Prof. Hölzle: Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten treten in unterschiedlichen Formen und Ausprägungsgraden auf. Statistisch gesehen kommen sie bei jedem 500. Neugeborenen vor und sie gehören dadurch mit einem Anteil von 15% zu den häufigsten Fehlbildungen. Während des Wachstums des Kindes im Mutterleib kommt es zwischen der 5. und 12. Woche entweder zu einer fehlenden Vereinigung oder einem Einreißen von Gewebe, aus dem sich später Nase, Lippe und Oberkiefer entwickeln. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die Entwicklungsstörung auftritt und wie schwerwiegend sie ist, entstehen verschiedene Spaltformen. Dies können z.B. ein- oder beidseitige Lippenspalten, Lippen-Kieferspalten, komplette Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten bzw. vollständige Gaumenspalten sein. Auch isolierte Spalten des weichen Gaumens mit unterschiedlichem Ausprägungsgrad kommen vor.
Prof. Hölzle: Sicher ist, dass bei jedem 5. Kind eine familiäre Belastung besteht, die auch einige Generationen zurückliegen kann. Bei Eltern, die selbst betroffen waren, beträgt das statistische Risiko für die Geburt eines Kindes mit einer Spaltbildung ca. 5%. Etwa das gleiche gilt für gesunde Eltern, die bereits ein Spaltkind geboren haben. Wenn bereits das erstgeborene Kind ein Spaltkind ist, steigt das statistische Risiko für weitere Kinder mit dieser Fehlbildung auf ca. 15%. Einige Mütter fragen sich, ob sie sich während der Schwangerschaft falsch verhalten haben. Dies ist aber vollkommen unbegründet! Inwieweit eine erbliche Vorbelastung besteht und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine Spaltbildung aufzuweisen, lässt sich in einer genetischen Beratungsstelle genauer klären. Hier werden auch seltene Kombinationen mit anderen Fehlbildungen analysiert. Weitere Risikofaktoren sind multiple äußere Einflussfaktoren wie energiereiche Strahlung, Chemikalien, Infektionen von Mutter und Kind, Sauerstoffmangel, Alkoholkonsum, Rauchen oder körperlicher und psychischer Stress.
Einige Mütter fragen sich, ob sie sich während der Schwangerschaft falsch verhalten haben. Dies ist aber vollkommen unbegründet!
Prof. Hölzle: Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten können durch Ultraschall bereits während der Schwangerschaft festgestellt werden. Diese Diagnostik bezüglich des Mundes und der Nase gehört jedoch nicht zum Pflichtprogramm der vorgeschriebenen Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft. Erfahrene und geduldige Untersucher können eine Spaltbildung, welche die Lippe und die Nase, d.h. den äußeren Bereich des Gesichtes betreffen, in der Regel gut aufdecken. Eine isolierte Gaumenspalte wird vor der Geburt eher selten diagnostiziert und ihre Feststellung gelingt i.d.R. nur den erfahrenen Ultraschalluntersuchenden.
Prof. Hölzle: In der Regel werden zumindest Spaltbildungen, welche die Oberlippe und den Kiefer betreffen, spätestens bei der Geburt diagnostiziert. Isolierte Gaumenspalten bzw. die komplette Ausprägung einer Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte bedarf der Untersuchung durch eine erfahrene Hebamme bzw. einen erfahrenen Arzt. Spätestens bei der Vorstellung des Neugeborenen bei einem Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen wird anhand der klinischen Untersuchung eine sichere Diagnose gestellt.
Prof. Hölzle: Bis auf einige Besonderheiten besteht bei der Pflege des Babys kein Grund zu übertriebener Vorsicht oder Unsicherheit, denn generell gilt: Das Kind ist gesund und genauso belastbar wie jedes andere auch. Spaltkinder haben jedoch empfindliche Ohren. Der Schlundmuskelring ist bei durchgehenden Spalten unterbrochen, sodass öfter Mittelohrergüsse entstehen, die zu Entzündungen führen können. Deshalb muss beim Baden besonders darauf, geachtet werden, dass kein Wasser in den Gehörgang gelangt. Meistens entstehen diese Krusten dadurch, dass die Schleimhaut am Kiefer, der normalerweise ständig durch Speichel angefeuchtet wird, zu trocken ist. Aber auch Nahrungsreste können in diesem Bereich verbleiben.
