Prof. Rohde: Genau genommen beschäftige ich mich mit der Prämenstruellen dysphorischen Störung, abgekürzt als PMDS. Das ist die schwerste Form des prämenstruellen Syndroms (PMS) und zeigt in erster Linie psychische Symptome. Diese können so stark sein, dass sie für die betroffenen Frauen zu einem enormen Leidensdruck führen.
Prof. Rohde: Etwa 75% aller Frauen im gebärfähigen Alter nehmen in der zweiten Zyklushälfte körperliche und/oder psychische Veränderungen wahr. Das können beispielsweise Gefühle von Gereiztheit oder Depressivität sein, aber auch körperliche Symptome wie Bauchschmerzen, Spannungsgefühle in der Brust o. ä.
Die meisten Frauen fühlen sich dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt. Kommen mehrere Symptome zusammen, dann spricht man vom prämenstruellen Syndrome (= PMS), wobei es dafür keine allgemeingültige Definition gibt. Der Begriff ist ungenau und eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Symptomen unterschiedlichen Schweregrads können dabei auftreten. Das ist anders bei der prämenstruellen dysphorischen Störung (= PMDS), die etwa 3-8% aller Frauen im gebärfähigen Alter betrifft.
Etwa 75% aller Frauen im gebärfähigen Alter nehmen in der zweiten Zyklushälfte körperliche und/oder psychische Veränderungen wahr.
Prof. Rohde: Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es klar definierte Kriterien für die PMDS, und zwar in einem amerikanischen, hauptsächlich wissenschaftlich genutzten Diagnosesystem (DSM = „Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Erkrankungen“). Diese Kriterien wurden mittlerweile für eine Vielzahl von Studien, vor allem Therapiestudien, genutzt. In Deutschland verwenden wir im klinischen Alltag die ICD, die „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“, das Diagnosesystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zurzeit noch in der 10. Fassung, da die deutsche Übersetzung der ICD-11 noch nicht vollständig vorliegt. Dennoch beginnen Ärzte schon mit der Nutzung der Kriterien.
Das ist für die PMDS besonders wichtig, da es in der ICD-10 überhaupt keine Kategorie für die PMDS gab, während es in der neuen ICD-11 eine eigene Diagnose-Kategorie gibt. Allerdings anders als im aktuellen DSM-5, wo es eine psychiatrische Diagnose ist, ist es in der ICD-11 unter den gynäkologischen Krankheitsbildern zugeordnet. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Schritt, da es damit auch im deutschsprachigen Raum entsprechende Kriterien geben wird und das zur Verbreitung der Kenntnisse über diese Problematik beitragen wird. Jetzt haben Betroffene ja noch häufig das Problem, dass sie keinen Arzt bzw. keine Ärztin finden, die sich damit auskennt. Im übrigen trägt die Zuordnung als gynäkologische Kategorie dazu bei, dass die Frauen sich nicht als „psychisch krank“ stigmatisiert fühlen, was sie auch nicht sind.
Prof. Rohde: Es gibt 11 Symptomkategorien, die meisten davon sind psychische Symptome. Nur die letzte Gruppe umfasst alle körperlichen Symptome, wie etwa Brustspannen, Muskel- und Gelenkschmerzen oder ein Gefühl des Aufgeblähtseins.
Für die Diagnosestellung müssen mindestens 5 Symptome vorhanden sein, davon mindestens eines der 4 Kernsymptome: Deutliche Stimmungslabiliät, Reizbarkeit/Wut, depressive Verstimmung oder deutliche Angst bzw. Anspannung.
Besonders die typischen psychischen Symptome der PMDS (Reizbarkeit, Anspannung, Stimmungsschwankungen, erhöhte Empfindlichkeit) in Kombination mit einem Verlust der Impulskontrolle führen nicht selten zu ausgeprägten Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich mit starken Konflikten und Streitigkeiten. Diese Auswirkungen gehören übrigens auch zu den diagnostischen Kriterien. Schwere depressive Verstimmungen bis hin zu regelmäßig wiederkehrenden lebensmüden Gedanken kommen ebenfalls vor. Aber auch Interesselosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Ermüdbarkeit, Energielosigkeit erschweren den Alltag.
Frauen mit PMDS haben in der Regel einen erheblichen Leidensdruck, und zwar vor allem, weil sie in der Zeit ihr Verhalten nicht mehr in der gewohnten Weise kontrollieren können. Dies führt z.B. zu „Ausrastern“, die sich gegen die Kinder richten oder zu Auseinandersetzungen in der Partnerschaft führen. Ausgeprägte Schuldgefühle sind die typische Folge. Und mit der Zeit entwickelt sich schon im Vorfeld eine Angst vor der zweiten Zyklushälfte, wo „alles wieder losgeht“. Mit dem Eintreten der Periode ist übrigens in der Regel alles vorbei.
