Prof. Göbel: Migräne ist eine episodisch auftretende Kopfschmerzerkrankung. Die Attacken sind dadurch charakterisiert, dass sie eine Dauer von typischerweise 4-72 Stunden haben. Die Kopfschmerzen haben eine sehr stark behindernde Intensität. Der Schmerzcharakter ist pulsierend und pochend. Körperliche Tätigkeit verstärkt die Schmerzen, sodass man in der Regel Bettruhe einhalten muss.
Die Schmerzen können von Übelkeit, Erbrechen sowie Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit begleitet werden. Bei ca. bis zu 30% der Betroffenen können die Attacken von neurologischen Begleitstörungen eingeleitet werden. Am häufigsten finden sich Sehstörungen mit Zickzacklinien, die flimmern und schwirren. Sie breiten sich allmählich im Gesichtsfeld aus. Aber auch viele andere neurologische Symptome können auftreten. Diese schließen Schwindel, Sprachstörungen, Kribbelmissempfindungen, Muskelschwäche sowie neuropsychologische Störungen ein. Durch diese Merkmale kann man Migräne von anderen Kopfschmerzen abgrenzen. Man muss dabei jedoch beachten, dass neben der Migräne zusätzlich auch andere Kopfschmerzen bestehen können. Daher ist es sehr wichtig, dass man ein differenziertes Bild der verschiedenen Merkmale in der Kopfschmerzdiagnostik erhebt und dann die einzelnen Kopfschmerzformen untereinander abgrenzt.
Prof. Göbel: Migräne ist eine genetisch bedingte besondere Reaktionsweise des zentralen Nervensystems. Die in den Erbanlagen angelegten vielen Varianten führen dazu, dass das Nervensystem sehr schnell und sehr intensiv auf Änderungen im Alltag reagiert. Alles zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche, alles zu Impulsive und Übermäßige kann daher Migräneattacken auslösen. Dies schließt Stress, unregelmäßigen Tagesrhythmus, Wetterwechsel, Auslassen von Mahlzeiten, Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus und anderes ein. Die Nervenzellen sind bei Betroffenen stetig sehr aktiv. Werden die Energievorräte der Nervenzellen überlastet, kommt es zu einem Energiedefizit. Die Folge ist, dass die Nervenzellen nicht mehr ausgeglichen arbeiten können, es kommt zu einer Freisetzung von Botenstoffen an den Gefäßwänden der Hirnhaut. Diese erweitern sich und entzünden sich dadurch. Die Schmerzempfindlichkeit steigt und man spürt jede Erschütterung und jeden Pulsschlag schmerzhaft im Gehirn.
Die Nervenzellen sind bei Betroffenen stetig sehr aktiv.
Prof. Göbel: Die typische Dauer einer Migräneattacke beträgt 4-72 Stunden. In der Regel leiden die Betroffenen anderthalb Tage an einem Anfall. Die Migräne kann durch sogenannte Prodromalsymptome eingeleitet werden. Dabei gibt es unterschiedliche Formen. Entweder ist man sehr überreizt, müde, abgeschlagen, die Dinge gehen einem nicht von der Hand, die Umwelt merkt schon, dass etwas mit einem nicht stimmt. Andererseits können aber auch Hyperaktivitätssymptome auftreten. Man ist besonders rührig, aktiv, man hat intensive vielfältige Einfälle.
In dieser Phase kann auch Heißhunger auf Süßes auftreten. Man isst ungewöhnlich viel, insbesondere hochkalorisches. In der nächsten Phase, der sogenannten Auraphase, können dann neurologische Symptome erscheinen. Die Auraphase dauert typischerweise bis zu 1 Stunde. Spätestens nach 1 Stunde schließen sich die Kopfschmerzen an. Die häufigsten Symptome während einer Aura sind Sehstörungen. Zickzacklinien im Gesichtsfeld, die sich allmählich ausbreiten, sind dafür charakteristisch. Kaleidoskopische farbähnliche Strukturen breiten sich kontinuierlich aus und klingen typischerweise nach 1 Stunde wieder ab.
