Prof. Raedler: Morbus Crohn ist eine entzündliche Darmerkrankung. Sie hat keine infektiös-entzündliche, sondern eine immunologisch-entzündliche Ursache und ist eine regulatorische Störung, die das ganze Immunsystems betrifft.
Prof. Raedler: Morbus Crohn ist eine Western Lifestyle Erkrankung, die sich über den Planeten ausgebreitet hat wie Coca-Cola und McDonald’s, ohne die beiden direkt beschuldigen zu wollen. Morbus Crohn wurde quasi in den USA erfunden, wurde nach Mitteleuropa und Nordeuropa importiert und hat dann den Rest des Planeten erobert. Es spricht sehr viel dafür, dass die Erkrankung durch Substanzen in unserer industriellen Nahrung verursacht wird, für die unser Immunsystem keine Vorinformationen besitzen kann, da Sie erst in den letzten 100 Jahren synthetisiert wurden.
Auf diese Substanzen reagiert das Immunsystem bei disponierten Menschen, als wären sie infektiöse oder toxische Bedrohungen. Gefährdet sind also Menschen mit einem eher offensiven Immunsystem (genetisch bedingt), die weiteren äußeren Risikofaktoren ausgesetzt sind. Hauptsächlich sind Patienten im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt betroffen, aber es gibt auch sehr viele Kinder und Jugendliche sowie auch ältere Menschen, die an Morbus Crohn erkranken.
Wir haben eine Studie mit eineiigen Zwillingen durchgeführt. Dabei hatten 50% der Zwillinge beide die Erkrankung, das spricht für einen genetischen Hintergrund. Bei 50% der Zwillinge, obwohl sie genetisch identisch sind, war nur einer betroffen. Wenn man die Biografie dieser Patienten analysiert, unterschieden sich diese insbesondere durch Ernährung einerseits und ihrer Stressbelastung andererseits.
Morbus Crohn ist eine Western Lifestyle Erkrankung...
Prof. Raedler: Morbus Crohn ist eine Durchfallerkrankung. Dabei kommt es zu vermehrten Stuhlentleerungen mit flüssigem, breiigem und gelegentlich blutigem Stuhl. Die Stuhlgänge sind oft imperativ, d.h. die Patienten haben Mühe, rechtzeitig eine Toilette zu finden. Das zweite Symptom sind chronische, krampfartige Bauchschmerzen, unter denen die Patienten leiden, auch in der Nacht mit Störung der Nachtruhe. Das dritte obligate Symptom ist ein ausgeprägtes allgemeines Krankheitsgefühl. Aufgrund der systemischen immunregulatorischen Störung, können aber auch andere Organe betroffen sein, insbesondere Gelenke (CED-Rheuma), Haut, Augen und Schilddrüse.
Es handelt sich also um eine Erkrankung, die generell viele Organe betreffen kann. Neben Genetik, Ernährung und Stressbelastung ist die Einnahme von Medikamenten, insbesondere von Schmerzmitteln und Antibiotika, ein Manifestations-Faktor.
Prof. Raedler: Wenn die Durchfälle und die Schmerzen länger als eine Woche anhalten, muss man spätestens einen Arzt aufsuchen. Der nimmt dann eine Blutuntersuchung vor, mit der man eine chronische Entzündung schon vermuten kann. Außerdem wird eine Stuhluntersuchung vorgenommen (Analyse des fäkalen Calprotectins), die uns sagt, wie viele Entzündungszellen in der Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes vorhanden sind. Dann wird die Diagnose durch eine Endoskopie, also eine Darmspiegelung mit Entnahme von Gewebeproben, gesichert.
Prof. Raedler: Die beiden Krankheiten haben klinisch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Beide sind Magen-Darm-Erkrankungen, die mit Durchfällen (Diarrhöen) einhergehen. Die Colitis ulcerosa ist eher weniger schmerzhaft, aber blutige Durchfälle sind häufiger. Bei der Colitis ulcerosa ist die Entzündung meist am Ende des Dickdarms, dem Rektum und Kolon, am stärksten ausgeprägt und dann kontinuierlich in den oberen Abschnitten des Dickdarms nachweisbar, seltener auch am Ende des Dünndarms. Im Gegensatz dazu kann der Morbus Crohn überall im Magen-Darm-Trakt auftreten, ist nicht kontinuierlich, sondern segmental ausgeprägt. Analysiert man die endoskopisch gewonnenen Gewebeproben, so ist die Entzündung bei Morbus Crohn in der Regel in der gesamten Darmwand zu finden, während sie bei Colitis ulcerosa meist auf die Schleimhaut selber begrenzt ist.
Beide sind Magen-Darm-Erkrankungen, die mit Durchfällen (Diarrhöen) einhergehen.
Prof. Raedler: Das kann man nicht pauschal beantworten. Im Einzelfall ist die Prognose von der Schwere und Lokalisation der Erkrankung, dem Erkrankungsalter, dem Auftreten auch in anderen Organen, etwa der Leber, der familiären Krebsbelastung und natürlich auch von der sachgerechten Diagnose und Therapie der Erkrankung - einschließlich einer einfühlsamen ärztlichen Betreuung - abhängig. Sowohl die Colitis ulcerosa als auch Morbus Crohn können einen schweren, aber auch einen sehr milden Verlauf nehmen.
