Prof. Axt-Gadermann: Das, was wir heute „Mikrobiom“ nennen, hieß früher Darmflora, Hautflora oder Schleimhautflora. Man versteht darunter die Gesamtheit aller Bakterien, Viren, Pilze und Archaeen (Einzeller), die im Verdauungstrakt, auf den Schleimhäuten oder der Haut leben. Den größten Anteil haben dabei die Bakterien, von denen wir etwa 100 Billionen beherbergen. Das ist tatsächlich eine unvorstellbar große Zahl an Mikroorganismen. Wollten wir sie alle zählen und würden pro Bakterie eine Sekunde benötigen, müssten wir etwa 3,2 Millionen Jahre zählen. Das zeigt die Dimension unseres Mikrobioms. Heute wissen wir, dass das Mikrobiom nicht nur beim Verdauen der Nahrung hilft und wichtige Pflanzenstoffe wie die sogenannten Polyphenole für uns Menschen erst verwertbar macht, sondern auch zahlreiche Erkrankungen fördern oder verhindern kann.
Prof. Axt-Gadermann: Der Darm des Kindes im Mutterleib ist weitgehend frei von Mikroorganismen. Besiedelt wird er erst durch bzw. nach der Geburt. Bei einer natürlichen Geburt nimmt das Kind Keime aus dem mütterlichen Geburtstrakt auf und diese sind die natürlichen und im Prinzip auch die idealen Erstbesiedler des Darms. Eine vaginale Entbindung schafft deshalb günstige Startbedingungen für ein gesundes Mikrobiom. Bei einer Kaiserschnittentbindung sind die ersten Bakterien, die das Kind aufnimmt, die, die sich auf der Haut oder der Kleidung der Eltern und Geburtshelfer befinden. Diese gehören normalerweise nicht zum „Startmikrobiom“.
Anschließend hängt die weitere Mikrobiomentwicklung davon ab, ob das Kind gestillt wird – auch das fördert die gesunde Darmbesiedelung – oder ob es Fläschchenkost bekommt. Die Hersteller von Babynahrung haben das Mikrobiom inzwischen aber auch schon im Blick und setzen probiotische Bakterien und präbiotische Ballaststoffe dem Milchpulver zu. Später wird das Mikrobiom und dessen Einfluss auf unsere Gesundheit von den Lebensbedingungen bestimmt. Nicht zu viel Hygiene und ausreichende Keimkontakte scheinen wichtig für das Mikrobiom in der Kindheit zu sein.
Kinder, die in größeren Familien oder auf einem Bauernhof aufwachsen, leiden seltener an Allergien und Neurodermitis, was man unter anderem auf die Konfrontation des Immunsystems mit verschiedenen Keimen zurückführt und diese Bakterien werden dann aus der Luft auch aufgenommen und integrieren sich zum Teil in die Darm- und Hautflora des Kindes. Eine sehr saubere Umgebung, wenig Aufenthalt im Freien, wenig Bewegung und Antibiotikatherapien sind hingegen Faktoren, die das Mikrobiom in jedem Lebensalter schädigen können. Das sensible kindliche Mikrobiom reagiert aber besonders empfindlich auf diese Einflüsse.
Prof. Axt-Gadermann: Ein gesundes Mikrobiom ist die Voraussetzung für unsere Gesamtgesundheit. Bakterien im Darm bilden unter anderem aus Nahrungsbestandteilen wie Ballaststoffen wichtige Metaboliten. Diese bleiben nicht im Darm, sondern gelangen über die Blutbahn zu fast jedem Organ. Sie können Entzündungen lindern oder verstärken, das Immunsystem sowie unsere Psyche und den Stoffwechsel beeinflussen. Heute weiß man, dass das Mikrobiom bei zahlreichen Erkrankungen eine wichtige Rolle spielt. Gerät die Balance der Bakterien aus dem Gleichgewicht, dann steigt das Risiko für verschiedene Krankheiten.
Ein gesundes Mikrobiom ist die Voraussetzung für unsere Gesamtgesundheit.
