Prof. Wassilew: Die Hüftdysplasie ist eine Fehlbildung des Hüftgelenks. Das Hüftgelenk besteht aus dem Hüftkopf und der Hüftpfanne. Bei der Hüftdysplasie ist der Hüftkopf nicht ausreichend von der Hüftgelenkspfanne überdacht. Die Hüftgelenkspfanne der Betroffenen ist häufig flacher und ovaler als in der Normalbevölkerung, sodass es zu einer ungleichmäßigen Kraftverteilung und Instabilität im Hüftgelenk kommt. Dieser Umstand kann bei den Betroffenen zu Gelenkschädigungen führen, welche mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen einhergehen. Langfristig kann es dadurch zu einer vorzeitigen Abnutzung des Gelenks und zur Entwicklung von Arthrose kommen. Zudem treten begleitend oft Deformitäten am Oberschenkelknochen auf, die ebenfalls zu Beschwerden führen können und behandlungsbedürftig sein können.
Prof. Wassilew: Die unzureichende Überdachung des Hüftkopfes ist per se nicht schmerzhaft, sodass die Betroffenen anfangs höchstens eine vergleichsweise gute Beweglichkeit im Hüftgelenk haben, was gelegentlich sogar als positiv wahrgenommen wird. Erst bei beginnenden Gelenkschädigungen treten Beschwerden auf. Diese fangen meist schleichend an, können sich aber auch durch eine kurzzeitig erhöhte Belastung des Hüftgelenks schlagartig intensivieren. Die Schmerzen werden typischerweise in der Leistengegend wahrgenommen, aber auch eine Schmerzprojektion am seitlichen Oberschenkel, in der Gesäßregion, im unteren Rücken und sogar eine Ausstrahlung bis zum Kniegelenk können auftreten. Die Betroffenen können Sport dann aufgrund von Schmerzen nicht mehr wie gewohnt ausüben. Im weiteren Verlauf kommt es dann zu Bewegungseinschränkungen und auch typischerweise zu Hüftbeschwerden bei längerem Sitzen und Stehen, was die Lebensqualität im Alltag deutlich einschränkt.
Erst bei beginnenden Gelenkschädigungen treten Beschwerden auf.
Prof. Wassilew: Die Hüftdysplasie ist eine Entwicklungsstörung, die bereits während der Schwangerschaft beginnen kann und sich bis zum Ende des Wachstums fortsetzt. Die Hüftdysplasie bei Erwachsenen ist oft auf eine unvollständige Entwicklung des Hüftgelenks in der Kindheit zurückzuführen. Während des Wachstumsprozesses besteht das Hüftgelenk größtenteils aus Knorpel. Dieser Knorpel verknöchert im Laufe der Zeit, um das reife Hüftgelenk zu bilden. Bei einer Hüftdysplasie erfolgt dieser Verknöcherungsprozess unvollständig oder fehlerhaft, was zu einer unzureichenden Entwicklung der Hüftpfanne führt. Der Hüftkopf wird dadurch nicht korrekt oder nur teilweise von der Hüftpfanne umschlossen, was zu einer instabilen und ungleichmäßigen Belastung des Gelenks führt.
Genetische Faktoren spielen eine wesentliche Rolle in der Entstehung der Hüftdysplasie. Eine familiäre Veranlagung kann das Risiko für die Entwicklung einer Hüftdysplasie erhöhen, wie auch grundsätzlich das weibliche Geschlecht. Zusätzlich können Umwelteinflüsse und mechanische Faktoren, wie die Position des Fötus im Mutterleib oder bestimmte Lagerungsmethoden nach der Geburt, die Entwicklung des Hüftgelenks beeinflussen. In einigen Fällen bleibt die Hüftdysplasie in der Kindheit unerkannt und wird erst im Erwachsenenalter symptomatisch. In diesen Fällen ist die Entstehung der Hüftdysplasie bei Erwachsenen direkt mit den unvollständigen Entwicklungsprozessen in der Kindheit verbunden.
Prof. Wassilew: Die Diagnose der Hüftdysplasie stellt beim Erwachsenen ein nicht unerhebliches Problem dar. Die Hüftdysplasie wird auch bei vielen orthopädischen Fachärzten häufig als eine Erkrankung des Säuglings abgespeichert, welche durch die Ultraschalluntersuchung in der U2/3 diagnostiziert wird. Dieser Umstand führt dazu, dass bei vielen Betroffenen, die sich im jungen Erwachsenenalter erstmalig mit Schmerzen im Hüftgelenk beim Arzt vorstellen, die Diagnose „Hüftdysplasie“ häufig erst nach mehreren Jahren und vielen Arztvorstellungen gestellt wird.
