Prof. Görlich: Nomophobie ist die Angst vom eigenen Smartphone getrennt zu sein. Der Begriff setzt sich aus dem Englischen "no mobile phone phobia" zusammen. In einer Studie, die Melina Coenen und ich durchgeführt haben, zeigte sich, dass fast die Hälfte der über 800 Befragten eine mittlere Nomophobie und 4% sogar eine schwere Nomophobie aufwiesen. Dies entspricht annähernd auch den Werten internationaler Studien.
Prof. Görlich: Bedenklich wird es, wenn Personen oft schon beim Gedanken daran, sich vom Smartphone zu trennen, körperliche Angstsymptome wie Zittern oder Schwitzen zeigen. Menschen mit einer krankhaften Nomophobie werden alles daransetzen, nicht auf das Smartphone verzichten zu müssen. Sie nehmen z.B. eine Powerbank mit, wählen Urlaubsorte aus, die eine stabile Internet- oder Mobilfunkverbindung sicherstellen. Dieses Sicherheits- und Vermeidungsverhalten hält die Angst aufrecht. Anzumerken ist dabei, dass Nomophobie bisher keine offiziell anerkannte Diagnose ist.
Bedenklich wird es, wenn Personen oft schon beim Gedanken daran, sich vom Smartphone zu trennen, körperliche Angstsymptome wie Zittern oder Schwitzen zeigen.
Prof. Görlich: Es gibt sowohl Alters- als auch Geschlechtseffekte: Frauen sind stärker von Nomophobie betroffen als Männer und jüngere Personen zeigen ein höheres Ausmaß an Nomophobie als ältere Personen. Junge Frauen sind daher schon eine besondere Risikogruppe. Da dies alles statistische Angaben sind, können natürlich auch ältere und/oder männliche Personen betroffen sein.
Prof. Görlich: Es sind die Ängste, irgendwo zu stranden (z.B. ohne Navigation) oder auch Sicherheitsaspekte, im Notfall über das Smartphone Hilfe holen zu können. Es kann auch die Angst dahinterstecken, etwas zu verpassen. Dies nennt man FoMo (fear of missing out) und kann auf Angst vor sozialer Isolation aufbauen. Vielen Personen ist es auch sehr wichtig, sich selbst zu präsentieren. Wenn dies wegfällt, kann es als Identitätsverlust wahrgenommen werden.
Prof. Görlich: Das ist ein gutes Beispiel für operantes Konditionieren aus der Verhaltenspsychologie. Die Flammen sind positive Verstärker. Durch den belohnenden Reiz wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, das Verhalten in Zukunft wieder zu zeigen. Die Flammen wieder zu verlieren wäre demnach eine negative Bestrafung. Aus Sicht der App ist das unerwünschte Verhalten, nicht täglich mit ihr zu interagieren und bestraft dies mit dem Verlust von Flammen.
Weil oft ganze Bekanntenkreise diese Funktion nutzen, kann auch eine Art sozialer Druck entstehen, ständig online und erreichbar zu sein, um seinen sozialen Status und Freundschaften zu sichern. Personen fühlen sich zur täglichen Nutzung der App verpflichtet, um die Anzahl der aufrechterhaltenen Flammen zu erhöhen oder zu bewahren. Dies wird zur Routine und kann zu einem zwanghaften Verhalten führen, da der Verlust von Flammen als sozialer Misserfolg wahrgenommen wird.
Prof. Görlich: Handysucht zeigt sich als zwanghafter Drang das Smartphone zu bedienen. Dadurch kann es zu Konzentrationsproblemen im Unterricht oder auf der Arbeit kommen. Handysucht ist eine Abhängigkeitserkrankung und Nomophobie eine Angststörung, bei der Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten dominieren. Zwischen beiden Phänomenen gibt es Überschneidungen. Den Personen fällt es schwer, geplante Aufgaben zu erledigen und trotz dieser Probleme kann nicht auf das Handy verzichtet werden, der Verzicht löst wiederum Angst aus.
Handysucht zeigt sich als zwanghafter Drang das Smartphone zu bedienen.
Prof. Görlich: Die Betroffenen haben z.B. Stress bei ausgeschaltetem Handy, Angstzustände bei leerem Akku oder aufgebrauchtem Datenvolumen. Im Funkloch geraten sie in Panik oder wenn das Smartphone zuhause gelassen wurde. Sie machen sich übersteigerte Sorgen, dass sie nicht erreichbar sind und auch andere nicht erreichen können (z.B. Familie oder Freunde).
Prof. Görlich: Viele Betroffene müssen ihr Smartphone ständig kontrollieren. Einerseits den Akkustand, andererseits ob ihnen Nachrichten oder Mitteilungen entgangen sind. Oft werden Schule, Studium, Arbeit, Freunde oder Hobbys vernachlässigt. Durch das ständige Beschäftigtsein mit dem Smartphone sinken Konzentration und Produktivität. Auch kann es Einschlaf- und Durchschlafprobleme geben, wenn in der Nacht das Handy genutzt oder nicht stumm gestellt wird. Bei manchen Personen zeigen sich auch Phantomklingeln oder -vibrationen. Die Psychische Gesundheit leidet durch Stress- und Angstsymptome, das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit sinken.
