Prof. Habermeyer: Die Begriffe der antisozialen und dissozialen Persönlichkeitsstörung werden häufig synonym verwandt, obwohl sich die über die allgemeinen Kriterien für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung hinausgehenden spezifischen Kriterien für die Diagnose dieser beiden Störungsbilder durchaus unterscheiden. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung der ICD-10-Klassifikation berücksichtigt nämlich Empathiedefizite der Betroffenen und benennt als ein weiteres Kriterium, das in den DSM-5-Kriterien für die antisoziale Persönlichkeitsstörung nicht berücksichtigt wird, die Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen. Demgegenüber definiert das DSM-5 die antisoziale Persönlichkeitsstörung sehr verhaltensnah, z.B. über das wiederholte Versagen, sich an gesetzlichen Normen zu orientieren, Falschheit mit wiederholtem Lügen, Reizbarkeit und Aggressivität. Ein Vorteil der DSM-Klassifikation ist, dass hier gefordert wird, dass entsprechende Symptome bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar waren. Dieser Punkt ist deswegen bedeutsam, weil auf diese Weise besser zwischen problematischen Entwicklungen im jungen Erwachsenenalter und schon früh anlaufenden, wahrscheinlich stärker biologisch geprägten Defiziten unterschieden werden kann.
Prof. Habermeyer: Unabhängig davon, ob man die o.g. Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 und DSM-5 diagnostiziert, ist ein gemeinsames Merkmal, dass Betroffene wiederholt in Konflikte mit gesellschaftlichen Normen geraten bzw. dazu tendieren, sich in zwischenmenschlichen Konflikten mit Gewaltanwendung oder zumindest bedrohlichem Verhalten durchzusetzen. Sie sind in der Regel schlecht in der Lage, mit Frustrationen umzugehen und tendieren dazu, aus dem Augenblick heraus zu agieren.
Prof. Habermeyer: Wie andere Persönlichkeitsstörungen ist auch die antisoziale bzw. dissoziale Persönlichkeitsstörung ich-synton, weshalb Betroffene die Symptomatik zunächst nicht als problematisch bewerten und insbesondere nicht als korrekturbedürftig ansehen. Leidensdruck entsteht daher vorwiegend über die Reaktionen der Umgebung, z.B. gesetzliche Sanktionen oder die durch das eigene Verhalten hervorgerufenen Konflikte. Anlass für das Aufsuchen des psychiatrisch/psychotherapeutischen Hilfesystems kann auch eine begleitende Substanzproblematik sein, denn nicht wenige Betroffene praktizieren einen Substanzmissbrauch.
Leidensdruck entsteht daher vorwiegend über die Reaktionen der Umgebung, z.B. gesetzliche Sanktionen oder die durch das eigene Verhalten hervorgerufenen Konflikte.
Prof. Habermeyer: Man muss davon ausgehen, dass insbesondere die antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen, die bis ins Kindesalter zurückverfolgt werden können, Ausdruck einer biologischen Vulnerabilität sind. Entsprechende Auffälligkeiten im limbischen System und frontalen Hirnregionen können Defizite der Impulskontrolle, aber auch eine vegetative Untererregbarkeit und einen Reizhunger begründen. Wachsen Betroffene in einer durch Gewalterfahrungen und/oder Vernachlässigung geprägten Umgebung auf, wird die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung befördert. Umgekehrt kann es sein, dass Menschen mit einer entsprechenden Vulnerabilität unter optimalen Umgebungsbedingungen bzw. bei adäquater psychosozialer Förderung weniger Defizite ausbilden und dann auch in der Lage sind, Konflikte adäquat zu lösen. Insofern kommt auch bei antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörungen ein biopsychosoziales Störungsmodell zur Anwendung.
Prof. Habermeyer: Es ist nicht sinnvoll, die Diagnose einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung vor dem 18. Lebensjahr zu stellen, was im DSM-5 auch explizit ausgeschlossen wird. Auch danach sollte man bei volljährigen Personen, die noch adoleszent-unreif imponieren, ausgesprochen zurückhaltend mit der Diagnosestellung sein. Grund dafür ist eine Häufung dissozialer Verhaltensbereitschaften bei jungen Männern im Alter zwischen 18 und 24 Jahren. Dissoziale Verhaltensauffälligkeiten können in diesem Altersbereich durchaus Ausdruck von Gruppeneinflüssen sein oder im Rahmen krisenhafter Entwicklungen mit einem Zurückbleiben hinter schulischen und/oder beruflichen Anforderungen auftreten.
Es ist nicht sinnvoll, die Diagnose einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung vor dem 18. Lebensjahr zu stellen
Prof. Habermeyer: Das Konzept der narzisstischen Persönlichkeitsstörung des DSM-5 zeigt Überschneidungen zur Symptomatik einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, denn hier wird ein ausbeuterisch-unempathischer Umgang mit anderen gefordert. Die Kombination zwischen antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsmerkmalen und Narzissmus spiegelt sich im Konzept der Psychopathie nach Robert Hare wider: Psychopathen sensu Hare erfüllen in der Regel die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung und zeigen darüber hinaus auch narzisstische Merkmale, wie beispielsweise eine überhöhte Selbstwahrnehmung oder ein oberflächlicher Charme. Sie weisen im Vergleich zu anderen Gewaltstraftätern höhere Rückfallraten und eine höhere Gewaltbereitschaft auf, weshalb dieses Konzept für die Forensische Psychiatrie hoch bedeutsam ist. Psychopathen sensu Hare tendieren auch dazu, zum Erreichen eigener Ziele instrumentell Gewalt einzusetzen. Sie legitimieren das damit, dass sie das Leben als einen Kampf ansehen, in dem es sinnvoll sei, Gewalt anzuwenden, weil man, wenn man dies nicht tue, selbst Opfer von Gewalt werde.