Liegt bei dem Baby eine Spaltform vor, die auch den harten Gaumen betrifft, wird zur Erleichterung des Schluckens und zur Normalisierung der Zungenlage eine Gaumenplatte aus Kunststoff angefertigt. Diese Platte wird mit Haftcreme am Oberkiefer befestigt. Sie deckt die Gaumenspalte ab und stellt somit eine Trennung von Mund- und Nasenhöhle wieder her. Die Kinder werden sich rasch an den Umgang mit dieser Platte, die während der ersten Monate getragen und regelmäßig kontrolliert werden muss, gewöhnen.
Für viele Eltern ist es anfangs kaum vorstellbar, wie das Kind ernährt werden soll. Mit den Anleitungen und Geduld gelingt es teilweise auch, die Babys zu stillen, zumindest aber eine sichere Ernährung zu gewährleisten. Das vorsorgliche Legen einer Ernährungssonde ist in aller Regel nicht notwendig.
Bis auf einige Besonderheiten besteht bei der Pflege des Babys kein Grund zu übertriebener Vorsicht oder Unsicherheit...
Prof. Hölzle: Der erste Behandlungsschritt besteht meistens in der Anfertigung der bereits erwähnten Gaumenplatte, die dem Kind in den ersten Lebenstagen eingesetzt wird. Sie erleichtert dem Kind nicht nur das Trinken, sondern mit ihr kann durch gezieltes Ausschleifen an der Unterfläche der Platte bereits eine Ausformung des Zahnbogens oder eine Verschmälerung der Spalte erreicht werden.
Alle 6-8 Wochen muss dem Kind eine neue Platte eingesetzt werden, d.h. vor der ersten Operation wird sie in der Regel 2-3 mal erneuert. Wenn der harte Gaumen keine Spalte aufweist, also lediglich eine Lippen-Kieferspalte oder eine isolierte Spalte des weichen Gaumens oder der Lippe vorliegt, ist eine solche Plattenbehandlung nicht notwendig.
Ein weiterer Behandlungsschritt besteht im sogenannten „nasoalveolar molding“, einer relativ neu in das Behandlungskonzept eingeführten Technik, mit deren Hilfe bereits vor dem ersten operativen Eingriff die spaltnahen Gewebe geformt werden können. Durch den gezielten Einsatz von Druck- und Dehnkräften können so insbesondere die Nase und der Kieferkamm harmonisiert werden, was zu einem funktionell und ästhetisch besseren Operationsergebnis führt.
Die Anzahl der Operationen ist sowohl von der Form, also der Ausdehnung der Spaltbildung, als auch vom Ergebnis der Erstbehandlungen abhängig. Liegt z.B. ausschließlich eine Spaltbildung des weichen Gaumens vor, so besteht die chirurgische Behandlung meistens aus nur einer einzigen Operation. Wenn aber eine vollständige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte vorhanden ist, so können drei Operationen nötig werden, bis die gesamte Spalte verschlossen ist. Zusätzlich zu diesen „Basisoperationen“ sind manchmal Korrekturoperationen erforderlich, die vor der Einschulung oder nach Abschluss des Wachstums durchgeführt werden.
Den Verschluss der Lippenspalte führen wir als erste Operation im Alter von 3-6 Monaten durch. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind mindestens ein Gewicht von 5kg erreicht hat. Um eine gute Sprachentwicklung zu gewährleisten, soll der Gaumen allerspätestens bis zum 2. Geburtstag des Kindes sicher verschlossen sein. Dort, wo aus dem Kieferknochen die Zähne wachsen, befindet sich der Alveolarfortsatz. Wenn auch dieser Bereich von der Spaltbildung betroffen ist, spricht man von einer „Kieferspalte“. Weil die im Alveolarfortsatz steckenden Zahnanlagen im Bereich der Kieferspalte keinen Knochen vorfinden, können sie auch nicht durchbrechen. Es resultiert daher eine Zahnlücke. Im Alter von 8-10 Jahren, spätestens aber bis zum 12. Lebensjahr, muss deshalb etwas Knochen in die Kieferspalte zur Ermöglichung des Zahndurchbruchs eingesetzt werden.
