Frau Prof. Dr. Minden - Sie als Kinderrheumatologin sind spezialisiert auf Kinder und Jugendliche mit rheumatischen Erkrankungen. Viele Menschen assoziieren Rheuma mit älteren Menschen. Rheuma kann aber auch bei Kindern auftreten.
Prof. Minden: Rheuma ist bei Kindern gar nicht so selten. Am häufigsten haben Kinder und Jugendliche Gelenkrheuma (Fachbegriff = juvenile idiopathische Arthritis, kurz JIA). Eines von 1000 Kindern ist hierzulande davon betroffen. Bundesweit sind das etwa 14.000 Kinder. Damit gehört Gelenkrheuma bzw. die JIA zu den häufigsten chronischen Erkrankungen bei Kindern. Das ist vielen nicht bewusst und deshalb wird manchmal auch zu spät daran gedacht.
Kinder und Jugendliche können darüber hinaus andere rheumatische Erkrankungen, wie Kollagenosen (Bindegewebserkrankungen: z.B. systemischer Lupus erythematodes, Dermatomyositis), Vaskulitiden (chronische Gefäßentzündungen) sowie autoinflammatorische Erkrankungen (z.B. periodische Fiebersyndrome) entwickeln. Diese rheumatischen Erkrankungen sind viel seltener als die JIA. Zusammengenommen sind von allen chronischen, entzündlich-rheumatischen Erkrankungen bundesweit schätzungsweise 20.000 Kinder und Jugendliche betroffen.
Prof. Minden: Bei Gelenkrheuma bzw. der JIA treten aus unbekanntem Grund Entzündungen der Gelenke auf. Die Gelenkinnenhaut entzündet sich, es wird vermehrt Gelenkflüssigkeit gebildet. Das entzündete Gelenk schwillt an, es ist überwärmt und lässt sich oft nur unter Schmerzen bewegen. Entzündungen können bei Kindern wenige (manchmal auch nur ein Gelenk) oder viele Gelenke betreffen. Andauernde Entzündungen der Gelenke können Kinder in ihrer Beweglichkeit, ihrer Entwicklung und in ihrem Wohlbefinden erheblich einschränken.
Aber nicht nur die Gelenke, sondern auch die Augen und andere Organe können in den Entzündungsprozess einbezogen werden. Eine rheumatische Augenentzündung entwickeln z.B. 10%-15% aller Kinder mit JIA. Diese Entzündung betrifft die Regenbogenhaut und ist gefährlich. Sie ist von außen nicht erkennbar und geht ohne Rötungen oder Lichtscheu einher. Unerkannt und unbehandelt kann sie rasch zu Komplikationen und Sehkrafteinbußen, im Extremfall zur Erblindung, führen. Um Folgeschäden an Gelenken oder Augen zu vermeiden, sollte Gelenkrheuma so früh wie möglich erkannt und konsequent behandelt werden.
Bei Gelenkrheuma bzw. der JIA treten aus unbekanntem Grund Entzündungen der Gelenke auf.
Prof. Minden: Kinder können verschiedene Formen von Gelenkrheuma entwickeln:
Die Symptome können je nach Rheumaform variieren. Allgemeine Anzeichen der JIA sind Schwellungen, Steifheit, Schmerzen und eingeschränkte Beweglichkeit der betroffenen Gelenke. Manchmal können auch andere Symptome auftreten, wie Fieber, Hautausschläge oder Entzündungen in anderen Körperbereichen.
Prof. Minden: Die Ursachen von Gelenkrheuma im Kindesalter sind unzureichend bekannt. Man geht davon aus, dass der JIA eine Fehlregulation unseres Abwehrsystems zugrunde liegt. Nicht eingedrungene Krankheitserreger, sondern körpereigene Strukturen, wie die Gelenkinnenhaut oder das Auge, werden zum Ziel von körpereigenen Abwehrzellen, die Entzündungen auslösen. Warum es zu dieser Fehlsteuerung im Abwehrsystem kommt, ist bislang nicht vollständig geklärt. Eine genetisch bedingte Krankheitsempfänglichkeit spielt neben Umweltfaktoren zweifellos eine Rolle.
Prof. Minden: Gelenkrheuma beginnt bei Kindern oft bereits in einem Alter, in dem Schmerzen nicht artikuliert werden. Neben Gelenkschwellungen sind deshalb Schonhaltungen bzw. auffällige Bewegungsmuster oft erste Symptome. So kann es sein, dass - je nachdem, welche Gelenke betroffen sind - das Kind hinkt, das Knie nicht mehr streckt, anders greift oder Schwierigkeiten beim Anziehen oder anderen Alltagsbewegungen hat. So versuchen Kinder erkrankte Gelenke in eine schmerzarme Stellung zu bringen und weniger zu belasten. Solche indirekten Schmerzäußerungen sollten Eltern ernst nehmen, sie können ein Hinweis auf Gelenkrheuma sein.