Prof. Habermeyer: Anti- bzw. dissoziale Persönlichkeitsstörungen galten lange Zeit als unbehandelbar, jedoch ist ein therapeutischer Nihilismus nicht gerechtfertigt. Mittel der Wahl sind psychotherapeutische, insbesondere kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, die sich stark an den Alltagsproblemen orientieren sollten. Die therapeutische Erreichbarkeit ist bei Betroffenen, deren Symptomatik durch Impulsivität oder stark reaktiv geprägte Verhaltensprobleme gekennzeichnet ist, besser. Hier ergeben sich auch medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten, denn bei Impulsivität und dadurch begünstigter reaktiver Gewalt kann die Psychotherapie um die Gabe von z.B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) ergänzt werden. Reaktiv auftretende Probleme können dazu beitragen, dass Betroffene von der Behandlung mit atypischen Neuroleptika profitieren, die einerseits beruhigen, andererseits aber auch antiaggressiv wirksam sein können.
Therapeutisch herausfordernder ist der unempathisch-psychopathische Subtypus der Antisozialität mit vorwiegend instrumenteller Gewaltanwendung. Als ungeeignet haben sich in diesem Zusammenhang Programme gezeigt, mit denen versucht wurde, den Betroffenen zu einem empathischeren Zugang gegenüber anderen Personen zu verhelfen. Diese konnten das Empathievermögen Betroffener nicht bessern, sondern haben ihnen im Gegenteil Strategien zur Hand gegeben, die es für sie einfacher machten, ihre Umgebung zu manipulieren. Deswegen versucht man nun mit Betroffenen eine Verhaltensanalyse mit Bearbeitung der Vor- und Nachteile der von ihnen gewählten Strategien durchzuführen. Dadurch kann ihnen auf einer rationalen Ebene klarwerden, dass sie sich mit bestimmten Verhaltensweisen immer wieder in Schwierigkeiten bringen bzw. sie in Gefahr sind, zugunsten kurzfristiger Vorteile, langfristige Nachteile zu erlangen. Solche Situations- und Verhaltensanalysen können die Basis für Verhaltensanpassungen werden.
Mittel der Wahl sind psychotherapeutische, insbesondere kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, die sich stark an den Alltagsproblemen orientieren sollten.
Prof. Habermeyer: Hilfreich kann die Gabe von atypischen Neuroleptika und SSRIs sein.
Prof. Habermeyer: Es gibt keine überzeugenden kontrollierten Studien über die Behandlungsaussichten einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung. Die Therapie ist sicherlich herausfordernd und muss insbesondere langfristig angelegt sein. Diejenigen Betroffenen, bei denen die antisoziale Problematik mit Impulsivität und sozialen Unsicherheiten vergesellschaftet ist, haben in der Regel eine bessere Behandlungsprognose.
Prof. Habermeyer: Aus hiesiger Sicht empfiehlt es sich mit antisozialen/dissozialen Personen einen sehr transparenten und klaren Umgang zu pflegen. Probleme sollten klar als solche benannt werden, therapieschädigendes Verhalten wie Grenzüberschreitungen oder Regelverstöße ebenso. Da es Betroffenen schwerfällt, die Problematik eigenen Verhaltens intuitiv zu erkennen, sind solche Rückmeldungen wichtig. Diese sollten jedoch in einer neutralen, möglichst nicht abwertenden oder vorwurfsvollen Haltung formuliert werden, um konflikthafte Reaktionen zu vermeiden.
Prof. Habermeyer: Aus hiesiger Sicht ist die relevanteste Veränderung diejenige, dass nach einer langen Phase des therapeutischen Nihilismus nunmehr wieder eine therapeutische Erreichbarkeit in Betracht gezogen wird. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass kognitiv verhaltenstherapeutische Ansätze für diese Klientel besonders bedeutsam sind. Die Orientierung an konkreten Verhaltensproblemen ist aus zweierlei Gründen hilfreich: Sie kommt den handlungsorientierten Betroffenen entgegen und verhindert andererseits, dass die konkret anzugehenden Problembereiche aus dem Blick geraten.
Prof. Habermeyer: In den letzten Jahren hat sich im Rahmen kognitiver und neurobiologischer Forschungsansätze gezeigt, dass antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörungen unterschiedliche neurobiologische Defizite aufweisen. Dies hat zu einem vertieften Verständnis der biologischen Korrelate bzw. vielschichtigen Grundlagen entsprechender Verhaltensprobleme geführt. Sie gelten nun nicht mehr als Ausdruck eines bewusst gewählten Lebensstils, was einen neutraleren Umgang mit Betroffenen ermöglicht. Allerdings bleibt es dabei, dass solche biologischen Vulnerabilitäten in der Regel in ausgesprochen herausfordernde biographische Entwicklungen bzw. zusätzliche Belastungen eingebettet sind, sodass man keine monokausalen Störungsgrundlagen postulieren kann. Eine diesbezüglich weitere Entwicklung der Persönlichkeitsforschung, die kategoriale Konzepte ablegt und Störungen von Persönlichkeitsbereichen dimensional auffasst, wird eventuell ein differenzierteres Verständnis von dissozialen, antisozialen und weiteren externalisierenden Verhaltensweisen ermöglichen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 07.03.2024.