Prof. Heidenreich: Die Vorläuferzellen des Hodenkrebs werden bereits in der Entwicklung des Hodens während der Schwangerschaft angelegt und reagieren hormonempfindlich. Nach der Geburt ist bei den Jungen bis zur Pubertät praktisch keine Hormonaktivität des Hodens vorhanden. Erst mit Eintritt der Pubertät und der dadurch bedingten hormonellen Veränderungen wird ein Wachstumsreiz auf die Vorläuferzellen ausgeübt, die dann in unterschiedlichen Zeitintervallen zu einem manifesten Hodenkrebs auswachsen können.
Prof. Heidenreich: Erste Anzeichen für Hodenkrebs sind meist eine schmerzlose Vergrößerung des Hodens sowie ein gewisses subjektives Schweregefühl des betroffenen Hodens. Bei kleineren Befunden tasten die Männer meist selbst eine schmerzlose, derbe Verhärtung am Hoden. Ganz selten kann es bei hormonproduzierenden Hodentumoren zu einer einseitigen oder beidseitigen Vergrößerung des Brustdrüsenkörpers kommen. Noch seltener stehen Rückenschmerzen bei deutlicher Metastasenbildung im Vordergrund der ersten Symptome.
Prof. Heidenreich: Eine klassische Früherkennung des Hodentumors ist aufgrund der Seltenheit des Tumors nicht etabliert. Wenn die Männer eine positive Familienanamnese aufweisen, d.h. ein erstgradiger Verwandter bereits wegen eines Hodentumors behandelt wurde, sollten die Männer nach der Pubertät den Hoden 1-2 mal jährlich abtasten. Beim Abtasten ist es am besten, den Hoden mit einer Hand leicht zu fixieren, die Haut des Hodenfaches über dem Hoden zu spannen und dann leicht mit der anderen Hand die Oberfläche des Hodens abzutasten.
Eine klassische Früherkennung des Hodentumors ist aufgrund der Seltenheit des Tumors nicht etabliert.
Prof. Heidenreich: Bei Beschwerden oder auch bei einem schmerzlosen Tastbefund sollte man immer einen Urologen aufsuchen. Dort wird der Tastbefund nachuntersucht und eine Ultraschalluntersuchung des Hodens durchgeführt. Ist der Ultraschall verdächtig auf das Vorliegen eines bösartigen Hodentumors, werden noch sogenannte Tumormarker im Blut bestimmt. Dabei handelt es sich um hormonähnliche Eiweißsubstanzen, die der Tumor produziert. Dazu gehören: alpha Fetoprotein (AFP), humanes ß-Choriogonadotropin (ß-hCG) und Lactatdehydrogenase (LDH).
Prof. Heidenreich: Die Therapie des bösartigen Hodentumors erfolgt heute risikoadaptiert und individualisiert, d.h. die Therapie wird abhängig gemacht von der feingeweblichen Zusammensetzung des Hodentumors, der Ausbreitung des Tumors und der Konzentration der oben genannten Tumormarker im Blut. Am Anfang der Therapie steht bei begründetem Verdacht immer die sogenannte Hodenfreilegung über einen Schnitt an der Leiste. Bei erhöhter Serumkonzentration von AFP oder ß-hCG ist das Vorliegen eines bösartigen Hodentumor sicher, der tumortragende Hoden wird entfernt und der feingeweblichen Untersuchung zugeführt.
Bei negativen Tumormarkern wird der Hoden auch über den Zugang an der Leiste freigelegt, der Tumor wird aus dem Hodengewebe ausgeschält und einer feingeweblichen Untersuchung während der Operation zugeführt (sog. Schnellschnitt): zeigt der Schnellschnitt einen bösartigen Tumor, wird der Hoden entfernt. Liegt ein gutartiger Hodentumor vor, wird der Hoden belassen. Eine Hodenentfernung bei negativen Markern ohne Schnellschnitt ist heute nicht mehr statthaft. Lediglich bei einem beidseitigen Hodentumor oder einem Tumor in einem Einzelhoden, kann auch bei Bösartigkeit eine organerhaltende Therapie an einem Zentrum der Hodentumortherapie durchgeführt werden.