Prof. Axt-Gadermann: Zusammenhänge mit einer Veränderung des Darm-Mikrobioms sind unter anderem gut belegt für Übergewicht, Zuckerkrankheit, Allergien und Autoimmunerkrankungen, aber auch für Depressionen, Demenz und Parkinson. Bei chronischen Entzündungen spielt das Mikrobiom ebenso eine Rolle wie bei Arteriosklerose oder Bluthochdruck. Wird die Ausgewogenheit der Darmbakterien gestört zum Beispiel durch ballaststoffarme Ernährung oder eine Antibiotikatherapie, dann treten die Erkrankungen meistens nicht sofort auf, sondern erst nach mehreren Monaten.
Gut belegt ist der Zusammenhang zwischen Antibiotikatherapie und Gewichtszunahme. Durch die Medikamente wird das Mikrobiom teilweise stark geschädigt. In Studien ließen sich dann 6 bis 12 Monate später oft deutliche Gewichtszunahmen feststellen. Allerdings denkt man dann in der Regel nicht mehr daran, dass die Antibiotika die Ursache für die Gewichtsprobleme sein könnten und dass es sinnvoll sein könnte, das Übergewicht auch über das Mikrobiom anzugehen.
Bei Hauterkrankungen ist oft das Hautmikrobiom in Mitleidenschaft gezogen. Diese Zusammenhänge beginnt man gerade erst zu verstehen. Veränderungen des Hautmikrobioms spielen unter anderem bei Neurodermitis, Rosazea, Akne und Schuppenflechte eine Rolle.
Prof. Axt-Gadermann: Unsere Bakterien im Darm benötigen unter anderem spezielle Ballaststoffe, die sie verstoffwechseln können. Das Mikrobiom leidet deshalb bei einer ballaststoffarmen „westlichen“ Ernährung. Auch ein bewegungsarmer Lebensstil, Stressbelastung, Medikamente wie Antibiotika oder Protonenpumpenhemmer beeinflussen die Bakterienzusammensetzung. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass auch verschiedene Süßstoffe Einfluss auf die Bakterien haben. Werden häufig Süßstoffe verzehrt, dann führt das dazu, dass die Mikroorganismen im Darm mehr Kohlenhydrate aus der Nahrung ziehen, als bei einer Ernährung ohne künstliche Süßstoffe. Dadurch steigt das Risiko für Übergewicht und Zuckerkrankheit deutlich.
Auch sogenannte „Darmreinigungen“, wie man sie gerne vor Fastenkuren durchführt (Glaubern, Kolonhydrotherapie) spülen Unmengen nützlicher Bakterien aus und schädigen so das Mikrobiom. Der einzige Grund, der eine Darmreinigung rechtfertigt, ist die Vorbereitung auf eine Darmspiegelung. Anschließend sollte man sich aber sehr gut ums Mikrobiom kümmern, um dieses wieder zu stabilisieren.
Unsere Bakterien im Darm benötigen unter anderem spezielle Ballaststoffe, die sie verstoffwechseln können.
Prof. Axt-Gadermann: Ja, das ist möglich und funktioniert mit einer „Mikrobiomanalyse“. Diese neuen Analysemethoden stehen seit Mitte der 2000er Jahre zur Verfügung. Vorher musste man die Bakterien auf Nährböden anzüchten. Allerdings ließ sich damit nur ein kleiner Bruchteil der Mikroorganismen bestimmen. Einige Labore bieten aber immer noch die „alten“ Methoden als Darmcheck oder Darmfloraanalysen an.
Mit den modernen Methoden lassen sich deutlich mehr Bakterien nachweisen und dadurch wird das Ergebnis sehr viel aussagekräftiger. Für die Analyse wird eine Stuhlprobe in ein mikrobiologisches Labor geschickt. Das kann durch den Arzt erfolgen oder man bestellt ein Test-Kit zur Mikrobiomanalyse im Internet. Die Auswertung erfolgt in allen Fällen in spezialisierten Laboren. Meistens sind die Ergebnisauswertungen der selbst eingeschickten Proben für den Laien aber verständlicher, da der Anbieter in diesen Fällen weiß, dass die Zielgruppe keine Experten oder Mediziner sind und die Formulierungen entsprechend angepasst werden.
Prof. Axt-Gadermann: Im Idealfall liegt das Ergebnis einer Mikrobiomanalyse vor. Dann kann man gezielt etwas tun, um manche Bakterien zu unterstützen, andere eher zu dezimieren. Allein nur eine Bakterienkapsel zu nehmen, reicht meistens nicht aus. Je nach Bakterienstamm braucht es unterschiedliche Maßnahmen, die ich auch in meinem Buch „Mikrobiomanalyse verstehen und richtig interpretieren“ zusammengefasst habe.