Bei speziellen Formen der Migräne, wie z.B. der Migräne mit Hirnstammaura, können aber auch sehr komplexe Symptome auftreten. Diese schließen Sprachstörungen, Schwindel, Tinnitus, Hörveränderungen, Kribbelmissempfindungen sowie Gangstörungen ein. In sehr seltenen Fällen kann im Rahmen einer Migräneattacke auch ein sogenannter migränöser Infarkt oder auch epileptische Anfälle auftreten. Im Anschluss daran fügt sich dann die Kopfschmerzphase über 4-72 Stunden mit den beschriebenen Symptomen an. Abschließend kann eine sogenannte Postdromalphase erlebt werden. Die Patienten sind müde, abgeschlagen und energielos. Migräneattacken schließen also nicht nur die Schmerzphase ein, sondern auch weitere Phasen mit verschiedensten Symptomen.
Prof. Göbel: Wissen und Information sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine effektive Vorbeugung und Akutbehandlung der Migräne. Ruhe und Entspannung sollte bei jeder Migräneattacke zunächst eingeleitet werden. Man sollte wissen, welche Medikamente man im Anfall einsetzt. Dazu zählen Akutmedikamente wie Schmerzmittel und Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen. Bei schweren Migräneattacken stehen heute sogenannte Triptane und Ditane zur Verfügung. Diese können in aller Regel sehr effektiv akute Migräneanfälle kupieren.
Prof. Göbel: Früher ging man davon aus, dass der Abfall des Östrogenspiegels im Blut vor der Menstruation für die sogenannte menstruelle Migräne verantwortlich ist. Neuere Erkenntnisse haben dies jedoch in Frage gestellt. Zyklusgebundene Migräneanfälle entstehen wahrscheinlich ebenso, wie alle anderen Migräneanfälle zu anderen Zeiten. Bedeutsam ist jedoch, dass im Rahmen der Menstruation die hormonelle Umstellung sowie die Menstruation selbst zu einem erhöhten Energieverbrauch im Nervensystem führt. Daher sollte man im menstruellen Fenster besonders auf Regelmäßigkeit, ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sowie auf einen regelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus und körperliche Schonung achten.
Prof. Göbel: Für die Migränetherapie stehen heute 3 wichtige Säulen zur Verfügung. In erster Linie ist es wichtig, dass Patienten eine Klarheit zur Diagnose bekommen, sie müssen umfangreiches Wissen zur Entstehung und Vorbeugung von Migräne haben. Es muss transparent sein, dass Migräne eine lebenslange Besonderheit des Nervensystems ist, die man nicht einfach durch eine Behandlung abschalten kann und dann leben kann, wie man will. Sie ist eine komplexe Erkrankung, ähnlich wie Asthma oder Diabetes. Tagesplanung, Ernährung, Entspannung und Sport sind wichtige Elemente einer vorbeugenden Behandlung.
Die Behandlung von Begleitsymptomen, wie z.B. Depression oder Ängsten, gehört ebenfalls zur wichtigen Maßnahme in der Migränebehandlung. Die zweitwichtigste Säule ist die Attackentherapie. Hier gibt es sehr effektive Möglichkeiten durch Medikamente. Diese schließen Mittel gegen Übelkeit, Erbrechen sowie Schmerzmittel ein. Möglichkeiten zur Behandlung von akuten schweren Attacken sind die Triptane und die Ditane. Mittlerweile stehen 7 verschiedene Triptane zur Verfügung, die in verschiedenen Darreichungsformen eingesetzt werden können.
Zur vorbeugenden Behandlung gibt es zahlreiche zugelassene Medikamente, die individuell ausgewählt werden können und zur Reduktion der Attackenfrequenz und der Attackenschwere eingesetzt werden können. Diese schließen Amitriptylin, Betablocker, Flunarizin, Topiramat, Botulinumtoxin, monoklonale Antikörper gegen CGRP-Mechanismen sowie Gepante ein. Mit diesen modernen Möglichkeiten kann in der Regel sehr effektiv die Migräne behandelt und die Symptome gelindert werden.
Es muss transparent sein, dass Migräne eine lebenslange Besonderheit des Nervensystems ist, die man nicht einfach durch eine Behandlung abschalten kann und dann leben kann, wie man will.
