Prof. Ziemssen: Da die Multiple Sklerose die „Erkrankung der 1000 Gesichter“ ist, gibt es kein spezifisches frühes Warnzeichen, das auf die MS hinweisen kann. Jedes neurologische Defizit, sei es eine Sehstörung, Gefühlsstörung, Koordinationsstörung oder motorische Störung u. a., die länger als 24 Stunden auftritt, ist grundsätzlich verdächtig für einen ersten Schub der Multiplen Sklerose, gerade wenn es sich um junge Patienten handelt. Die Früherkennung ist aber entscheidend, weil sie erst eine Frühintervention möglich macht, die langfristig prophylaktisch allein ein Fortschreiten der Erkrankung in vielen Fällen ermöglichen kann.
Da die Multiple Sklerose die „Erkrankung der 1000 Gesichter“ ist, gibt es kein spezifisches frühes Warnzeichen, das auf die MS hinweisen kann.
Prof. Ziemssen: In den meisten Fällen kommt es zur MS-Diagnose nach einem ersten klinischen Schub, der dann mittels Bildgebung und Neurologe zur Diagnose einer Multiplen Sklerose führt. Immer häufiger kommt es auch dazu, dass in einem aus anderen Gründen durchgeführten Kernspintomogramm des Gehirns MS-typische Läsionen gesehen werden, ohne, dass es bereits zu einem Schubsymptom gekommen ist. Dies bezeichnen wir als „radiologisch isoliertes Syndrom“. Es kann in manchen Fällen als Vorstufe der Multiplen Sklerose gelten. Neben der Verfügbarkeit immer besserer Bildgebung stehen uns heutzutage auch bei der Untersuchung des Gehirnwassers und Blutes neue Biomarker zur Verfügung, die zum einen die Diagnosequalität verbessern als auch eine erste Prognose möglich machen. Hier sind die Anti-Aquaporin-Antikörper zu erwähnen, die auf eine wichtige Differentialdiagnose der Multiplen Sklerose hinweisen können, die Neuromyelitis optica. Auf der anderen Seite haben wir mit den Leichtkettenneurofilamenten einen Marker, der aktuelle Neurodestruktionen anzeigen kann und damit aktuelle Inflammation messen kann.
Prof. Ziemssen: Ein aktueller MS-Patient wird in der Regel mit einer verlaufsmodifizierenden Therapie behandelt, wobei die Art der Therapie an die Verlaufsform und die Aktivität seiner Erkrankung angepasst wird. Zusätzlich kann eine symptomatische Therapie eingesetzt werden, wenn der Patient unter bestimmten Symptomen, wie z. B. Depression und Schmerzen leidet. Aktuell steht uns noch keine regenerierende, d. h. wiederherstellende Therapie zur Verfügung. Daher muss es darum gehen, neurologische Schaden möglichst prophylaktisch durch eine effiziente und zielgerichtete verlaufsmodifizierende Therapie zu vermeiden.
Prof. Ziemssen: Ja, ich überblicke jetzt schon fast 25 Jahre vom Studenten zum Professor die Innovationen im Bereich der Multiplen Sklerose. Diese zeigen sich zum einen im diagnostischen Bereich, was die Erstdiagnose und das Monitoring der Patienten signifikant verbessert und genauer macht. Auf der anderen Seite stehen uns immer mehr unterschiedliche Therapieoptionen zur Verfügung. Das bedeutet natürlich für uns, dass wir das Konzept der personalisierten Medizin vorantreiben müssen, um die richtige effiziente Therapie dem richtigen Patienten zuführen zu können.
Prof. Ziemssen: Als Hauptproblem sehe ich die notwendige Spezialisierung und damit erst mögliche hochqualitative Versorgung von MS-Patienten, die meiner Meinung nach nur in darauf spezialisierten Zentren möglich ist. Natürlich können kernspintomographische Bilder an unterschiedlichen Orten durchgeführt werden, allerdings ist der Mehrwert von hochqualitativ standardisierter Bildgebung bei der MS so deutlich, dass man als Patient darauf bestehen sollte. Auch die Möglichkeit, neue Biomarker einzusetzen, ist vor allem in spezialisierten Zentren gegeben. Grundsätzlich ist es wichtig, dass der Patient sich mit der Erkrankung beschäftigt und das beste, für ihn geeignetste Zentrum findet. Wir arbeiten daran, Werkzeuge zu entwickeln, dass der Patient selbst feststellen kann, ob seine aktuelle Versorgung ausreichend ist oder nicht.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass der Patient sich mit der Erkrankung beschäftigt und das beste, für ihn geeignetste Zentrum findet.
