Unter einem Polytrauma versteht man die Verletzung von mindestens zwei Organsystemen, von denen mindestens eine der Verletzungen eine lebensbedrohende ist.
Eine Milzruptur (Riss in der Milz oder Riss der Milzkapsel) oder der Riss eines großen Blutgefäßes sind Beispiele für lebensgefährliche Verletzungen eines Polytraumas. Knochenbrüche können auch lebensbedrohend sein. Bei einem instabilen Beckenbruch können bis zu 5 l Blut in das Becken einbluten und so einen Schock verursachen. Generell kann fast jede größere Verletzung gefährlich werden, da der Körper im Anschluss an eine Verletzung an einer so genannten Verletzungskrankheit leiden kann. Damit ist ein Symptomen-Komplex von Stoffwechselstörungen gemeint, der mit Gerinnungsstörungen und einer gestörten Glucosetoleranz einher geht.
Bei den Ursachen für ein Polytrauma stehen Autounfälle an der Spitze. Hier ist besonders die Gruppe der männlichen, jungen Fahrer betroffen, da bei ihnen das Fahrverhalten als besonders risikoreich gewertet werden kann.
Bei einem Autounfall treten meist ganz typische Verletzungen auf. Das Verletzungsmuster unterscheidet sich hierbei abhängig davon, ob die betroffene Person Fahrer oder Beifahrer in dem verunfallten Auto gewesen ist. Das liegt zum Beispiel daran, dass der Fahrer eines Wagens, kurz bevor es zum Aufprallunfall kommt, meist noch mit aller Gewalt und einem durchgestreckten Bein auf die Bremse tritt. Hier kommt es zu Oberschenkelbrüchen des bremsenden Beines. Der Beifahrer sitzt eher mit anwinkelten als mit gestreckten Beinen im Auto. Im Falle eines Aufpralls stoßen seine Knie an das Armaturenbord. Der Mediziner spricht hier von einer Dashbord- Verletzung.
Die zweithäufigste Ursache eines Polytraumas ist ein Unfall im Haushalt. Dazu gehören Stürze beim Fensterputzen von der Leiter oder von einem Drehstuhl. Bei Unfällen im Haushalt stehen ältere Frauen an der Spitze.
Die Symptome eines Polytraumas können so unterschiedlich sein wie die zugehörigen Verletzungen.
Blutungen im Gehirn machen sich dadurch bemerkbar, dass die Pupillen unterschiedlich groß sind und nicht adäquat auf Licht reagieren. Ist die Blutung im Gehirn so groß, dass sie das Gehirn einklemmt, können Krämpfe auftreten. Bei einer Schädigung des Rückenmarks treten Lähmungserscheinungen und Sensibilitätsausfälle unterhalb des betroffenen Abschnittes auf.
Bei stumpfen Verletzungen kann es zu inneren Blutungen kommen. Eine Folge eines Polytraumas kann die Verletzung innerer Organe, wie der Leber sein. Eine stumpfe Verletzung kann zum Beispiel eine Leberruptur verursachen.
Knochenbrüche (Frakturen) können offen oder geschlossen sein. Bei offenen Frakturen durchspießt ein Knochenstückchen den zugehörigen Weichteilmantel. Die Fraktur ist mit dem bloßen Auge sichtbar. Es gibt aber auch Frakturen, bei denen der Knochen sich nicht nach außen durch die Haut durchbohrt, sondern ein inneres Organ durchspießt. Hier kann es zu lebensgefährlichen Blutungen kommen.
Ein generelles Problem bei einem Polytrauma ist die häufige Bewusstlosigkeit des Patienten. Hierdurch kann er seine Beschwerden nicht schildern und der Arzt ist mit der Diagnostik ganz auf sich gestellt.
Die Diagnose eines Polytraumas wird meist schon vom Notarzt am Unfallort gestellt. Er arbeitet immer nach dem selben Schema.
Zuerst untersucht der Arzt, ob der Patient bei Bewusstsein ist, atmet und ob das Herz schlägt. Ist eine dieser Funktionen ausgefallen, wird der Patient reanimiert. Sind die Funktionen stabil, führt der Arzt noch am Unfallort einen schnellen Bodycheck durch. Das heißt, er untersucht in einem festgelegten Schema den Patienten von Kopf bis Fuß. Ist der Arzt der Meinung, dass der Patient transportabel ist, wird er in ein Krankenhaus gebracht. Die Wahl des Krankenhauses richtet sich nach der Art der vermuteten Verletzungen. Es gibt Kliniken, die sich eher auf Verletzungen des Kopfes spezialisiert haben, und solche, die eher andere Behandlungen durchführen.
