Myasthenia gravis ist eine Erkrankung, bei der die Übertragung des Signals vom Nerv auf den Muskel gestört ist. Es kommt zu einer Schwächung von Muskeln, die sich in verschiedenen Symptomen äußert. Die Erkrankung wird vollständig als Myasthenia gravis pseudoparalytica bezeichnet, dies bedeutet in etwa „schwere Muskelschwäche mit scheinbarer Lähmung“. Die vermeintliche Lähmung ist nicht dauerhaft, sondern es handelt sich um eine stark erhöhte Tendenz des Muskels, zu ermüden. Manchmal wird die Erkrankung einfach Myasthenie genannt.
Die Myasthenia gravis ist selten. Die Schätzungen zur Häufigkeit gehen stark auseinander, ungefähr dürfte sie 10 von 100.000 Personen betreffen. Am häufigsten erkranken Menschen zwischen 30 und 40 Jahren, wobei aber jede Altersklasse betroffen sein kann. Zu circa 10 Prozent tritt die Erkrankung bereits bei Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahren auf. Betroffene Frauen erkranken etwas häufiger, im Durchschnitt schon früher im Leben und etwas schwerwiegender als Männer.
Die Myasthenia gravis ist eine Muskelschwäche-Erkrankung, die aufgrund einer Störung der Impulsübertragung zwischen dem Nerv und dem Muskel besteht. Dieser Vorgang wird auch neuromuskuläre Übertragung genannt. Die sogenannte motorische Endplatte des Muskels ist bei der Myasthenia gravis beeinträchtigt. Die Bindungsstellen (Rezeptoren) für das Übertragungs-Molekül Acetylcholin sind geschädigt. Dies kommt dadurch zustande, dass Antikörper gegen Gewebe des eigenen Körpers (Autoantikörper) gebildet werden, in diesem Fall gegen die Acetylcholin-Rezeptoren des Muskels. Es handelt sich bei der Myasthenia gravis damit um eine Autoimmunerkrankung, denn eine Fehlreaktion des körpereigenen Immunsystems löst die Störungen aus.
Die schädlichen Antikörper stammen in den meisten Fällen aus einem Organ des Immunsystems innerhalb des Brustkorbs, dem Thymus. Daher zeigen sich auch bei fast 80 Prozent der Betroffenen mit Myasthenia gravis Auffälligkeiten am Thymus. Circa 65 Prozent der Patienten haben eine allgemeine Vergrößerung des Organs (Thymus-Hyperplasie), 10 bis 15 Prozent sind von einem (meist gutartigem) Tumor betroffen, dem Thymom.
Die Erkrankung kommt in den Familien der Betroffenen häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. Geschwister von Betroffenen bekommen zu etwa 4,5 Prozent ebenfalls eine Myasthenie.
Die Ausprägung der Myasthenia gravis scheint mit negativen psychischen Einwirkungen zusammenzuhängen. Häufig gab es vor dem Auftreten der symptomatischen Erkrankung ein Erlebnis, das den Betroffenen stark belastet wie beispielsweise ein Todesfall einer nahestehenden Person. Eine Schwangerschaft kann ebenfalls auslösend für die Myasthenie sein. Infektionskrankheiten mit Fieber, wenig Schlaf oder Alkoholkonsum sowie Medikamente sind weitere Faktoren, die die Beschwerden fördern können.
Die Myasthenia gravis verläuft individuell sehr unterschiedlich. Die Erkrankung beginnt im Regelfall mit Lähmungserscheinungen an den Augenmuskeln. Zum einen kann das Lid nicht mehr richtig gehoben werden (Ptosis), zum anderen können die Muskeln beeinträchtigt werden, die den Augapfel bewegen. So kann es zu Doppelbildern kommen.
Die Erkrankung schreitet in den meisten Fällen allmählich voran. Etwa 80 bis 90 Prozent der Betroffenen bekommen weitere Muskelschwächungen am Körper. Prinzipiell kann es an allen Muskeln zu dieser Schwächung kommen, die aktiv bewegt werden können. Rein autonome Muskeln des Körpers wie etwa im Herz erfahren durch die Myasthenia gravis keine Einschränkungen. Die Gesichtsmuskeln können betroffen sein, ebenso die Muskeln, die den Kopf stabil halten. Das Gesicht kann dadurch schlaff und emotionslos wirken (Facies myopathica). Schluckstörungen und Probleme beim Sprechen treten ebenfalls oft auf. Auch können die körpernahen Muskeln der Gliedmaßen nach und nach mehr betroffen sein. Im Verlauf kommt es typischerweise zu einem Rückgang der Augenmuskel-Schwächung.
