Eine ängstlich-vermeidende oder selbstunsichere Persönlichkeitsstörung führt häufig zu sozialer Isolation und Einsamkeit, wobei die Betroffenen wenig gegen diese Einschränkungen unternehmen können. Obwohl eine vollständige Heilung im psychologischen Sinne schwierig ist, kann durch Verhaltenstherapie und klärungsorientierte Psychotherapie eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden.
Prof. Sachse: In der psychotherapeutischen Ambulanz sind die häufigsten Persönlichkeitsstörungen: Borderline, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Patienten mit selbstunsicher-vermeidenden Störungen treten als viert häufigste Gruppe auf. Die Störung ist daher recht verbreitet. Von der Geschlechtsverteilung her sind die meisten Patienten (ca. 59%) männlich und im Alter von 20-30 Jahren. Sie kommen aus allen sozialen Schichten.
Prof. Sachse: Die ängstlich-vermeidende oder selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (SU) gibt es in zwei Ausprägungen:
Die Patienten sind sich darüber im Klaren, dass sie sich durch ihre Ängste selbst stark behindern und sind daher meist noch motiviert, an den Problemen zu arbeiten, wissen aber oft nicht, an wen sie sich wenden sollen. Solche Patienten mit einer spezifischen SU weisen gar keine generalisierten Ängste auf und zeigen oft sogar hohe soziale Kompetenzen, was ihre spezifischen Ängste allerdings nicht reduziert.
Prof. Sachse: Eine soziale Phobie ist eher generalisiert und bezieht sich auf sehr viele soziale Situationen. Hier spielen oft konditionierte (gelernte) Ängste eine zentrale Rolle. Die Grenzen sind aber fließend. Wesentliche diagnostische Kriterien sind Angst vor Ablehnung und Abwertung, die Angst davor, sozial ausgeschlossen zu werden, durch die Ablehnung zu „beweisen“, dass ihre negativen Überzeugungen stimmen, sozialer Rückzug, starkes Leiden unter der Problematik.
Hier spielen oft konditionierte (gelernte) Ängste eine zentrale Rolle.
Prof. Sachse: Die Personen bemerken ihre Ängste und Einschränkungen meist selbst sehr deutlich und leiden unter ihren Problemen und unter ihrem Alleinsein. Sie haben aber den Eindruck, dass sie von sich aus wenig tun können, da sie immer befürchten, negative Erfahrungen zu machen, durch die sie ihre Angst verschlimmern können. So kommt manchmal ein „Teufelskreis“ in Gang: soziale Angst - erhöhte Unsicherheit - mangelndes Training - erhöhte Angst - verstärkte Vermeidung - usw.
Prof. Sachse: Die Lebensqualität kann dadurch sehr stark eingeschränkt sein, da die Personen oft „sozial isoliert“, einsam und mit ihrem Zustand hochgradig unzufrieden sind, aber selbst nur wenig dagegen tun können.
Prof. Sachse: Eine genetische Komponente ist nicht bekannt. Die Person lernt dies im Wesentlichen durch negative Erfahrungen mit Peers während der Kindheit und Jugend: Durch Abwertung, Ausgrenzung, persönliche Ablehnung usw. Dadurch kommt ein Teufelskreis in Gang: Ablehnung führt zu Rückzug, Vermeidung, Ängsten, diese verstärken schon in der Störungsentwicklung unsicheres Verhalten, es kommt zu stärkerer Ablehnung usw. Die Störung wird vor allem während der Pubertät stark manifestiert, vor allem, wenn der soziale Vergleich negativ ausfällt. Peers beginnen Partnerschaften und haben Freundinnen und die Person fühlt sich „abgehängt“ manchmal minderwertig und defizitär.
Die Störung wird vor allem während der Pubertät stark manifestiert, vor allem, wenn der soziale Vergleich negativ ausfällt.
Prof. Sachse: Die Diagnose wird nach einem Kriterien-Katalog in Zusammenarbeit mit der Person erstellt. Ich verweise Interessierte dabei auf das Buch von Sachse, Fasbender und Sachse: Klärungsorientierte Psychotherapie der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, Hogrefe-Verlag, 2014.
Prof. Sachse: Es gibt sehr gute Behandlungsmöglichkeiten: Verhaltenstherapie und Klärungsorientierte Psychotherapie erweisen sich als hoch effektiv und verbessern die Lebensqualität der Personen außerordentlich. Es ist daher äußerst sinnvoll und angeraten, eine Psychotherapie durchzuführen: Für Adressen von Therapeuten und Therapeutinnen kann man sich an die Psychotherapeutenkammer wenden. Im Einzelnen können Verfahren wie „Reizkonfrontation“, Klären und Bearbeiten negativer Schemata (Annahmen) und Aufbau von sozialen Kompetenzen zum Tragen kommen.
Prof. Sachse: Die Ängste können fast immer weitestgehend „gehemmt“ und soziale Kompetenz kann aufgebaut werden, sodass ein weitgehend störungsfreies Leben ermöglicht wird. „Heilung“ ist ein medizinisches Konzept: In der Psychologie können Ängste unter Umständen später wieder auftreten, können dann aber von der Person sehr gut bewältigt werden.
Die Ängste können fast immer weitestgehend „gehemmt“ und soziale Kompetenz kann aufgebaut werden, sodass ein weitgehend störungsfreies Leben ermöglicht wird
Prof. Sachse: Man sollte diesen Personen ermöglichen, eine Psychotherapie zu machen. Man solle sie aber auch motivieren, soziale Kontakte nicht zu vermeiden, sondern sich langsam zu trauen, in soziale Situationen zu gehen („Schritt für Schritt“). Und man sollte sie auf alle noch so kleinen Erfolge aufmerksam machen und deutlich machen, dass sie es können und sie so gut wie möglich unterstützen, indem man verständnisvoll ist, aber auch betont, dass die Person selbst etwas tun kann.
Prof. Sachse: Langfristig ist die beste Vorgehensweise die Psychotherapie: Es kann kritisch sein, besonders belastende Situationen aufzusuchen, da diese „schiefgehen“ können, wodurch sogenannte „selbsterfüllende Prophezeiungen“ entstehen können, die die Probleme unter Umständen verschlimmern. Es ist besser, sich langsam an immer schwierigere Situationen „heranzutasten“. Bei der sehr hohen Effektivität von Psychotherapie ist es allerdings unklug, keine zu machen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 22.08.2024.