Liegt die benötigte Klinik weiter entfernt, kann zum Transport ein Hubschrauber angefordert werden. Ist der Patient sehr schwer verletzt und nur schwer zu stabilisieren, kann es aber auch sein, dass er einfach in das nächstbeste Krankenhaus gebracht wird. Hier kann er dann durch dringende Operationen und eine Intensivtherapie stabilisiert werden, um dann später in ein passenderes Klinikum verlegt zu werden. Ist der Patient in einer Klinik angekommen, wird er in den so genannten Schockraum gebracht. Hier erfolgt die weitere Diagnostik wieder nach einem festgelegten Plan. In einem Schockraum sind (in einer Klinik der Maximalversorgung) mindestens vier Ärzte anwesend, in der Regel ein Anästhesist, ein Neurochirurg, ein Unfallchirurg und ein Allgemeinchirurg.
Der Unfallchirurg ist der Leiter des Notfallteams. Er gibt die notwendigen Anweisungen. Jeder dieser Ärzte hat eine genau festgelegte Funktion. Es wird zuerst nach solchen Verletzungen gesucht, die sofort lebensbedrohend sein könnten und einer direkten Therapie bedürfen. Der Anästhesist ist für das Herz-Kreislauf System und die Beatmung des Patienten zuständig. Er hört als erstes die Lungen mit dem Stethoskop ab. Fehlt auf einer Seite das Atemgeräusch, vermutet der Anästhesist eine zusammengefallene Lunge, z. B. aufgrund von zu viel Luft im Pleuraspalt (Pneumothorax). Er legt dann eine Drainage in den Pleuraspalt. Hierdurch kann die Luft, die die Lunge zusammendrückt, nach außen entweichen. Sinkt der Blutdruck zu stark, kann er Medikamente in die Venen spritzen.
Der Neurochirurg untersucht seinen Patienten auf Blutungen im Gehirn, die dem Gehirn den Platz wegnehmen. Hierfür gibt es eine sehr einfache Untersuchungsmethode. Der Neurochirurg leuchtet seinem Patienten mit einer Taschenlampe in die Augen. Normalerweise zieht sich eine Pupille bei Lichteinfall zusammen. Ist eine Blutung im Gehirn vorhanden, bleibt die Pupille groß und lichtstarr. In diesem Fall droht der baldige Tod, wenn nicht bald operiert wird. Der Allgemeinchirurg / Viszeralchirurg (Bauchchirurg) kümmert sich um den Bauch seines Patienten. Mit einem Ultraschallgerät sucht er nach Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Flüssigkeit findet sich in der Bauchhöhle nur dann, wenn der Patient innere Blutungen hat. In diesem Fall muss auch sofort operiert werden. Die Aufgabe des Unfallchirurgen liegt darin, die Arme und Beine nach größeren Verletzungen und Knochenbrüchen abzusuchen. Er bewegt dafür die Extremitäten einmal komplett durch. Zeichen von Knochenbrüchen sind hier eine abnorme Beweglichkeit oder ein Knistern und Reiben während der Bewegung.
Sobald einer der anwesenden Ärzte eine lebensbedrohende Verletzung gefunden hat, wird nicht weiter untersucht. Der Patient wird dann in den OP gebracht. Wird bei dieser ersten Untersuchung keine lebensbedrohende Verletzung festgestellt und ist der Patient weiterhin kreislaufstabil, dann ist die nächste Untersuchung eine Computertomografie des gesamten Körpers. Ist in dem Krankenhaus kein Comutertomograf in Reichweite, wird der Patient geröntgt. Mit einem Computertomografen können sehr dünne Schichtaufnahmen des Patienten gemacht werden, auf denen sowohl die Knochen als auch die Weichteile beurteilt werden können. Wird hierbei eine lebensbedrohende Verletzung festgestellt, geht der Patient in den OP. Andernfalls wird er als nächstes auf die Intensivstation überwiesen.