Prof. Ziemssen: Bei dem digitalen Zwilling handelt es sich um ein Hilfsmittel, das dem Patienten zur Verfügung steht. In Analogie zur Industrie, wo jedes Produkt oder Prozess in einer digitalen Kopie bereits vorliegt, um Prozesse zu optimieren und zu verfolgen, möchten wir anstatt komplexer Arztbriefe die vielfältigen Daten von MS-Patienten systematisch sammeln und parallel mit einem sog. digitalen klinischen Pfad, der dem Patienten zeigt, was an Untersuchung notwendig ist, an einem Ort ablegen, sodass Patient und behandelnder Arzt darauf zugreifen können. Perspektivisch ist es dann auch möglich, dass mit Hilfe dieser Daten von vielen digitalen Zwillingen Therapien vorausgesagt werden und Prognosen abgegeben werden können. Primär ist es aber auch ein Hilfswerkzeug, um dem Patienten beim komplexen Management der Erkrankung zu unterstützen. Auch der behandelnde Arzt profitiert letztendlich davon.
Prof. Ziemssen: Grundsätzlich gibt es Technologien, den sog. MS-Phänotyp zu charakterisieren, d. h . die Ausprägung von neurologischen Störungen zu messen. Hier gibt es z. B. Apps, bei denen unterschiedliche neurologische Funktionen gemessen werden können. Darüber hinaus gibt es aber auch bestimmte digitale Infrastrukturen, wie z. B. bei uns die Ganganalyse und Sprunganalyse, mit der z. B. Koordination, Motorik und Sensibilität getestet und quantitativ erfasst werden können, sodass im Langzeitverlauf eine Verlaufsbeurteilung möglich wird. Auch mit Hilfe einer Analyse der Sprache können wichtige neurologische Charakteristika bei Multipler Sklerose herausgearbeitet werden, ohne, dass jetzt eine spezifische Testung notwendig ist. Auch Virtual Reality, wie sie bei uns eingesetzt wird, kann z. B. helfen, die Funktion der oberen Extremität zu beschreiben. Neben dieser Vermessung neurologischer Funktionen kann digitale Technologie aber natürlich auch eingesetzt werden, um das Management zu unterstützen. Hier möchte ich als Beispiel die MS-DIGAs erwähnen, die helfen, die Krankheit zu managen und bestimmte Symptome verhaltenstherapeutisch zu therapieren. Grundsätzlich bietet die Digitalisierung ein weites Feld von Erfassung und Management des MS-Patienten.
Prof. Ziemssen: Es gibt immer vielfältige neue Therapien, die untersucht werden. So steht im Mittelpunkt aktueller Forschung die neue Klasse der Brutonschen Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi) im Vordergrund, wie sie von unterschiedlichen Firmen zurzeit entwickelt wird. Dies ist eine neue Zielstruktur zum therapeutischen Angriff. Hier hofft man durch eine Wirksamkeit auf andere Zielzellen spezifische Wirksamkeiten zu erreichen. Darüber hinaus werden neue Therapien erforscht, wie z. B. die Depletion von Immunzellen verbessert werden kann. Wie diese spezifisch im Gehirn hinter der Bluthirnschranke optimiert erfolgen kann. Auch die Möglichkeit regenerativer Therapien, die allerdings noch in ihren Kinderschuhen steckt, spielt eine wichtige Rolle.
Prof. Ziemssen: Auf jeden Fall wird sich die Therapie weiter optimieren. Wir können eine immer weitere Spezialisierung von Diagnostik, Monitoring und Therapie der Multiplen Sklerose erwarten. Diese Spezialisierung wird dazu führen, dass MS-Patienten eine für sie individuell angepasste Therapie erhalten. Die sog. personalisierte Medizin ist ja in aller Munde und auch in der MS ist es unsere Herausforderung, den Patienten die am besten geeignetste Therapie zukommen zu lassen.
Wir können eine immer weitere Spezialisierung von Diagnostik, Monitoring und Therapie der Multiplen Sklerose erwarten. Diese Spezialisierung wird dazu führen, dass MS-Patienten eine für sie individuell angepasste Therapie erhalten.
Prof. Ziemssen: Wenn ich mit einer solch komplexen Erkrankung wie der Multiplen Sklerose diagnostiziert werde, sollte ich mich an ein spezialisiertes Zentrum wenden, um sowohl von der Diagnostik als auch Therapie höchst qualitativ behandelt zu werden. Hier ist es genauso wie bei den Tumorerkrankungen, wo ich mich auch nur noch von ausgewiesenen Spezialisten behandeln lassen würde. Wichtig ist, dass ich mich auch mit der Erkrankung beschäftige und zum Experten der Erkrankung werde, um dann zusammen mit dem Arzt gemeinschaftlich wichtige Therapieentscheidungen fällen zu können. Wir bieten z. B. einmal im Monat einen Patientenpodcast (z.B. https://www.youtube.com/c/ZKNDD) an, wo die Patienten zu allen wesentlichen Themen und Neuerungen informiert werden. Gerade diese regelmäßige Schulung, um den Patienten zum Experten seiner Erkrankung zu machen, ist ein entscheidender Prozess und sollte eine wichtige Rolle im Management der MS-Erkrankung spielen.
Vielen Dank für das Interview!
aktualisiert am 23.08.2023