Aber es gibt natürlich auch ein paar grundsätzliche Empfehlungen. Unser Mikrobiom entwickelt sich gut mit einer ballaststoffreichen, pflanzenbetonten Ernährung. Besonders wichtig sind so genannte „präbiotische Ballaststoffe“. Diese könnte man auch als Bakterienfutter bezeichnen, denn die meisten dieser Pflanzenfasern fördern die Entwicklung nützlicher Mikroorganismen. Man findet diese Präbiotika unter anderem in fast allen Zwiebel- und Lauchgemüsen, Hülsenfrüchten, Haferflocken, Vollkornprodukten. Aber auch Genussmittel wie Kaffee, grüner und schwarzer Tee, Rotwein, dunkle Schokolade sowie Mandeln und Nüsse tun den Darmbakterien gut.
Studien belegen, dass zum Beispiel Mandeln oder auch dunkel Schokolade das Darmmikrobiom verbessern können, indem sie die gesunde Vielfalt der Darmbakterien erhöhen und gleichzeitig die Zahl schädlichen Bakterien verringern. Zahlreiche wissenschaftliche Studien konnten zudem nachweisen, dass auch regelmäßige Bewegung zu einem gesünderen Mikrobiom führt. Absolvierten vielsitzende Büromitarbeiter täglich eine Bewegungseinheit, verbesserte sich der Zustand der Darmflora schon nach wenigen Wochen. Ebenso wirkt sich eine gute Vitamin-D-Versorgung und eine ausreichende Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren günstig auf die Zusammensetzung des Mikrobioms aus.
Sinnvoll können auch probiotische Bakterien wie Bifidobakterien, Lactobazillen oder bestimmte Streptokokken sein. Diese sollten ausreichend hoch dosiert sein. Eine sinnvolle Tagesdosis liegt bei 10 bis 20 Milliarden Bakterien. Die Wirksamkeit kann verstärkt werden, wenn die Bakterien mit mehreren Gramm präbiotischer Ballaststoffe kombiniert werden. Kapselpräparte sind zwar leicht einzunehmen, enthalten aber meistens weniger als ein halbes Gramm Präbiotika, weshalb man in der Regel mit einem Pulverpräparat deutlich mehr Ballaststoffe zuführen kann.
Aber auch Genussmittel wie Kaffee, grüner und schwarzer Tee, Rotwein, dunkle Schokolade sowie Mandeln und Nüsse tun den Darmbakterien gut.
Prof. Axt-Gadermann: Ja, dazu gibt es zahlreiche Studien. Jede Änderung des Ernährungsverhaltens beeinflusst die Zusammensetzung des Mikrobioms. Nahrungsmittel verändern das Verhältnis der Bakterien zueinander, haben Auswirkungen auf die wichtige bakterielle Vielfalt und auch die Menge der Stoffwechselprodukte, die von den Bakterien produziert werden. Je konsequenter die Ernährungsumstellung, desto deutlichere Veränderungen lassen sich nachweisen – im Positiven wie im Negativen. Erste Veränderungen lassen sich nach wenigen Tagen feststellen, fällt man dann aber wieder in alte Ernährungsgewohnheiten zurück, ändert sich auch das Mikrobiom wieder.
Prof. Axt-Gadermann: Ja, das stimmt! Es gibt tatsächlich deutliche Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmflora zwischen schlanken und übergewichtigen Personen. Bei Übergewicht und Adipositas ist unter anderem das Verhältnis der beiden dominierenden Bakterienstämme Bacteroidetes und Firmicutes in Schieflage geraten. Firmicutes nutzen die Nahrung besser aus. Nimmt die Zahl dieser „Moppelbakterien“ nur um 20 Prozent zu, dann werden Tag für Tag etwa 150 Kilokalorien zusätzlich in den Körper aufgenommen. Das hört sich zunächst nicht viel an, summiert sich aber im Lauf eines Jahres auf rund acht zusätzliche Kilos!