Es ist wichtig, dass bei einem Polytrauma nicht vergessen wird, dass der Patient auch ein Grundleiden haben kann, welches mit dem Unfall gar nichts zu tun hat. Der Patient kann z. B. an einem Diabetes mellitus (Zucker) leiden. Hier ist es für das Überleben des Patienten wichtig, dem Patienten (der eventuell gar nicht ansprechbar ist und Auskunft über seine Vorerkrankungen geben kann) Insulin zu spritzen. Andernfalls stirbt der Patient möglicherweise an einer Überzuckerung. Patienten, die einen schweren Unfall erlitten haben, stehen unter hohem Stress. Stress kann die Grundlage für einen Herzinfarkt darstellen. Wird ein Herzinfarkt übersehen, weil die schweren traumatisch bedingten Verletzungen des Patienten im Vordergrund stehen, kann das tödlich enden.
Die Therapie des Polytraumas läuft nach einem festgelegtem Schema ab. Alle lebensgefährlichen Verletzungen werden sofort operiert. Das heißt, sobald solch eine Verletzung entdeckt wurde, werden jegliche weitere diagnostischen Maßnahmen unterbrochen und der Patient wird operiert.
Beispiele für Verletzungen, die direkt operiert werden, sind innere Blutungen, z. B. aufgrund eines Milzrisses. Dann gibt es Verletzungen, die lebensbedrohend sein können, sofort operiert werden müssen, aber noch keine definitive Versorgung erhalten. Ein Beispiel für eine derartige Verletzung ist ein instabiler Beckenbruch. Hierbei kann es zu ausgedehnten Blutungen kommen. Die definitive Versorgung solch eines Beckenbruch ist sehr aufwändig und eine anstrengende und schwere Operation für den Patienten. Polytraumatisierte müssen erst stabilisiert werden, ehe ein Beckenbruch operiert werden kann. Um aber die Blutungen zu stoppen und das Risiko von weiteren Blutungen bei der Patientenlagerung zu verkleinern, wird ein Fixateur externe in das Becken eingebracht. Ein Fixateur externe funktioniert wie eine Schraubzwinge. Es werden von außen Schrauben in das Becken eingebracht, die für die richtige Position der einzelnen Knochenteile sorgen. Über eine Art Metallkäfig werden diese miteinander verbunden.
Ist der Patient noch nicht für eine größere Operation geeignet, kann im Prinzip jeder Knochenbruch erst einmal mit einem Fixateur externe versorgt werden. Die definitive Versorgung erfolgt häufig zwei Tage später. Verletzungen, die nicht lebensbedrohend sind und keine größeren Blutungen beinhalten, wie z. B. eine Kreuzbandverletzung oder der Riss eines Meniskus, werden als letztes behandelt. Der Zeitpunkt für solche eine Operation hängt vom Zustand des Patienten ab. In der Therapie des Polytraumas schließt sich nach dem eigentlichen Krankenhausaufenthalt eine lange Zeit der Rehabilitation an. Krankengymnastik (Physiotherapie) ist über Monate notwendig. Der Erfolg einer Physiotherapie hängt entscheidend von der Mitarbeit des Patienten ab.
Die Prognose eines Polytraumas hängt von der Art der Verletzung und der Dauer bis zu ihrer Therapie ab. Bei der Prognose des Polytraumas sind aber nicht nur die eigentlichen Unfallfolgen relevant, sondern auch ganz entscheidend die Komplikationen, die auftreten können.
Schwer verletzte Patienten können einige Tage nach einem Polytrauma an einer sogenannten Verletzungskrankheit erkranken. Bei einer Verletzungskrankheit werden Stoffwechselvorgänge im Körper so umgeschaltet, dass z. B. eine Gerinnungsstörung daraus resultieren kann.
Das Myoglobin, das bei einem Unfall aus zerstörtem Muskel freigesetzt wird, kann sich einige Tage nach einem Unfall in den Blutgefäßen der Niere zusammenballen und ein akutes Nierenversagen verursachen. Diese Komplikation wird auch Crush-Niere genannt.
Die Prognose eines Polytraumas hängt ganz entscheidend von der Zeitdauer ab, bis Hilfe geleistet wird. Erste Hilfe kann bereits ein medizinischer Laie leisten und somit ganz entscheidend am weiteren Verlauf des Polytraumas mitwirken.
Erste Hilfe zu leisten ist keine Frage der Theorie, sondern der Praxis. Deswegen ist es so wichtig, nicht nur am Erste-Hilfe-Kurs zum Erwerb des Führerscheins teilzunehmen, sondern auch die erworbenen Kenntnisse regelmäßig aufzufrischen. Erste-Hilfe-Kurse werden in vielen Orten kostenlos vom Roten Kreuz, den Maltesern oder der Johanniter Unfallhilfe angeboten.
aktualisiert am 06.10.2023