Beeinträchtigungen der Atembewegung aufgrund der Myasthenia gravis sind möglich. Das kann zu lebensbedrohlichen Zuständen führen, der Patient kann aufgrund zu schwacher Atemtätigkeit ersticken. Eine solchermaßen gefährdende Situation durch die Myasthenie wird als myasthene Krise bezeichnet.
Doch bei einigen Patienten ist eine deutliche Besserung der Symptomatik möglich. Circa 10 bis 20 Prozent der Menschen mit Myasthenie erholen sich teilweise oder vollständig von dem Krankheitsbild.
In der Regel kommt es im Tagesverlauf zusammen mit den Aktivitäten erst zu einer Verschlimmerung der Symptome. Wenn Patienten sich ausruhen, kommt es üblicherweise bald wieder zu einer Besserung. Weitere Einflussfaktoren spielen ebenfalls eine Rolle: Manche Medikamente können dazu führen, dass die Symptomatik der Myasthenie sich verschlimmert.
Die Erkrankung lässt sich von ihrem Ablauf her in mehrere Formen unterteilen. So gibt es eine generalisierte Form (Auftreten an vielen Körperstellen) und eine okuläre Form (Auftreten vornehmlich am Auge). Ebenso lässt sich eine jugendliche Myasthenia gravis (EOMG, Early Onset Myasthenia gravis), die schon bei Kindern und Jugendlichen in Erscheinung tritt, und eine Spätform (LOMG, Late Onset Myasthenia gravis) ausmachen, die oft bei Menschen über 50 Jahren vorkommt. Letztere betrifft häufiger Männer als Frauen.
In einem Arzt-Patienten-Gespräch (Anamnese) wird auf die Symptome eingegangen. Hinweisend sind z. B. Doppelbilder, das herabhängende Lid oder Schluckstörungen. Der Patient wird befragt, wann die Symptome sich verstärken und wann sie besser werden. Die körperliche, hauptsächlich neurologische Untersuchung zeigt entsprechende Muskelschwächungen. Insbesondere lässt sich bei schnell wiederholten Aktivitäten wie beispielsweise dem Auf- und Zumachen der Hand eine rasche Ermüdung feststellen. Schauen die Patienten eine Zeit lang nach oben, dann fällt das Oberlid langsam weiter herunter (Simpson-Test). Weitere einfache Tests zur Muskelermüdung vor allem am Auge folgen.
Der Tensilon®-Test ist eine Untersuchung, bei der dem Patienten der Wirkstoff Edrophonium in die Vene gespritzt wird. Wird die Muskelschwächung dadurch in kurzer Zeit aufgehoben, dann ist dies ein starker Hinweis auf Myasthenia gravis. Ähnlich funktioniert der Prostigmin®-Test: Hier wird ein Wirkstoff (Neostigmin) aber in den Muskel injiziert. Edrophonium und Neostigmin sind Mittel, die zu einem verminderten Abbau der Substanz Acetylcholin führen (Cholinesterase-Hemmer), so dass davon zwischen Nerv und Muskel mehr zur Verfügung steht. Das Nervensignal kann besser übertragen werden. Die Tests sind aber nicht endgültig aussagekräftig, denn es gibt immer einmal falsche Untersuchungsergebnisse.
In vielen Fällen lässt sich ein Nachweis der Antikörper im Blut (Serum) erbringen, die gegen den Acetylcholin-Rezeptor gerichtet sind. Diese Antikörper finden sich bei circa 50 Prozent der Betroffenen mit okulärer (auf die Augen begrenzten) Myasthenia gravis, bei knapp 90 Prozent der auf weitere Körperteile ausgedehnten Myasthenie und bei fast allen Patienten, die aufgrund eines Thymoms (Thymus-Tumors) eine Myasthenia gravis haben. Der Antikörper-Nachweis gelingt aber nicht immer und er ist nicht unbedingt notwendig, um die Myasthenia gravis festzustellen. Auch finden sich solche Antikörper bei anderen Krankheiten wie z. B. dem Lambert-Eaton-Syndrom oder bei ALS (amyotrophe Lateral-Sklerose). Bei der Myasthenia gravis können auch andere Antikörper auffällig werden, die gegen bestimmte weitere Strukturen an den Muskeln gerichtet sind.