Gelenkrheuma beginnt bei Kindern oft bereits in einem Alter, in dem Schmerzen nicht artikuliert werden.
Prof. Minden: Gelenkrheuma kann bei Kindern jeden Alters auftreten, im Säuglingsalter beginnt es allerdings sehr selten. Am häufigsten erkranken Kinder im Kleinkindalter- bzw. Vorschulalter, der Erkrankungsgipfel liegt im 2./3. Lebensjahr. Die Erkrankung lässt sich bisher nicht mit einem zuverlässigen Test sichern. Die Diagnose erfordert in der Regel eine sorgfältige Bewertung durch einen Facharzt, oft einen Kinderarzt mit Spezialisierung auf rheumatische Erkrankungen (Kinder-Rheumatologe/in). Sie ergibt sich wie ein Puzzle aus der Krankengeschichte, der körperlichen Untersuchung, Labortesten und bildgebenden Verfahren (wie Ultraschall oder Magnetresonanztomographie) und dem Ausschluss anderer Ursachen. Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, um eine angemessene Behandlung zu ermöglichen und Folgeschäden zu verhindern.
Prof. Minden: Gelenkrheuma mit Beginn im Kindesalter weist Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zum Gelenkrheuma mit Beginn im Erwachsenenalter auf. Gemeinsam ist den Rheumaformen bei Kindern und Erwachsenen, dass sie langfristig zur Zerstörung der Gelenke und damit zu einem Funktionsverlust und einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen können.
Bei Kindern tritt Gelenkrheuma etwa 10-20mal seltener als im Erwachsenenalter auf und präsentiert sich anders. Die frühkindlich beginnende Rheumaform bei Kindern, die Oligoarthritis, die nicht selten mit einer asymptomatischen Regenbogenhautentzündung und dem Nachweis von antinukleären Autoantikörpern einhergeht, gibt es zum Beispiel bei Erwachsenen nicht. Die enthesitis-assoziierte Arthritis hingegen hat mit den Spondylarthritiden ein Pendant im Erwachsenenalter. Aber betroffene Kinder und Jugendliche haben häufiger Gelenk- und Sehnenansatzentzündungen, dafür seltener entzündliche Rückenschmerzen als Erwachsene.
Hinzu kommt, dass Rheuma bei Kindern auf einen wachsenden und sich entwickelnden Organismus trifft, d.h. zusätzlich zu den möglichen Folgen der JIA mit Gelenkzerstörungen und Sehkraftminderungen können das Wachstum und die gesamte Entwicklung des Kindes beeinträchtigt werden. Gelenkrheuma bei Kindern ist schwieriger zu erkennen als bei Erwachsenen. Es ist relativ selten und sehr heterogen. Für keine der Rheumaformen bei Kindern gibt es einen diagnoseweisenden Laborparameter, auch der so genannte „Rheumastatus“ ist in der Regel unauffällig.
Gelenkrheuma bei Kindern ist schwieriger zu erkennen als bei Erwachsenen.
Prof. Minden: Die Grundzüge der Behandlung sind bei rheumakranken Kindern und Erwachsenen gleich. In der Regel erfordert Gelenkrheuma eine konsequente, langfristige Behandlung. Die Therapie schließt medikamentöse, krankengymnastische, ergotherapeutische und psychosoziale Maßnahmen ein, die ein Team bestehend aus Kinder- und Jugendrheumatologen, Pflegenden, Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern und Ärzten weiterer Fachdisziplinen (u.a. Augenärzte, Kinderorthopäden, Kieferorthopäden) erbringt. Das Ziel der Behandlung besteht in der kompletten Unterdrückung der rheumatischen Entzündung, im Erreichen einer Remission. Dieses anspruchsvolle Therapieziel ist mit den inzwischen zur Verfügung stehen Rheumamedikamenten realistisch geworden. Für die Behandlung von Rheuma stehen cortisonfreie schmerz- und entzündungslindernde Medikamente (z.B. Naproxen), das Cortison als starker Entzündungshemmer und so genannte krankheitsmodifizierende Substanzen oder Basismedikamente zur Verfügung.
Man hat gesehen, dass ein früher Therapiebeginn mit einer frühen Unterdrückung der Entzündung mit einem besseren Krankheitsverlauf verbunden ist. Als Grund hierfür nimmt man an, dass ein frühes Krankheitsstadium mit Medikamenten besser beinflussbar ist als ein spätes und frühe Entzündungsprozesse noch komplett rückbildungsfähig sind. Deshalb strebt man heute eine frühe zielgerichtete Therapie bei der JIA an, um bereits in den ersten Behandlungsmonaten eine inaktive Erkrankung und damit einen bestmöglichen Krankheitsverlauf zu erreichen.
