Prof. Suchan: Prosopagnosie heißt übersetzt Gesichtsblindheit. Diese Personen haben Probleme andere Personen, manchmal auch sich selber im Spiegel, anhand des Gesichtes zu erkennen oder wiederzuerkennen. Prinzessin Victoria von Schweden leidet auch unter Prosopagnosie und hat wohl immer jemanden dabei, der ihr Infos zu den Personen gibt mit denen sie gerade etwas zu tun hat.
Prof. Suchan: Die Betroffenen können bis zu einem bestimmten Punkt lernen, mit den Problemen, die eine Prosopagnosie im Alltag mit sich bringt, umzugehen. Sie könne sich anhand von Frisuren oder sonstigen Merkmalen helfen, bestimmte Menschen zu erkennen. Dies hat natürlich einige Sollbruchstellen. So können sich Frisuren verändern, man kann natürlich auch Personen außerhalb des gewohnten Kontextes wiedertreffen, was unweigerlich zu Problemen führt. So können die Probleme in der Gesichterverarbeitung bis zu einem bestimmten Punkt kompensiert werden. Zu 100% gelingt dies aber nicht, weshalb es immer wieder zu Problemen oder auch seltsamen Situationen im Alltag dieser Personen kommt. Eine Erkrankung ist es nicht direkt. Bestimmte Fähigkeiten der Betroffen, d.h. das Verarbeiten und Wiedererkennen von Gesichtern, sind gestört.
Sie könne sich anhand von Frisuren oder sonstigen Merkmalen helfen, bestimmte Menschen zu erkennen.
Prof. Suchan: Sie haben meistens seit Kindes- bzw. Jugendzeit Probleme, Menschen anhand der Gesichter wiederzuerkennen. Viele durchsuchen dann das Internet und finden heraus, dass es so etwas wie Prosopagnosie als Diagnose gibt.
Prof. Suchan: Zuerst kann sich jeder einmal vorstellen wie es sein könnte, seine Mitmenschen nicht am Gesicht zu erkennen. Vielleicht ist es einfacher sich vorzustellen, Schriftzeichen einer fremden Sprache zu sehen. Sie sind mit dem Auge zu erfassen, ergeben aber keinen Sinn. So ist es wahrscheinlich mit der Gesichtsblindheit. Die Gesichter können wahrgenommen werden, sie werden aber nicht als solche verarbeitet.
Kommen wir auf das Beispiel mit den Schriftzeichen zurück. Betroffene nehmen ständig Informationen auf, die keinen sinnhaften Inhalt für sie haben. Es gibt Strategien, Menschen bzw. Gesichter wiederzuerkennen. Zum Beispiel kann besonders auf äußere Merkmale wie Haarlänge, Frisur, besondere Kleidung oder auch ein bestimmtes Parfum, das eine bestimmte Person nutzt o.ä. geachtet werden. Diese Strategien funktionieren aber nicht immer. Ein Parfum kann auch von jemandem benutzt werden, der eine Person mit einer ähnlichen Frisur wie mein Bekannter hat. So bricht dieser Ansatz sehr schnell zusammen und es zeigt deutlich, wie einzigartig die Fähigkeit ist, Gesichter zu erkennen und bestimmten Personen zuzuordnen. So kann es sein, dass Mitarbeiter einfach nicht gegrüßt werden, weil sie nicht wiedererkannt werden. Das führt häufig dazu, dass die Betroffenen als arrogant bezeichnet werden. Dies kann dann natürlich auch zu einer Ausgrenzung, aber auch einem sozialen Rückzug der Betroffenen führen.
Prof. Suchan: Grundsätzlich muss man eine angeborene Form der Gesichtsblindheit von einer erworbenen Form unterschieden. Bei der angeborenen Form geht man von einer genetischen Ursache aus. Das spezielle Gen für Gesichterverarbeitung ist aber noch nicht gefunden. Es zeigen sich aber familiäre Häufungen dieser Probleme. Bei der erworbenen Form der Prosopagnosie wurden durch einen Unfall, einen Tumor oder einen Schlaganfall die Zentren im Gehirn zerstört, die für die Gesichterverarbeitung spezialisiert sind. Als Anekdote sei auf den James Bond Film „Spectre“ verwiesen, in dem Stavro Blofeld versucht, diese Zentren bei Bond auszuschalten, damit er die Gesichter seiner früheren Freundinnen nicht mehr in seinem Gedächtnis hat und diese so nicht erinnern kann.