Bei Bösartigkeit wird eine sogenannte Umfelddiagnostik durchgeführt, um mögliche Metastasen erkennen zu können. Dies erfolgt durch ein CT des Brustkorbes und ein CT oder MRT des Bauchraumes und des Beckens. Ebenso werden die eventuell vor der Hodenentfernung erhöhten Serumkonzentrationen der Tumormarker erneut kontrolliert, um abschätzen zu können, ob diese entsprechend ihrer Halbwertszeit im Blut regelrecht abfallen oder nicht. Ein zu langsamer Abfall kann ein Hinweis für das Vorliegen von mikroskopischen, in einem CT oder MRT nicht sichtbaren Metastasen sein.
Nach Eingang des endgültigen feingeweblichen Befundes werden alle Untersuchungsergebnisse zusammengetragen und die Therapie mit dem Patienten besprochen. Histologisch unterscheidet man die Seminome von den sogenannten Nichtseminomen, die unterschiedliche Therapien nach sich ziehen können. In der Zusammenschau aller Befunde (Histologie, CT, Tumormarker) werden die Hodentumoren in verschiedene Ausbreitungsstadien und Risikogruppen eingeteilt, die unterschiedliche Therapieformen erforderlich machen.
Die klinischen Stadien werden grob wie folgt eingeteilt:
Die Risikoklassifikation erfolgt bei metastasierten Hodentumoren in die 3 Kategorien günstig, intermediär und ungünstig.
Seminome: Im klinischen Stadium I ist der Hoden entfernt, die CT-Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf eine Metastasenbildung und die Tumormarker sind in den Normbereich gelegen. Der Pathologe beurteilt am feingeweblichen Präparat des Hodentumors die folgenden Parameter: Tumorgröße, Einwachsen von Tumorzellen in Blut- und/oder Lymphgefäße oder das Rete testis. Liegen keine negativen Risikofaktoren vor, ist die Aktive Surveillance, also das kontrollierte Zuwarten, als Therapie der Wahl anzusehen, da weniger als 10% der Patienten ein Rezidiv entwickeln und eine aktive Therapie benötigen. Die langfristige Heilungsrate beträgt bei diesem Vorgehen praktisch 100%. Bei Vorliegen von negativen Risikofaktoren wird in aller Regel ein Zyklus einer Chemotherapie bestehend aus dem einzigen Medikament Carboplatin appliziert. Dadurch wird die Rezidivrate von über 40% auf ca. 5% abgesenkt.
In den klinischen Stadien II A-B steht als Therapie die Chemotherapie mit 3 Zyklen einer Kombination aus Cisplatin, Etoposid und Bleomycin (PEB), die kombinierte Radiotherapie plus Carboplatin Chemotherapie oder die primäre operative Entfernung der Lymphknoten zur Diskussion. Die Indikation zur primären Operation (nervschonende retroperitoneale Lymphadenektomie) besteht bei negativen Tumormarkern und einer Lymphknotengröße unter 3cm. Die Operation soll nur an ausgewiesenen Zentren erfolgen. Alle drei Optionen führen zu der gleichen hohen Heilungsrate von nahezu 100%. Im individuellen Gespräch muss geklärt werden für welche Therapie sich der Patient unter Abwägen der Vorteile und der Risiken entscheidet.
In den Stadien II C und III werden bei allen Patienten 3 Zyklen (günstige Prognose) oder 4 Zyklen (intermediäre Prognose) der PEB – Chemotherapie gegeben.