Prof. Raedler: Man versucht das Immunsystem so zu kontrollieren, dass die Patienten vor den übergriffigen entzündlichen-immunologischen Aktionen geschützt werden. Um die überschießende Immunaktivität zu bremsen, stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung. In der Stufe 1 wird Kortison (Prednisolon bzw. Budesonid, als Tablette, Einlauf, Schaum oder Zäpfchen) eingesetzt.
In der zweiten Stufe kommen Immunsuppressiva zum Einsatz. Dieser Ansatz spielte früher eine wichtige Rolle, ist aber heute wegen geringerer Effektivität und nicht akzeptablen Nebenwirkungen weitgehend verlassen, zumindest bei schwereren Verläufen. In der dritten Stufe kommen Biologika oder Januskinase-Hemmer zum Einsatz.
Biologika sind Medikamente, die aus gentechnisch hergestellten Antikörpern bestehen und bestimmte Botenstoffe des Immunsystems abfangen. Diese Biologika (zum Beispiel Infliximab, Stelara, Entyvio oder Skyrizi) gelten als entscheidender Fortschritt und haben die Prognose der Erkrankung erheblich verbessert und werden als Infusion oder als subkutane Injektion gegeben. Jak-Kinase-Inhibitoren (zum Beispiel Rinvoq) haben eine ganz ähnliche Wirkung, sind aber als Tabletten verfügbar. Auch die Wanderung der Entzündungszellen kann durch solche Medikamente manipuliert werden, den Start aus den Lymphknoten (durch Zeposia) und das Andocken am Zielort in der Schleimhaut (Entyvio).
Man versucht das Immunsystem so zu kontrollieren, dass die Patienten vor den übergriffigen entzündlichen-immunologischen Aktionen geschützt werden.
Prof. Raedler: Das Immunsystem lässt sich durch die heute verfügbaren Medikamente so günstig beeinflussen, dass der Patient eine nahezu normale Lebensqualität wiedergewinnt. Im Verlauf findet aber eine Art Selbstheilung statt. Nach einer längeren Periode der Krankheit scheint das Immunsystem zu lernen, alle die äußeren Substanzen zu tolerieren, auf die es vorher mit Entzündung reagiert hatte.
Prof. Raedler: Die Medizin hat in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte erzielen können, insbesondere durch die Entwicklung hochwirksamer Medikamente wie Biologika und JAK-Kinase-Inhibitoren. Diese zusammen bieten uns eine breite Palette von Werkzeugen zur Behandlung von entzündlichen Darm-Erkrankungen. Gleichzeitig haben wir auch Verbesserungen in der Therapie der Darmfunktion erreicht. Dadurch kann die übermäßige Peristaltik reduziert werden, sodass die Patienten nicht mehr durch imperativen Stuhlfrequenzen von 20 oder 30 Mal am Tag gequält werden und wieder ein normales Leben führen können.
Ein weiterer Grund für unser besseren Umgang mit dieser Erkrankung ist das gestiegene Wissen um die bakterielle Darmflora (Mikrobiom), welcher eine wichtige Rolle bei den Verdauungsprozessen zukommt. Das Bewusstsein für eine gesunde Ernährung hat in unserer Gesellschaft insgesamt stark zugenommen, was aber für Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eine besondere Bedeutung besitzt. Die größere Achtsamkeit und und das vertiefte Wissen um das Mikrobiom bilden jetzt eine vielversprechende Grundlage für eine CED-gerechte Ernährung. Große Fortschritte gibt es darüber hinaus auch auf dem Gebiet des Anti-Stress-Coaching.
Gleichzeitig haben wir auch Verbesserungen in der Therapie der Darmfunktion erreicht.
Prof. Raedler: Wenn Sie an einer Krankheit leiden, die sie dazu zwingt, ständig auf ihren Stuhldrang achten zu müssen, um rechtzeitig Zugang zu einer Toilette zu finden, und sich deshalb kaum mehr aus dem Haus trauen, können sie sich vorstellen, wie so eine Krankheit wie der Morbus Crohn ihr Leben verändern kann. Dazu kommen immer wieder Schmerzattacken im Bauch oder auch den Gelenken, die Stigmatisierung durch die Darmerkrankung und die demütigen Situationen, denen sie ausgesetzt sein können. Ein normales Leben zu führen, ist erst dann wieder möglich, wenn eine effektive Therapie die Symptome ausreichend kontrolliert.
Prof. Raedler: Die genetischen Ursachen von Morbus Crohn aufzuklären ist immer noch das Ziel intensiver Forschung. Es sind schon viele Krankheits-assoziierte Gene gefunden, ohne dass diese Erkenntnisse bisher entscheidet die Diagnostik und Therapie optimiert haben. Hier steht uns noch ein großer Durchbruch bevor. Die Analyse des Mikrobioms durch Genom-Sequenzierung der mikrobiellen Flora wird in der Zukunft Erkenntnisse generieren, die eine große Bedeutung für unseren diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen haben werden. Pharmazeutische Unternehmungen haben zusammen mit den medizinischen Fakultäten sehr viel geleistet in der Entwicklung neuer innovativer Medikamente hinsichtlich der Therapie des Morbus Crohn. Hier ist auf weitere medikamentöse Optimierung zu hoffen. Aber auch im praktischen Management sind noch viele Freiräume für eine Verbesserung des Patientenwohls.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 05.04.2024.