Grundsätzlich muss man eine angeborene Form der Gesichtsblindheit von einer erworbenen Form unterschieden.
Prof. Suchan: Prosopagnosie kann nicht behandelt werden. Die Betroffenen entwickeln meistens eigene Strategien, um mit den Problemen im Alltag umzugehen. Die einzige Behandlung besteht darin, mit den Betroffenen einen sozial-kompetenten Umgang mit diesen Problemen zu erarbeiten, d.h. die Probleme möglichst nicht zu kaschieren, sondern eher offensiv damit umzugehen und den Mitmenschen versuchen klar zu machen, dass es nicht eine Frage des Wollens sondern eine Frage des Könnens ist und man von einem Rollstuhlfahrer auch keinen Hürdenlauf erwarten würde. Prosopagnosie ist nicht heilbar sondern nur kompensierbar.
Prof. Suchan: Die meisten Betroffenen orientieren sich an besonderen äußeren Merkmalen ihrer Mitmenschen wie Gang, Frisur, eventuell Parfum, etc. Das funktioniert auch in einem Großteil der Situationen. An sich entwickelt jeder seine eigenen Strategien, da jeder eigene Vorlieben hat.
Prof. Suchan: Außenstehende können sich z.B. mit dem Namen vorstellen, sodass die Betroffenen eine Hilfestellung erhalten. Dazu können Sie Verständnis zeigen, falls sie in bestimmten Situationen nicht erkannt wurden und sollten auf keinen Fall beleidigt sein, wenn so etwas geschieht. Niemand mit Prosopagnosie ist unhöflich, wenn er seine Mitmenschen nicht grüßt. Er erkennt sie eben einfach nicht.
Niemand mit Prosopagnosie ist unhöflich, wenn er seine Mitmenschen nicht grüßt.
Prof. Suchan: "Verbindungen" kann man nicht sagen, aber bei einigen Patienten mit Autismus können Formen von Prosopagnosie beobachtet werden.
Prof. Suchan: In den letzten Jahren hat sich auf dem Gebiet der Prosopagnosie nicht viel verändert. Was wir feststellen ist, dass es immer mehr Menschen bewusst wird, dass es so etwas wie Gesichtsblindheit gibt und dass einige darüber Gewissheit haben wollen und um eine Diagnose bitten. So werden immer mehr Diagnostiken bei Kindern durchgeführt. Mit einer entsprechenden Diagnose können z.B. Lehrer und Mitschüler darüber aufgeklärt werden, dass dieses manchmal seltsame Verhalten der Betroffenen nicht falsch interpretiert wird, sondern als Folge der Prosopagnosie zu verstehen ist.
Prof. Suchan: Grundsätzlich wird weiter an den Besonderheiten in den Gehirnen der Prosopagnostiker geforscht, auch wenn diese Art der Forschung aktuell etwas an Aktualität verloren hat. Man weiß, dass es vier Zentren im Gehirn gibt, die auf die Verarbeitung von Gesichtern spezialisiert sind. Zwei, die jeweils 1x links und 1x rechts am äußeren Rand des hinteren Teil des Gehirns liegen und zwei, die eher am hinteren Teil in der Mitte des Gehirns liegen. Arbeiten haben gezeigt, dass diese miteinander verknüpften Areale alle intakt sein müssen, damit die Gesichterverarbeitung funktioniert.
Wie schon zuvor gesagt, ist das Gen, das für die Prosopagnosie wahrscheinlich verantwortlich ist, noch nicht gefunden. Wenn dieses Gen oder die Gene identifiziert wurden, ist wahrscheinlich der nächste Meilenstein in der Forschung zur Gesichtsblindheit erreicht und es wird noch einmal leichter sein, eine gesicherte Diagnose zu stellen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 19.06.2024.