Nichtseminome: Im klinischen Stadium I ohne Risikofaktoren erfolgt ebenso wie bei den Seminomen typischerweise die aktive Surveillance. Als negativer Risikofaktor wird bei den Nichtseminomen der Nachweis von Tumorzellen in den Blut- und/oder Lymphgefäßen definiert. Liegt dieser Faktor vor, steigt das Risiko versteckter Metastasen auf über 50%. Zeigt sich ein solcher Nachweis der Tumorzellen in Kombination mit dem Vorliegen eines embryonalen Karzinoms, steigt das Rezidivrisiko gar auf über 80% an. In diesen Fällen wird eine prophylaktische Chemotherapie mit einem Zyklus PEB empfohlen.
In dem Stadium II A/B wird bei den Nichtseminomen zwischen denen mit oder ohne erhöhte Serumkonzentration der Tumormarker unterschieden. Sind die Tumormarker erhöht, werden die Patienten mit einer Chemotherapie behandelt. Sind die Tumormarker normal, werden die Patienten an ausgewiesenen Zentren mittels einer retroperitonealen Lymphadenektomie ohne begleitende Chemotherapie operiert.
Metastasierte Hodentumoren: Sind die Patienten ausgedehnt metastasiert (Lymphknoten, Lunge, Leber, etc.) werden in Abhängigkeit des Risikoprofils 3-4 Zyklen einer primären Chemotherapie nach dem PEB-Schema appliziert. Nach Abschluss der Chemotherapie wird bei den Nichtseminomen in ca. 40% der Patienten eine Operation der verbliebenden Restmetastasen erforderlich, während die Patienten mit einem Seminom fast immer nur eine Nachsorge benötigen. Diese meist komplexen Operationen sollten an einem ausgewiesenen Zentrum durchgeführt werden.
Prof. Heidenreich: Eine typische Chemotherapie besteht aus den 3 Medikamenten: Cisplatin, Etoposid und Bleomycin. Ein Zyklus der Chemotherapie besteht aus 21 Tagen. An den Tagen 1, 8 und 15 wird dabei Bleomycin appliziert. An den tagen 1-5 werden Cisplatin und Etoposid gegeben. An Tag 22 wird der nächste Zyklus gestartet. Die Strahlentherapie wird heute praktisch nicht mehr angewendet. Die einzige Indikation wäre noch bei Patienten mit einem Seminom im klinischen Stadium II A/B mit Lymphknotenmetastasen von maximal 3cm Größe gegeben. In dieser Situation wird die Strahlentherapie mit einer einmaligen Gabe von Carboplatin kombiniert. Die Strahlentherapie wird im Stadium II A mit 30 Gy, im Stadium II B mit 36 Gy ambulant durchgeführt. Es werden typischerweise 2 Gy pro Sitzung appliziert, sodass sich eine Behandlungsdauer von 15-18 Tagen mit einer Therapiepause jeweils an den Wochenenden ergibt.
Die Strahlentherapie wird heute praktisch nicht mehr angewendet.
Prof. Heidenreich: Die Therapie hat sich dahingehend geändert, dass man de-eskaliert und risikoadaptiert behandelt, d.h. man versucht Therapieformen anzuwenden, die bei gleicher therapeutischer Effektivität eine geringere Gefahr von langfristigen therapiebegleitenden Nebenwirkungen aufweist. In den klinischen Stadien I der Seminome und der Nichtseminome steht bei fehlenden Risikofaktoren mittlerweile die aktive Surveillance (also das kontrollierende Abwarten) im Vordergrund. Es erfolgt keine Therapie sondern bei den Seminomen die Bestimmung der Tumormarker und eine kernspintomografische Untersuchung des Bauchraums alle 6 Monate über die ersten 2 Jahre.