Prof. Göbel: Triptane sind seit mittlerweile über 30 Jahren für die Behandlung der akuten Migräneattacke verfügbar. Sie hemmen die Freisetzung von Nerventransmittern, die zu einer Gefäßerweiterung und zur entzündlichen Überempfindlichkeit der Gefäßwände führen. Sie haben sich als eine sehr effektive Therapiemöglichkeit der akuten Migräneattacke erwiesen. Sie wirken in der Regel schnell und verträglich. Durch die Vielfältigkeit der Migräneentstehung im Einzelfall ist es jedoch nicht möglich, jeden Migräneanfall damit ausreichend zu kupieren. Von 10 Migräneattacken können ca. 7 mit den Triptanen sehr effektiv behandelt werden. Durch die Kombination mit vorbeugenden Maßnahmen kann die Effektivität der Triptane gesteigert werden.
Prof. Göbel: Sogenannte alternative Behandlungsmöglichkeiten sind ungeprüfte Therapieoptionen. In früheren Jahrzehnten wurden diese umfangreich bemüht in der Hoffnung, dass damit der Leidensdruck der Migräne-Patienten reduziert werden kann. Es liegen jedoch für diese Therapieverfahren keine Effektivitätsnachweise vor. Die moderne Migränemedizin hat sich erst in den letzten 20-30 Jahren entwickelt. Es ist heute nicht mehr erforderlich, dass man auf solche ungeprüften Therapieverfahren zurückgreift, die eine fragliche Effektivität aufweisen. Für eine Vielzahl von Therapieoptionen wurden mittlerweile auch wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit durchgeführt. Beispielsweise wurde für die Akupunktur gezeigt, dass sie zwar die Migränehäufigkeit reduzieren kann. Allerdings ist das Therapieergebnis nicht besser, als bei Behandlung mit einer sogenannten Schein-Akupunktur. Aus all diesen Gründen spielen sogenannte alternativmedizinische Verfahren heute keine bedeutsame Rolle mehr in der Behandlung von Migräne.
Prof. Göbel: Der Begriff „Augenmigräne“ ist veraltet. Man beschreibt damit Sehstörungen im Rahmen einer Migräneattacke. Typischerweise meint man damit visuelle Auren. Visuelle Auren sind sich langsam ausbreitende Sehstörungen in Form von Zickzacklinien im Gesichtsfeld. Diese können mit Gesichtsfeldausfällen begleitet werden. Typischerweise breiten sich diese Gesichtsfeldausfälle allmählich aus. Die Ausbreitungsdauer beträgt ca. 5-60 Minuten. Am Rand flimmern diese Gesichtsfeldausfälle häufig schwarz-weiß oder in Farbe. Man sieht kaleidoskop-ähnliche Strukturen, die zunächst sich ausbreiten und dann wieder abklingen.
Visuelle Auren sind sich langsam ausbreitende Sehstörungen in Form von Zickzacklinien im Gesichtsfeld.
Prof. Göbel: Mit dem Begriff vestibulärer Schwindel bezeichnet man Schwindelsymptome im Zusammenhang mit einer Migräneattacke. Diese Symptome schließen Spontanschwindel, das unzutreffende Gefühl in Bewegung zu sein, das Gefühl, das visuelle Umfeld würde sich drehen oder fließen sowie Schwindel bei Auftreten nach Veränderung der Kopfposition, Schwindel ausgelöst durch komplexe oder sich bewegende visuelle Reize sowie durch Kopfbewegung ausgelöste Benommenheit und Übelkeit ein. Diese Phänomene können Minuten bis Stunden anhalten. In Einzelfällen können sie sich auch über mehrere Tage erstrecken.
Prof. Göbel: Wichtige Dinge, die man selbst in der Hand hat, sind ein regelmäßiger Tagesrhythmus, Entspannung, Reduktion von Stress, sportliche Aktivitäten, gleichmäßige kohlenhydratreiche Ernährung, ausreichend trinken, ausreichend schlafen sowie Vermeidung von körperlichen und psychischen Überlastungen. Die Erarbeitung von Wissen und Information sowie zu dem Charakter der Migräne ist ein zentraler Schlüssel, um lebenslang seine Verhaltensweisen an die besonderen Bedingungen der Migräne anzupassen. Die Verfügbarkeit von wirksamen Akutmedikamenten und - falls erforderlich - eine medikamentöse Prophylaxe sind weitere wichtige Faktoren, um die Migräne unter Kontrolle zu bringen.