Wenn nach den beschriebenen Symptomen und der klinischen Untersuchung der Verdacht auf eine Hüftdysplasie besteht, sollte im nächsten Schritt ein Röntgenbild erfolgen. Dies sollte immer ein Röntgenbild des Beckens sein, auf dem beide Hüftköpfe und das gesamte Becken abgebildet wird. Darüber kann dann die Überdachung des Hüftkopfes ausgemessen werden und die Diagnose gestellt werden. Anschließend ist eine MRT-Untersuchung sinnvoll, um weitere Begleitdeformitäten und das Ausmaß der Gelenkschäden beurteilen zu können.
Prof. Wassilew: Grundsätzlich kann eine Hüftdysplasie beim Erwachsenen nicht ursächlich konservativ behandelt werden, sondern nur eine Symptomlinderung erreicht werden. Im Vordergrund steht eine Reduktion der Belastung auf das Hüftgelenk. Das kann z.B. bedeuten, die sportliche Aktivität zu reduzieren, aber auch eine Gewichtsreduktion bei Übergewicht wäre eine sinnvolle Maßnahme. Neben einer bedarfsgerechten Einnahme von Schmerzmitteln, kann eine physiotherapeutische Beübung mit Manualtherapie und Training der hüftgelenksumgreifenden Muskulatur erwogen werden. Wir empfehlen allen Patienten vor einer operativen Versorgung zuerst das vollumfängliche Ausnutzen konservativer Therapien.
Grundsätzlich kann eine Hüftdysplasie beim Erwachsenen nicht ursächlich konservativ behandelt werden, sondern nur eine Symptomlinderung erreicht werden.
Prof. Wassilew: Die Indikation zur Operation der Hüftdysplasie beim Erwachsenen wird bei persistierenden Beschwerden mit Einschränkung der Lebensqualität nach Ausreizung konservativer Therapiemaßnahmen gestellt. Um eine hüftgelenkerhaltende Operation durchführen zu können, sollte der Gelenkverschleiß nicht zu groß sein, da wir von zahlreichen Untersuchungen wissen, dass mit steigendem Grad der Arthrose die „Überlebenswahrscheinlichkeit“ des Hüftgelenkes schwindet.
Prof. Wassilew: Das Ziel einer gelenkerhaltenden Operation bei Hüftdysplasie ist es, die Überdachung des Hüftkopfes durch die Hüftpfanne zu verbessern. Dadurch soll die Kraftübertragung normalisiert werden, sodass die Beschwerden nicht weiter auftreten und es zu keiner weiteren Schädigung des Gelenkes kommt. Um das Ziel zu erreichen, muss eine Umstellungsoperation des Beckens durchgeführt werden. In Deutschland werden aktuell zwei Hauptverfahren diesbezüglich angeboten: Die Triple Osteotomie und die Periazetabuläre Osteotomie (PAO).
Bei der Triple Osteotomie wird das Becken „gebrochen“ und mitsamt der Hüftpfanne neu ausgerichtet, bei der PAO wird lediglich die Hüftpfanne aus dem Becken herausgelöst, patientenindividuell ausgerichtet und mittels mehrerer Schrauben fixiert. Die Triple Osteotomie wurde in Dortmund entwickelt und hat deshalb in Deutschland noch einen historischen Stellenwert. Weltweit hat sich die PAO mittlerweile als Standardverfahren beim Erwachsenen durchgesetzt, da diese einige Vorteile im Gegensatz zur Triple Osteotomie hat: Durch den Erhalt der „hinteren“ Beckensäule bei der PAO kann das Becken direkt belastet werden, was zu einer schnelleren Erholung nach der Operation führt.
Auch ist eine natürliche Geburt durch den Erhalt des Geburtskanals weiterhin möglich. Die PAO kann durch minimalinvasive Verfahren muskelschonend über einen einzigen Schnitt durchgeführt werden. Auch ist die Komplikationsrate in Zentren, die diese Operation routinemäßig durchführen, sehr gering. In unserer Klinik kommt beim Erwachsenen ausschließlich die PAO als OP-Methode in Frage. Im Rahmen der Operation werden signifikante Begleiterkrankungen des Oberschenkelknochens auch adressiert. Hier kann es häufig zu knöchernen Anbauten am Kopf-Hals-Übergang kommen, welche bei Bewegung zu einem Einklemmungsphänomen (Impingement) im Hüftgelenk führen.