Prof. Görlich: Es finden sich z.B. Zusammenhänge zwischen Nomophobie und Depression aber auch mit Einsamkeit. Personen vergleichen sich mit anderen und könnten zu dem Schluss kommen, dass andere hübscher sind, interessantere Erfahrungen machen, ein aufregenderes Leben haben. Dass es sich dabei oft um digital bearbeitete Bilder handelt oder nur gefiltert gepostet wird, wird dabei nicht gesehen. Dies kann sich dann negativ auf das Selbstwertgefühl auswirken und zu Niedergeschlagenheit und sozialem Rückzug führen.
Langfristige Folgen können auch ganz pragmatisch sein: z.B. der Verlust des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, Schulversagen, schlechte Studienleistungen oder Beziehungsprobleme.
Es finden sich z.B. Zusammenhänge zwischen Nomophobie und Depression aber auch mit Einsamkeit.
Prof. Görlich: Wie bei anderen Angsterkrankungen auch, kann eine kognitive Verhaltenstherapie zielführend sein. Die Betroffenen lernen problematische Denkmuster und Verhaltensweisen zu erkennen und zu verändern. Irrationale Überzeugungen und verzerrte Wahrnehmungen werden dabei hinterfragt. Diese können im Rahmen der Therapie überprüft und korrigiert werden. Auch ein Achtsamkeitstraining oder die Akzeptanz- und Commitment-Therapie können zielführend sein. Eine vollständige „Abstinenz“ vom Smartphone ist meist nicht das Behandlungsziel, es geht um den kontrollierten Umgang mit dem Smartphone.
Prof. Görlich: Ich empfehle eine kontrollierte Smartphone-Nutzung. Dazu gehört, das Smartphone möglichst nicht länger als 2 Stunden am Tag zu nutzen (gerne weniger), es so oft es geht zu Hause zu lassen, den Schwarz-Weiß Modus einzuschalten, Push-Benachrichtigungen abzuschalten und Apps zu löschen, die nicht gebraucht werden. Auch das Smartphone außer Sicht zu legen und sich alternative Beschäftigungen (z.B. ein analoges Hobby) zu suchen ist sinnvoll, um Nomophobie vorzubeugen.
Außerdem sollte das Smartphone nicht in dem Zimmer aufgeladen werden, in dem geschlafen wird und es sollte auch nicht als Wecker oder Uhr genutzt werden. Hier empfiehlt es sich, auf nicht-internetfähige Geräte auszuweichen, wie z.B. die herkömmliche Armbanduhr. Auch sollte das Umfeld informiert werden, dass Nachrichten nicht immer gleich gelesen werden, um u.a. den Anspruch an die ständige Verfügbarkeit zu reduzieren. Ein weiterer Tipp wäre, zu telefonieren anstatt zu schreiben. Die direkte Kommunikation spart einerseits oft Zeit und andererseits führt sie Menschen stärker zusammen, als beispielsweise zehn Textnachrichten.
Prof. Görlich: Hier ist es wichtig, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, zu erklären, wohin ein übermäßiger Smartphone-Konsum führen kann, es kommt auch immer auf das Alter der Kinder an. Bei jüngeren Kindern sollten Eltern genau darauf achten, was mit dem Smartphone gemacht wird und auch konsequente Auszeiten vom Smartphone und kurze Zeiten für die Smartphone-Nutzung vereinbaren. Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist dies oft nicht mehr so einfach umzusetzen, was wiederum schon Anzeichen von Nomophobie sein können. Wichtig ist es auch als Eltern ein gutes Vorbild zu sein. So können Sie z.B. vereinbaren, dass die Mahlzeiten smartphonefrei sind, um die Kommunikation innerhalb der Familie zu fördern.
Wichtig ist es auch als Eltern ein gutes Vorbild zu sein.
Prof. Görlich: Nomophobie ist ein relativ junges Phänomen. Erstmals wurde es 2008 erwähnt und gewann durch den Siegeszug des Smartphones schnell an Popularität. Studien beziehen sich oft auf die Prävalenz in verschiedenen Bevölkerungsgruppen sowie auf intra- und interindividuelle Unterschiede. Es wird erforscht, welche Persönlichkeitsmerkmale oder sozialen Bedingungen zur Entwicklung von Nomophobie beitragen.
Im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion wird untersucht, wie spezifische Smartphone-Funktionen oder Apps und Benachrichtigungssysteme Nomophobie verstärken oder reduzieren. Auch die langfristigen Folgen von Nomophobie stehen im Forschungsinteresse. Viele Studien waren bisher Querschnittsstudien, d.h. zu einem Messzeitpunkt wurden unterschiedliche Variablen erhoben, deren Korrelation berechnet wird. Diese Ergebnisse sagen oft nichts über die Wirkrichtung aus. Deshalb sind Längsschnittstudien oder randomisierte Kontrollgruppenstudien wichtig, um Kausalaussagen zu treffen.
Wir untersuchen derzeit, wie genau eine kontrollierte Smartphone-Nutzung Nomophobie reduzieren kann, aber auch, welche Rolle soziale Medien hinsichtlich Einsamkeit oder Wohlbefinden spielen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 03.07.2024.