Prof. Minden: Vor allem bei den Basismedikamenten hat es in den zurückliegenden 20 Jahren dramatische Fortschritte gegeben. Ein besseres Verständnis der Krankheitsprozesse hat zur Entwicklung von gezielt in den Entzündungsprozess eingreifenden Substanzen (Biologika und Januskinasehemmer) geführt. Diese bremsen aktivierte Entzündungszellen, fangen Entzündungsbotenstoffe ab oder blockieren die Weitergabe von Informationen zur Entzündungsvermittlung und wirken so entzündungshemmend. Inzwischen sind bereits 10 zielgerichtete Medikamente für Kinder und Jugendliche mit Gelenkrheuma zugelassen, jedes dritte Rheumakind in Deutschland wird inzwischen mit diesen modernen Medikamenten behandelt. Mit diesen Substanzen gelingt es zunehmend besser, die rheumatische Entzündung zu kontrollieren und das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten.
Prof. Minden: Mit den heute zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten gelingt es bei der Mehrzahl der Patienten, die Erkrankung komplett zu kontrollieren und den Patienten ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Wir wissen aus Beobachtungsstudien, dass über 90% der Kinder in den ersten Behandlungsjahren einen Stillstand der Erkrankung, eine sogenannte Remission, erreichen. Mit der besseren Kontrolle der Krankheitsaktivität kommt es viel seltener zu Gelenkschädigungen und dauerhaften Funktionseinschränkungen. Die Betroffenen weisen heute eine viel bessere Lebensqualität als vor 20 Jahren auf.
Prof. Minden: Leider können die neuen Therapien die Erkrankung nicht heilen. Werden die Medikamente abgesetzt, kommt es in etwa der Hälfte der Fälle zum Wiederaufflammen der Entzündung. Dann muss erneut behandelt werden, oft viele Jahre und manchmal sogar ein Leben lang.
Leider können die neuen Therapien die Erkrankung nicht heilen.
Prof. Minden: Die Langzeitprognose der JIA ist in den zurückliegenden 20 Jahren, im so genannten „Biologika-Zeitalter“, deutlich besser geworden. Wiesen vor mehr als 20 Jahren noch etwa die Hälfte der Patienten Folgeschäden an den Gelenken auf und mussten manchmal bereits im jungen Erwachsenenalter mit künstlichen Gelenken versorgt werden, haben heute weniger als 10% der jungen Rheumatiker relevante Gelenkschädigungen.
Entsprechend geringer bzw. seltener sind Funktionseinbußen im Alltag, Einschränkungen in der Teilhabe und in der Lebensqualität. Was sich allerdings noch nicht relevant geändert hat, ist die Tatsache, dass etwa die Hälfte der Betroffenen auch im Erwachsenenalter weiter rheumatologisch betreut werden muss. Die Wahrscheinlichkeit einer medikamentenfreien Remission hängt von der Rheumaform ab, wobei sie bei der Oligoarthritis und systemischen Form der JIA am besten ist. Bis zu 80% erreichen beschwerde- und therapiefrei das Erwachsenenalter. Weniger als die Hälfte sind es hingegen bei den Patienten mit enthesitis-assoziierter Arthritis oder Polyarthritis.
Prof. Minden: Wenn das Gelenkrheuma gut kontrolliert ist, müssen sich Kinder und Jugendliche mit Rheuma nicht einschränken und können ein normales Leben mit Sport und allem, was dazu gehört, führen. Sport ist inzwischen sogar Teil der Therapie von Kindern mit JIA. Ist die Erkrankung allerdings aktiv, d.h. bestehen Entzündungen in den Gelenken, müssen die Kinder und Jugendlichen mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im Alltag zurechtkommen. Schon das Aufstehen am Morgen kann beschwerlich sein, weil die Gelenke noch steif sind und schmerzen. Der Weg zur Schule oder in den Kindergarten kann plötzlich zum Problem werden. Arztbesuche, Krankengymnastik, regelmäßige Medikamenteneinnahmen müssen in das Leben integriert werden. Das kann für die Betroffenen und ihre Familien sehr herausfordernd sein. Oft stoßen die Familien auch noch auf Unverständnis, denn Wenigen ist bekannt, dass auch Kinder bereits Rheuma bekommen können.
Prof. Minden: Aktuell wird untersucht, welche genetischen, immunologischen und anderen Faktoren den verschiedenen Rheumaformen zugrunde liegen. Gelingt es bestimmte individuelle Marker zu identifizieren, die eine Erkennung bestimmter Rheumaformen gestatten, den Krankheitsverlauf zuverlässig vorhersagen und/oder als Therapieziel genutzt werden können, ließe sich das Krankheitsmanagement erheblich optimieren. Dies könnte dazu führen, dass in 10 Jahren effektivere und sichere Behandlungsstrategien für Kinder und Jugendliche mit Gelenkrheuma zur Verfügung stehen und eine personalisierte Therapie durchgeführt werden kann, die sich am individuellen Risikoprofil der Patienten ausrichtet.
Vielen Dank für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 03.01.2024.