Das Organ Thymus muss untersucht werden. Das lässt sich mit einer Computertomographie (CT) durchführen, manchmal erfolgt auch eine Kernspintomographie (MRT). Sollte dabei ein Thymom (Tumor) festgestellt werden, dann ist eine Operation erforderlich. Mit Hilfe der Operation lässt sich untersuchen, ob es sich bei dem Tumor um einen gutartigen oder einen bösartigen Befund handelt.
Weiterhin erfolgt eine elektrophysiologische Untersuchung, eine Elektromyographie (EMG). Wird der Nerv auf eine bestimmte Weise stimuliert, zeigen sich bei der Myasthenie oft typische Auffälligkeiten in der elektrischen Antwort. Es kommt schnell zu einer Abnahme der Höhe des Ausschlags im Diagramm. Wird dann ein Wirkstoff aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer gegeben, dann wird die Höhe des Ausschlags wieder größer.
Um einzelne Krankheiten voneinander zu unterscheiden wie z. B. Erbsyndrome, kann in besonderen Fällen eine Gewebeentnahme (Biopsie) am Muskel sinnvoll sein.
Andere Erkrankungen an den Muskeln können ein ähnliches Erscheinungsbild wie die Myasthenia gravis bedingen. Dazu gehört das Lambert-Eaton-Syndrom (eine andere, seltenere Störung der Übertragung vom Nerv zum Muskel), weiterhin Myopathien (Erkrankungen direkt im Muskel) und Myositiden (Muskelentzündungen). Bei einem ersten Auftreten der Myasthenie-Symptome an den Augen kommt zudem eine Augenhöhlen-Schwellung aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung als andere mögliche Diagnose in Betracht (endokrine Orbitopathie) sowie unter Umständen eine Multiple Sklerose (MS).
Die Myasthenia gravis weist eine relativ günstige Prognose auf. Erfolgt eine angemessene Therapie der Erkrankung, dann bleiben die Einschränkungen durch die Muskelstörung gering. Der größte Teil der Betroffenen kann mit der Erkrankung grundsätzlich problemlos zurechtkommen und beruflichen Tätigkeiten und Hobbys nachgehen. Dabei bestehen bei den meisten allerdings leichte Beeinträchtigungen in der Muskelkraft und Belastungsfähigkeit. Die Lebenserwartung ist nicht herabgesetzt.
Eine Behandlung durch geeignete Medikamente hilft den meisten Patienten, die an der Myasthenie leiden. Die gängigen Mittel zeigen auch über lange Sicht eine Wirkung.
Wird der Thymus operativ herausgenommen, dann dauert es einige Zeit (mitunter Jahre), bis sich die Symptome bessern. Der Eingriff bessert zu circa 70 Prozent die Myasthenie.
Wenn gar keine Behandlung der Myasthenia gravis geschieht, dann sind die Aussichten allerdings wesentlich schlechter. Früher kam es ohne entsprechende Therapie in circa einem Drittel der Fälle zum Tod des Patienten nach wenigen Jahren.
Eine sehr gering ausgeprägte Myasthenia gravis wird zunächst nicht behandelt, sondern nur beobachtet. Ansonsten ist eine Therapie mit Medikamenten möglich oder auch mit einer Operation, um den Thymus zu entfernen.
In der Regel wird eine Therapie mit Medikamenten durchgeführt. Dazu werden Mittel gegeben, die das Immunsystem bremsen (Immunsuppressiva). Cortison (Prednison, Prednisolon) kommt dabei ebenso zum Einsatz wie der Wirkstoff Azathioprin (Imurek®), der das Zellwachstum hemmt. Vor allem Azathioprin kann in der Regel langfristig eingesetzt werden. In einigen Fällen müssen weitere Mittel verabreicht werden, die eigentlich für die Myasthenie nicht zugelassen sind (sogenannter Off-Label-Use). Das ist beispielsweise gerechtfertigt, wenn die üblichen Medikamente keine ausreichende Wirkung zeigen oder nicht vertragen werden. Ist die Therapie mit den gängigen Mitteln nicht wirkungsvoll, dann kann insbesondere der Wirkstoff Rituximab (MabThera®) Erfolg bringen.