Prof. Hölzle: Obwohl durch die kieferchirurgischen Operationen die Grundlagen für den Erfolg der Behandlung gelegt werden, sind auch Vertreter anderer medizinischer Fachgebiete maßgebend an der Betreuung des Kindes beteiligt, nämlich der Kieferorthopäde, der Kinderarzt, der Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der Logopäde und der Zahnarzt. Die Kinderärzte kümmern sich gemeinsam mit den Kollegen aus der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie um die Kinder. Falls Begleiterkrankungen vorliegen, werden die erforderlichen Untersuchungen vorgenommen und gegebenenfalls ein weiterer Therapieplan erstellt.
Der Kinderklinik ist ein sogenannter „Schlafplatz“ angeschlossen, wo eine Untersuchung erfolgen kann, die Aussagen zu den Vitalwerten (Atmung, Herzfrequenz und Sauerstoffversorgung) im Schlaf machen kann. In manchen Fällen ist eine Versorgung mit einem Herz-Atemmonitor für zu Hause sinnvoll. Diese Versorgung und Betreuung bei Problemen erfolgt durch die Kinderklinik. Wenn die Kinder zur Operation stationär aufgenommen werden, erfolgt dies in der Kinderklinik und beide Fachabteilungen betreuen das Kind gemeinsam. Falls eine Intensivmedizinische Überwachung notwendig werden sollte, erfolgt dies auf einer Kinderintensivstation.
Da viele Behandlungsschritte ineinander greifen und sich das Aussehen des Kindes auf Grund des Wachstums ständig verändert, kann das endgültige Ergebnis erst nach der Pubertät beurteilt werden. Für viele Eltern ist es schwer verständlich, warum bestimmte Operationen erst später und andere bereits relativ früh erfolgen, oder warum nicht alle Abschnitte einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte in einer einzigen, möglichst frühen Operation verschlossen werden können. Der Grund dafür liegt darin, dass zu früh vorgenommene Operationen an bestimmten Abschnitten der Spalte, besonders am harten Gaumen, zu Wachstumsstörungen führen können, während zu späte Operationen, z.B. am weichen Gaumen, mit einer verzögerten oder fehlerhaften Sprachentwicklung verbunden sind.
Aus jahrzehntelangen Erfahrungen in der Spaltchirurgie sind heute die besten Operationszeitpunkte für jeden Abschnitt der Spalte bekannt, wobei es trotzdem noch von Klinik zu Klinik Unterschiede geben kann. Die meisten großen Kliniken in Deutschland operieren jedoch nicht nur nach einem sehr ähnlichen Zeitplan, sondern auch mit den gleichen, bewährten Techniken. Dies gilt ebenfalls für die begleitende Behandlung durch die anderen medizinischen Fachdisziplinen, die während bestimmter Entwicklungsphasen des Kindes große Bedeutung hat.
Da viele Behandlungsschritte ineinander greifen und sich das Aussehen des Kindes auf Grund des Wachstums ständig verändert, kann das endgültige Ergebnis erst nach der Pubertät beurteilt werden.
Prof. Hölzle: Wenn die Kinder zur Operation stationär aufgenommen werden, erfolgt dies in der Kinderklinik und beide Fachabteilungen betreuen das Kind gemeinsam. Am Ende des operativen Eingriffs wird eine Ernährungssonde gelegt, die während der nächsten Tage die Ernährung des Kindes sicherstellt und damit verhindert, dass mit Bakterien und Keimen kontaminierte Nahrung in das OP-Gebiet gelangt. In der Regel können die Kinder, die während der stationären Zeit von den Eltern im Zimmer mitbetreut werden, bereits nach wenigen Tagen wieder in die ambulante Nachkontrolle entlassen werden.