Außerdem besitzen Menschen mit Gewichtsproblemen meistens eine zu geringe Artenvielfalt (Diversität) der Darmflora, das heißt, die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft ist eintönig und ihnen fehlen zahlreiche gewichtsregulierende Bakterien oder diese sind unterrepräsentiert. Bei vielen Übergewichtigen besteht ein Mangel an Bifidobakterien im Darm und auch Keime mit so schönen Namen wie „Faecalbacterium prausnitzii“ oder „Akkermansia muciniphilia“ fehlen.
Prof. Axt-Gadermann: Eigentlich werden täglich neue Erkenntnisse gewonnen. Das Mikrobiom ist ein Gebiet, auf dem momentan enorm viel geforscht wird. Interessant ist sicher seine Bedeutung für die moderne Krebstherapie. Tatsächlich beeinflusst der Zustand des Mikrobioms das therapeutische Ansprechen auf Krebs-Immuntherapien aus der Gruppe der Checkpoint-Inhibitoren. Ob diese Mittel gut oder schlecht wirken, ist, wie man inzwischen weiß, zu einem großen Teil davon abhängig, welche Bakterien die Patienten im Darm haben.
Teilweise kann man die Wirksamkeit durch die Gabe geeigneter probiotischer Bakterien verstärken. Ähnliches hat man auch bei Impfungen nachweisen können. Erhielten Patienten vor der Impfung Antibiotika, die das Mikrobiom schädigten, bildete das Immunsystem weniger Abwehrstoffe gegen die Erreger. In anderen Untersuchungen erhielten die Probanden zusammen mit der Impfung probiotische Bakterien. Dadurch gab es weniger Impfnebenwirkungen und die Patienten entwickelten eine bessere Abwehr gegen die Erreger.
Interessant ist sicher seine Bedeutung für die moderne Krebstherapie.
Prof. Axt-Gadermann: Über die so genannte Darm-Hirn-Achse steht der Darm mit dem Gehirn in Verbindung. Diese Verbindung besteht aus einer direkten Nervenverbindung, dem Nervus vagus sowie Stoffwechselprodukten, die im Darm gebildet werden und über die Blutbahn direkt oder indirekt das Gehirn und damit auch die psychische Gesundheit beeinflussen können. Interessant ist, dass nach der Übertragung des Mikrobioms depressiver Personen auf Mäuse die Mäuse auch depressionsähnliches Verhalten zeigten, also weniger fraßen, Kontakte zu Artgenossen mieden und weniger aktiv waren. Außerdem veränderten sich im Gehirn der Mäuse die Spiegel verschiedener Nervenbotenstoffe, sogenannter Neurotransmitter. Die vormals gesunden Nager bildeten dann weniger stimmungsaufhellende Metaboliten.
Das Mikrobiom kann aber auch Ansatzpunkt für eine unterstützende Therapie sein. Bei depressiven Patienten ergab die Mehrzahl der Studien eine deutliche Verbesserung der Symptome durch die Gabe probiotischer Bakterien. Die Evidenz für Probiotika zur Linderung depressiver Symptome ist relativ überzeugend.
Prof. Axt-Gadermann: Die Zusammenhänge zwischen dem Darmmikrobiom und dem Gesundheitszustand bzw. dem Risiko für Krankheiten ist aktuell schon sehr gut untersucht. Spannende zukünftige Ansätze ergeben sich aus der Erforschung des Hautmikrobioms. Das Hautmikrobiom spielt bei Hautkrankheiten ebenso eine Rolle wie bei der Hautalterung oder dem UV-Schutz.
Bei Neurodermitis ist das Hautmikrobiom nachweislich gestört und es breiten sich Bakterien mit der Bezeichnung „Staphylococcus aureus“ aus. Staphylococcus aureus ist ein Faktor, der Neurodermitis verschlechtert und zu Juckreiz, Entzündungen und Nässen der Haut führt. Je mehr Staphylokokken auf der Haut sind, desto schlimmer verläuft normalerweise die Erkrankung. In einem eigenen Forschungsprojekt konnten wir unter anderem nachweisen, dass sich Juckreiz, Ekzeme und Hauttrockenheit durch ein Bad mit lebenden, aktiven probiotischen Bakterien nach wenigen Tagen deutlich bessern. Die Zahl der Staphylococcus aureus Bakterien ging dadurch in 14 Tagen um mehr als 80% zurück.
Danke für das Interview!
Publikationen zum Mikrobiom von Prof. Dr. Michaela Axt-Gadermann:
Letzte Aktualisierung am 21.12.2023.