Frauen mit PMDS haben in der Regel einen erheblichen Leidensdruck, und zwar vor allem, weil sie in der Zeit ihr Verhalten nicht mehr in der gewohnten Weise kontrollieren können.
Prof. Rohde: Prämenstruelle Beschwerden können bereits mit der ersten Periode auftreten, meist stehen aber dann körperliche Symptome im Vordergrund. Mit zunehmendem Alter können die psychischen Symptome zunehmen, wobei Frauen typischerweise über 30 oder noch älter sind, wenn sie nach Behandlung suchen. Nicht selten wird die Symptomatik nach der Geburt eines Kindes deutlich ausgeprägter. Das kann man sich u. a. mit der Zunahme von Belastungen und Stress erklären; die Frauen haben weniger Rückzugsmöglichkeiten als vorher.
Prof. Rohde: Die PMDS ist keine Depression; allerdings gibt es so etwas wie eine gemeinsame Basis. Frauen mit PMDS haben leider eine gewisse Veranlagung, depressiv zu werden, so beispielsweise nach der Geburt eines Kindes oder in den Wechseljahren. Die gemeinsame Basis scheint eine gewisse „Vulnerabilität“, d. h. Empfindlichkeit für depressive Symptome zu sein, die wiederum mit bestimmten Stoffwechselvorgängen im Gehirn in Verbindung gebracht werden kann. Die hormonellen Veränderungen im Zyklus als solche sind nicht die Verursacher, allerdings reagieren „empfindliche“ Frauen darauf stärker – und leider manchmal eben mit der Symptomatik einer PMDS. Da sind noch nicht alle Zusammenhänge geklärt, aber es gibt Forschung auf dem Gebiet.
Prof. Rohde: Immer dann, wenn der Leidensdruck zu ausgeprägt wird und die oft empfohlenen Strategien (wie etwa gesunder Lebensstil, wenig Koffein, Sport, Entspannung, Selbstfürsorge, Psychotherapie) nicht mehr ausreichen. Zunächst wird der Frauenarzt die Ansprechperson sein. Er verschreibt möglicherweise bestimmte pflanzliche Präparate, wie etwa Agnus castus. Solche Versuche sind bei leichten PMS-Beschwerden durchaus sinnvoll.
Auch Hormone kommen zum Einsatz, vor allem ein Kontrazeptivum, also die Pille. Das gehört zu den wirksamen Behandlungsmethoden einer PMDS, allerdings dann am ehesten im sogenannten Langzyklus – d. h. durchgehende Gabe der Pille, ohne die Pillenpause. Dadurch werden die hormonellen Schwankungen deutlich reduziert. Und das kann schon sehr gut helfen. Eine andere wirksame Behandlungsmethode besteht in der Gabe von bestimmten Antidepressiva.
Mit welcher Strategie begonnen wird, hat nicht nur mit eventuellen Kontraindikationen für die Pille zu tun oder ob eine Verhütung nicht gewünscht ist, sondern auch mit den persönlichen Vorlieben der betroffenen Frau. Manche Frauen möchten keine Hormone einnehmen, andere wollen nicht das Gefühl haben, es stimme mit ihnen psychisch etwas nicht, weil sie Antidepressiva verordnet bekommen.
Eine andere wirksame Behandlungsmethode besteht in der Gabe von bestimmten Antidepressiva.
Prof. Rohde: Eingesetzt werden Antidepressiva, die das Serotonin-Systeme im Gehirn beeinflussen. Serotonin ist ein Botenstoff, der sowohl bei der Entstehung von Depressionen als auch Angststörungen und anderen psychischen Problemen beteiligt ist und eben auch bei der PMDS. Die sogenannten SSRI (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) tragen dazu bei, dass mehr Serotonin verfügbar ist. Zu wenig Serotonin kann beispielsweise zu Depressionen, aber auch Aggressivität/Reizbarkeit und suizidalen Bedanken führen. Deshalb war es nur logisch, dass bei der PMDS-Symptomatik Studien zur Wirksamkeit der SSRI durchgeführt wurden.
Seit Etablierung der entsprechenden Kriterien in den 1980er Jahren wurde eine Vielzahl von Therapiestudien mit SSRI bei PMDS durchgeführt, die alle Voraussetzungen seriöser Studien erfüllen. Und alle Studien haben gezeigt: SSRI sind wirksam, und zwar die verschiedensten Präparate, die zu dieser Gruppe gehören.
Prof. Rohde: Nein, keineswegs! Anders als Beruhigungsmittel (auch als Tranquilizer bezeichnet) haben Antidepressiva generell und auch die SSRI kein Abhängigkeitspotential. Davon sprechen wir ja, wenn – wie bei Drogen – immer größere Mengen eingenommen werden müssen, um eine Wirkung zu erzielen. Und meist ist bei Drogen die Euphorisierung das Ziel. Bei den Antidepressiva wird etwas ausgeglichen, was fehlt – wie im Fall der PMDS beispielsweise die Stimmungsstabilität.
