarmsyndroms spielt. Auch steht die Darm-Gehirn-Achse und die entsprechende Beeinflussung durch akute und chronische Stressoren weiterhin im Fokus der Forschung. Auf der Therapieebene wird es wichtig sein, besser vorher sagen zu können, welcher Patient von welchen Therapiebaustein profitiert, um den Betroffenen eine möglichst maßgeschneiderte Therapie anbieten zu können.
Prof. Stengel: In 10 Jahren werden wir besser vorhersagen können, welcher Patient welchen Therapiebaustein warum bekommen sollte. Weiterhin werden wir zielgerichteter Probiotikapräparationen in der Therapie des Reizdarmsyndroms zur symptomorientierten Therapie einsetzen können. Nicht zuletzt werden wir verbesserte und auch digital unterstützte (nicht als Ersatz des menschlichen Psychotherapeuten) Psychotherapieverfahren zur Verfügung haben, um vom Reizdarmsyndrom betroffene Menschen zu behandeln.
Vielen Dank für das Interview!
aktualisiert am 25.08.2023