Diese kann man über denselben Hautschnitt mit einer Eröffnung des Hüftgelenkes zurück trimmen, um eine störungsfreie Beweglichkeit im Hüftgelenk zu ermöglichen. Seltener kann der Oberschenkelknochen in sich auch verdreht sein, sodass der Schenkelhals entweder zu weit nach hinten oder vorne orientiert ist, was ebenfalls zu Bewegungseinschränkungen und Einklemmungen führen kann. Um diese Fehlstellung zu korrigieren, muss man einen zweiten Schnitt am Oberschenkel durchführen und hier ebenfalls eine Umstellungsoperation durchführen, damit Hüftkopf und Pfanne ideal zueinander positioniert sind.
Prof. Wassilew: Nach der PAO startet die Mobilisation der Patienten ab dem 1. postoperativen Tag unter Teilbelastung des operierten Beins mit 15kg für 6 Wochen an Unterarmgehstützen. Die Patienten dürfen durch die komplett muskelschonende Operationstechnik das operierte Bein direkt postoperativ aktiv beugen. Der Krankenhausaufenthalt beträgt im Schnitt ca. 3-5 Tage. Ziel während des Krankenhausaufenthaltes ist das Umsetzen der Teilbelastung bis zur sicheren Mobilisation auf der Treppe.
Für einige Tage erhalten die Patienten stärkere Schmerzmittel, die nach Entlassung nicht mehr notwendig sind und viele Patienten sind zügig schmerzfrei. Je nach Wunsch kann eine Reha durchgeführt werden. Eine ambulante Nachbehandlung mit regelmäßiger Physiotherapie im gewohnten, heimischen Umfeld ist aber genauso möglich und wird häufig bevorzugt. Nach 6 Wochen erfolgt eine Röntgenkontrolle, welche von unserem Team im Rahmen einer telemedizinischen „Onlinesprechstunde“ begutachtet wird. Bei unveränderter Positionierung der Hüftgelenkspfanne besprechen wir mit den Patienten die Aufbelastung zu vollem Körpergewicht ohne Unterarmgehstützen.
In den folgenden Wochen ist die intensive physiotherapeutische Beübung notwendig, um die abgebaute Muskulatur wieder zu kräftigen. Ab durchschnittlich 10 bis 12 Wochen sind die Patienten wieder arbeitsfähig. Eigene Studiendaten unserer Klinik durch die Nachbefragung von über 700 in unserer Klinik operierten Patienten zeigen, dass eine Rückkehr in den Sport mit einem sehr hohen Prozentsatz bereits innerhalb des ersten Halbjahres nach OP erfolgreich möglich ist.
Prof. Wassilew: Die Hüftdysplasie geht unbehandelt mit einem erhöhten Risiko eines vorzeitigen Gelenkverschleißes einher. Das würde zum einen mit immer stärkeren Schmerzen einhergehen und bedingt häufig als einzige Lösung ein künstliches Hüftgelenk um das 50. Lebensjahr herum, also durchschnittlich ca. 15 Jahre früher als in der „Normalbevölkerung“. Langzeitergebnisse zeigen jedoch, dass durch hüftgelenkserhaltene Operationen wie die PAO das Risiko einer frühzeitigen Arthrose signifikant minimiert werden kann.
Die Hüftdysplasie geht unbehandelt mit einem erhöhten Risiko eines vorzeitigen Gelenkverschleißes einher.
Prof. Wassilew: In den letzten Jahren hat sich klinisch und wissenschaftlich einiges getan. Durch hochauflösende Bildgebung konnte die Diagnostik verbessert und durch dreidimensionale Simulationen die Therapie passgenau geplant werden. Außerdem hat sich die operative Therapie weiter verbessert. Die PAO ist nun noch minimal-invasiver, die OP-Zugänge noch kleiner und durch die hohe Expertise unserer Klinik konnten wir auch die Nachbehandlung der Patienten weiter verbessern. Ebenso hat man eine größere Expertise über die vorher genannten Begleiterkrankungen des Oberschenkelknochens gewonnen und weiß, in welchen Konstellationen die Patienten von einer zusätzlichen Therapie profitieren und wann eher nicht.
Prof. Wassilew: Neben Forschungsprojekten zu den postoperativen Ergebnissen und den operativen Therapien rückt die Forschung zu Begleitpathologien der Hüftdysplasie – vor allem der Weichgewebestrukturen (Gelenklippe, Knorpel, Kapsel, Muskulatur) - weiter in den Fokus. Hierbei wird sich in den kommenden Jahren zeigen, inwieweit beeinflusste Umgebungsstrukturen des Hüftgelenks am besten patienten-individuell therapiert werden können. In zahlreichen dieser wissenschaftlichen Schlüsselthemen ist unsere Klinik mit einer innovativen Forschungsabteilung vertreten.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 10.04.2024.