Allerdings muss man wissen, dass die SSRI zu Beginn Nebenwirkungen haben können, wie etwa Übelkeit oder Unruhe, die nach wenigen Tagen, spätestens nach 1 bis 2 Wochen abklingen. Ähnliche Symptome können auch beim Absetzen auftreten; das sind Absetzphänomene und keine Entzugserscheinungen. Doch man kann vorbeugen, indem man die Medikamente „einschleicht“ und „ausschleicht“. D. h. langsam und schrittweise mit einer sehr niedrigen Dosis beginnt und in umgekehrter Richtung genauso vorgeht, wenn das Medikament abgesetzt werden soll.
Übrigens reagieren Frauen oft empfindlicher als Männer auf Medikamente, weshalb nach meiner Erfahrung genau dieses langsame Eindosieren sinnvoll ist. Wenn Frauen schon wissen, dass sie generell sehr empfindlich auf Medikamente reagieren, empfehle ich von Anfang an die Verwendung einer Lösung, womit man Tropfen für Tropfen erhöhen kann. Die betroffene Frau kann dann selbst über die Dosis entscheiden und sich langsam „vorarbeiten“. Das gibt übrigens auch ein Gefühl der Autonomie bzw. eigenen Kontrolle, was für Betroffene hilfreich ist, die ja so oft die Erfahrung des Kontrollverlustes machen.
Übrigens reagieren Frauen oft empfindlicher als Männer auf Medikamente, weshalb nach meiner Erfahrung genau dieses langsame Eindosieren sinnvoll ist.
Prof. Rohde: Damit ist die Gabe nur in der zweiten Zyklushälfte gemeint, die sich in den Behandlungsstudien ebenfalls als effektiv erwiesen hat – wenn auch etwas weniger als die durchgängige Gabe. Ich persönlich empfehle zu Beginn eher die durchgängige Gabe, wie schon gesagt, niedrig dosiert beginnend. Das hat den Vorteil, dass eine betroffene Frau nicht immer noch den Zyklus im Blick haben muss – was sie ja lange genug getan hat, um zu wissen, „wann es wieder losgeht“. Im weiteren Verlauf kann man dann beispielsweise in der ersten Zyklushälfte eine niedrige Dosis nehmen und in der zweiten Hälfte erhöhen oder auch den Versuch einer intermittierenden Einnahme machen. Übrigens sollte man auch während der Einnahme der SSRI unbedingt ein Zyklustagebuch führen, darüber habe ich bist jetzt noch gar nichts gesagt.
Prof. Rohde: Ein Zyklustagebuch sollte vor Beginn der Behandlung geführt werden, um genau zu dokumentieren, welche Symptome in welcher Ausprägung und wann vorhanden sind. Die Zyklusdokumentation über 2 Monate gehört übrigens auch zu den Diagnose-Kriterien. Viele Frauen dokumentieren ihren Zyklus ja schon über eine Zyklus-App. Wir empfehlen aber eine etwas umfangreichere Dokumentation, und zwar ganz klassisch als Papiervariante. Wir haben vor vielen Jahren einen entsprechenden Zykluskalender entwickelt, den man sich auf unserer Website herunterladen kann.
Dieses Zyklustagebuch kann unkompliziert ausgewertet werden, da man rein optisch sehen kann, wie die Symptome verteilt sind. Das hilft auch bei der Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen, was ebenfalls zur Diagnose gehört. Und man kann damit zur Frauenärztin oder zum Hausarzt gehen – die Hausärzte kennen sich übrigens mit der Gabe von Antidepressiva gut aus – und um eine entsprechende Behandlung bitten. Gerade in diesem Zusammenhang finden wir es so wichtig, dass Frauen sich selbst informieren.
Unser Appell lautet: Werden Sie zur Expertin für Ihre PMDS!
Prof. Rohde: Da würde ich tatsächlich unseren Ratgeber „PMDS als Herausforderung“ empfehlen, den wir (Almut Dorn als Psychotherapeutin, Anne Schwenkhagen als gynäkologische Endokrinologin und ich als Psychiaterin und Psychotherapeutin) 2023 veröffentlicht haben. Darin sind alle Fragen rund um das Thema PMDS beantwortet. Infos dazu finden sich auch auf unserer Webseite.
Ich kann nur alle betroffenen Frauen ermutigen, sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei ist für viele zu Beginn eine ganz wichtige Erkenntnis: Ich bin nicht die einzige, die davon betroffen ist, und mein Problem hat einen Namen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 04.04.2024.