Wirkstoffe, die den Abbau der wichtigen Substanz Acetylcholin hemmen, können die Symptome reduzieren. Zu diesen Wirkstoffen gehört Pyridostigmin (Kalymin®, Mestinon®). Die Mittel wirken eher am ganzen Körper als am Auge, das oft weiterhin eine stärkere Einschränkung erfährt. Allerdings können die Acetylcholinesterase-Hemmer nicht langfristig erfolgreich gegeben werden können. Sie büßen im Laufe der Zeit an Wirkung ein. Zudem können sie schnell überdosiert werden: Das Krankheitsbild einer cholinergen Krise entsteht und erfordert intensive Maßnahmen zur Eindämmung.
Kommt es innerhalb eines Jahres zu keiner Besserung, dann wird häufig der Thymus aus dem Brustraum entfernt. Damit wird das Organ entfernt, das die krankheitsbringenden Antikörper bildet. Ein solcher Eingriff (Thymektomie) kommt beispielsweise in Frage, wenn bei Patienten im jugendlichen Alter bis mittleren Erwachsenenalter an anderen Körperstellen als den Augen Myasthenie-Symptome zeigen. Kinder zwischen 5 und 10 Jahren können von der Thymektomie profitieren, wenn die Medikamentengabe nicht genügend hilft. Eine Organvergrößerung des Thymus oder bei einem Tumor (Thymom) sollte unabhängig von der Myasthenie zu einer Thymusentfernung veranlassen.
Die myasthene Krise erfordert eine Behandlung durch die Intensivmedizin. Eine akute Therapie bei einer myasthenen Krise ist in dem Sinne möglich, dass die Antikörper entfernt werden. Das geschieht, indem eine sogenannte Plasmapherese durchgeführt wird, die das Blut von den Antikörpern reinigt. Alternativ kann eine Gabe von Antikörpern über die Vene sinnvoll sein (IVIG = intra-venöses Immunglobulin G), um die Symptome rasch zu verbessern. Auch kann Pyridostigmin über die Vene gegeben werden. Patienten müssen künstlich beatmet werden und bekommen je nach den Auswirkungen der Erkrankung weitere Behandlungsmaßnahmen. In schwersten Fällen müssen Reanimations-Maßnahmen eingeleitet werden.
Alternativmedizinisch sind nur wenige Mittel bekannt, die bei einer Myasthenia gravis angewendet werden. In der Pflanzenheilkunde (Phytotherapie) lässt sich Galantamin (z. B. Reminyl®), ein Mittel aus dem Schneeglöckchen, verwenden. In der Homöopathie wird unter anderem Curare als Heilmittel eingesetzt, mit dem jedoch äußerst vorsichtig umgegangen werden muss, denn eine Überdosierung ist lebensbedrohlich. Zu beachten ist, dass die Anwendung jedes Medikaments unbedingt zuvor mit dem Arzt abgesprochen werden muss. Dieser kann bewerten, ob es Risiken bezüglich der bestehenden Myasthenie gibt. Auch darf nicht auf eine notwendige Therapie mit schulmedizinischen Mitteln verzichtet werden.
Einige Medikamente sollten Betroffene mit Myasthenia gravis nicht einnehmen oder nicht verabreicht bekommen. Die Mittel können die Erkrankung verschlimmern und eine myasthene Krise verursachen. Nicht angewendet werden sollten unter anderem Entwässerungsmedikamente (Diuretika), Beta-Blocker, bestimmte Antibiotika und Schlafmittel (Barbiturate und Benzodiazepine). Im Zweifelsfall wägt der Arzt Nutzen und Risiko der Medikamente ab.
Neben den Medikamenten sollten Patienten alles vermeiden, was eine stärkere psychische und emotionale Belastung oder Stress bedeutet. Dies könnte die Myasthenie-Symptomatik verstärken. Auch sollten Betroffene auf Alkohol und Rauchen verzichten. Zudem enthalten einige Getränke (beispielsweise Tonic Water) die Substanz Chinin, die zugleich eines der nicht erlaubten Medikamente ist. Um die Beschwerden nicht zu verschlimmern, sollte darauf verzichtet werden.
Eine Vorbeugung der Myasthenie ist in dem Sinne nicht möglich, da es sich um eine Erkrankung mit autoimmuner Entstehung handelt, die so nicht verhindert werden kann. Da aber psychische Belastungssituationen die Myasthenie fördern können, ist es sinnvoll, diese (so weit es geht) gering zu halten.
aktualisiert am 06.04.2023