Prof. Göbel: Bei Migränepatienten ist das Nervensystem sehr aktiv und benötigt eine hohe stetige Energieversorgung. Unregelmäßige Ernährung stört diese kontinuierliche Energieversorgung. Das Nervensystem benötigt als Energieträger komplexe Kohlenhydrate. Daher ist eine kohlenhydratreiche konstante regelmäßige Ernährung bedeutsam. Wichtig ist insbesondere ein ausgiebiges kohlenhydratreiches Frühstück. Nach der Nacht mit Nahrungskarenz kann dieses dazu führen, dass die Energiezufuhr im Nervensystem schnell wieder stabilisiert wird. Koffein aktiviert die Energieaufnahme in den Nervenzellen. Ein regelmäßiger Koffeinkonsum sollte realisiert werden. Es sollten jedoch nicht mehr als 3-4 Tassen Kaffee am Tag aufgenommen werden, damit Gewöhnungsprozesse die Wirksamkeit verändern. Ein regelmäßiges Mittagessen sowie ein Abendessen können weiter dazu beitragen, dass die Energiezufuhr in den Nervenzellen konstant gehalten wird. Treten Migräneattacken in der Nacht aus dem Schlaf heraus auf oder am frühen Morgen, hat sich vor dem Zubettgehen noch einmal eine kohlenhydratreiche Mahlzeit bewährt.
Wichtig ist insbesondere ein ausgiebiges kohlenhydratreiches Frühstück
Prof. Göbel: Bei dieser Frage muss definiert werden, was man unter heilbar meint. Wenn man damit intendiert, dass man irgendeine Maßnahme durchführt und man dann leben kann, wie man will ohne auf seine besondere Migränebereitschaft Rücksicht zu nehmen, wird dies nicht gelingen. Migräne ist eine Besonderheit des Nervensystems, die lebenslang bestehen bleibt. Setzt man die modernen Erkenntnisse zur Migräneentstehung um, ist Migräne jedoch heute sehr wohl behandelbar und unter Kontrolle zu bringen.
Prof. Göbel: Die Erkenntnisse zur Migräne haben sich in den letzten Jahren rasant erweitert. Zahlreiche neue Erkenntnisse wurden wissenschaftlich erarbeitet. Grundlagenwissenschaft, Diagnostik und Therapie von Kopfschmerzerkrankungen haben sich in der letzten Dekade als eines der erfolgreichsten Felder der Medizin weiterentwickelt. Eine Explosion an Wissen führte zu neuen Einsichten in den Entstehungsmechanismen und innovativen Therapieoptionen. Daraus entwickelten sich ausgeprägte Veränderungen in der Versorgung. Faktoren zur Chronifizierung von Kopfschmerzen können heute effektiv vorbeugend erkannt und behandelt werden.
Zahlreiche Risikogene für Migräne und andere Kopfschmerzerkrankungen wurden entdeckt und ermöglichten neue Einblicke in die grundlegenden Kopfschmerzmechanismen. Die moderne Präzisionsmedizin kann in zentrale Mechanismen von beteiligten Neurotransmittern und Neuropeptiden sowie deren Rezeptoren therapeutisch hochwirksam eingreifen. Zahlreiche neue Therapiemethoden und innovative Arzneimittel wie Triptane, monoklonale Antikörper gegen CGRP und CGRP-Rezeptoren, Ditane und Gepante haben die Versorgung grundlegend erweitert. Der neueingerichtete akademische Masterstudiengang Master of Migraine headache Medicine an der Universität Kiel ist Ausdruck der enormen Fortschritte in der Medizin, der berufsbegleitende Weiterbildungsstudiengang ermöglicht die Umsetzung des zeitgemäßen Wissens für Grundlagenwissenschaften und Versorgung.
Digitale Gesundheitsanwendungen wie die Migräne-App unterstützen Patienten als auch betreuende Ärzte in der Verlaufs- und Erfolgskontrolle, bei der Einhaltung von Therapieregeln sowie bei der Therapieanpassung. Die Ächtung und Stigmatisierung der Patienten wurden abgebaut. Die gesellschaftliche Bedeutung der Kopfschmerztherapie für eine moderne und hochentwickelte medizinische Versorgung wird zunehmend öffentlich und erkannt.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 23.04.2024.