Prof. Hölzle: Zunächst wird das Operationsgebiet engmaschig kontrolliert, sodass seltene Komplikationen wie Wunddehiszenzen oder Infektionen schnell erkannt und entsprechend behandelt werden können. In der Regel verheilen bei Kindern die Wunden allerdings sehr gut und meistens besser als bei Erwachsenen.
Prof. Hölzle: Durch das multidisziplinäre Behandlungskonzept werden die Kinder regelmäßig bis ins junge Erwachsenenalter in unserer Spezialsprechstunde gesehen. Nach den durchgeführten operativen Eingriffen wird der Zahnwechsel kontrolliert und dort ggf. von kieferorthopädischer Seite her lenkend eingegriffen. Auch das Hörvermögen wird regelmäßig durch die Kollegen der HNO überprüft und ggf. mitbehandelt, genauso wie die Sprachentwicklung, die von speziell ausgebildeten Logopäden kontrolliert und gefördert wird. Nach dem Abschluss des Wachstums wird noch einmal überprüft, ob noch Veränderungen aus funktionellen oder ästhetischen Gründen notwendig und sinnvoll erscheinen. Dies betrifft die Kaufunktion, die ggf. durch eine Verlagerungsoperation einer oder beider Kiefer verbessert werden kann und selbstverständlich auch das äußere Erscheinungsbild, das nun nach Abschluss des Wachstums noch einmal kritisch eingeschätzt wird.
Prof. Hölzle: Eine vollständige Lippenspalte, Lippen-Kieferspalte oder auch Gaumenspalte sollte in jedem Fall durch eine Operation verschlossen werden. Dies geschieht nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus funktionellen Gründen. Die Sprachentwicklung, das Hörvermögen und der Schluckakt sowie die Ernährung hängen von einer optimalen und funktionellen Rekonstruktion ab. In manchen Regionen unserer Erde bleiben diese Kinder allerdings aus diversen Gründen unversorgt. Die Ernährung gelingt in aller Regel dennoch, jedoch bleiben schwerwiegende funktionelle und ästhetische Defizite. Aus diesem Grund führen Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen, so auch Mitglieder meines Teams, regelmäßig Operationseinsätze in den Regionen durch, in denen eine Versorgung, wie sie bei uns erfolgt, leider nicht vorhanden ist.
Eine vollständige Lippenspalte, Lippen-Kieferspalte oder auch Gaumenspalte sollte in jedem Fall durch eine Operation verschlossen werden.
Prof. Hölzle: Die Operationstechniken sind mittlerweile sehr ausgefeilt und werden mit Unterstützung von Lupenbrillen bzw. Mikroskopen unterstützt. Die Behandlung sollte in jedem Fall interdisziplinär stattfinden. Als letzte, von vielen als revolutionär bezeichnete Behandlungsform, wurde das sogenannte „nasoalveolar molding“ als Therapieoption eingeführt. Mit Hilfe dieser Technik können bereits vor dem ersten operativen Eingriff die spaltnahen Gewebe geformt werden. Durch den gezielten Einsatz von Druck- und Dehnkräften können so besonders die Nase und der Kieferkamm harmonisiert werden, was zu einem funktionell und ästhetisch besseren Operationsergebnis führt.
Prof. Hölzle: Ein wichtiges und interessantes Forschungsfeld bei Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten ist die Erforschung der genetischen Ursache. Es ist nach wie vor nicht genau bekannt, welche Erbanlagen betroffen sind. So können Neumutationen in der Nähe von bekannten Genen zur Erhöhung des Krankheitsrisikos beitragen, aber auch Transkriptionsfaktoren beteiligt sein. Selbstverständlich werden in entsprechenden Zentren Ergebnisse der jeweiligen Behandlungskonzepte publiziert und mit denen anderer Arbeitsgruppen und Spaltzentren verglichen. Dies soll es ermöglichen, die beste Behandlungsoption für die betroffenen Kinder zu finden. Da eine abschließende Bewertung oft erst nach 16 oder 17 Jahren möglich wird, wird verständlich, warum es hier sehr anspruchsvoll ist, den Nachweis für die beste Behandlungs- und Operationsmethode zu finden.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 28.03.2024.