Bei den Nichtseminomen wird neben der genannten Nachsorge noch eine Computertomografie des Brustkorbs addiert. Nur bei Vorliegen von Risikofaktoren erfolgt eine adjuvante Chemotherapie mit einem Zyklus Carboplatin bei den Seminomen und einem Zyklus PEB bei den Nichtseminomen. Auch bei den Patienten mit Lymphknotenmetastasen geht man zurückhaltender bezüglich der aktiven Therapie vor. Kleine Befunde werden kontrolliert und gegebenfalls operiert. Ebenso kommen neue Tumormarker wie miR371 zur Anwendung, der eine wesentlich sensitivere Nachweismöglichkeit einer Metastasierung ermöglicht als die Bestimmung der klassischen Tumormarker AFP, ß-hCG und LDH. Auch bei den Patienten mit sogenannten Residualtumoren nach erfolgreicher Chemotherapie wird die Indikation zur operativen Entfernung der Resttumoren zurückhaltender und individueller gestellt als noch vor wenigen Jahren.
Liegen sogenannte günstige Risikofaktoren bei einem Residualtumor kleiner als 1cm vor, erfolgt gar keine Operation mehr. Liegen größere Residualtumoren in dem primären Lymphabflussgebiet des initialen tumortragenden Hodens vor, wird nur noch innerhalb dieses Gebietes operiert und nicht mehr radikal und beidseitig. Dieses Vorgehen bedingt eine geringere Komplikationsrate und den Erhalt der Ejakulation bei über 80% der Patienten. Eine ausgedehnte radikale Operation erfolgt nur noch bei großen Residualtumoren. Bei Patienten mit einem Hodentumor in einem Einzelhoden oder bei Patienten mit unklaren Befunden im Hoden wird heute in erster Linie organerhaltend operiert.
Prof. Heidenreich: Die Häufigkeit der Nachsorge richtet sich nach dem Risikoprofil des Hodentumors und der stattgehabten Therapie. Grob orientierend erfolgt die Kontrolle in den ersten beiden Jahren alle 3 Monate, im 3. Jahr alle 4 Monate, im 4. Jahr 2-mal jährlich und im 5. Jahr einmal jährlich. Danach kann die Kontrolle in aller Regel beendet werden.
Prof. Heidenreich: Die Entfernung eines Hodens wirkt sich gar nicht auf den Samenerguss aus. Dieser könnte nur dann negativ beeinträchtigt sein, wenn eine retroperitoneale Lymphknotenentfernung vorgenommen wurde. Die Auswirkungen auf den gesunden Hoden und die Fruchtbarkeit können unterschiedlich beeinträchtigt sei. Bei mehr als der Hälfte der Patienten erkennt man keinerlei Beeinträchtigungen; bei einem Drittel der Patienten besteht eine vorübergehende Beeinträchtigung und ca. 10% der Patienten sind unfruchtbar, was aber weniger an dem tumortragenden Hoden als an Entwicklungsstörungen des gesunden Hodens liegt. Wichtig ist, dass die Patienten vor dem operativen Eingriff einer Hodenentfernung die Möglichkeit haben, eine Kryodepot des Samens anzulegen, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.
Die Entfernung eines Hodens wirkt sich gar nicht auf den Samenerguss aus.
Prof. Heidenreich: Die häufigsten Sorgen bestehen naturgemäß in der Angst vor Rezidiven und in der Angst, an dem Hodenkrebs zu versterben. Danach stehen die Sorgen vor Unfruchtbarkeit und Impotenz im Vordergrund.
Prof. Heidenreich: Die Langzeitprognose ist sehr gut. In Abhängigkeit des Risikoprofils überleben langfristig – und das bedeutet bei den Hodentumorpatienten 40-50 Jahre – 95% bei günstigen Risikofaktoren, 85-95% bei intermediären Risikofaktoren und 60-70% bei ungünstigen Risikofaktoren.
Prof. Heidenreich: Der Hoden kann unmittelbar im Rahmen der Hodenentfernung durch eine Prothese ersetzt werden, wenn der Patient das wünscht. Ansonsten wird man die Wundheilung abwarten und ab dem 3. Monat nach der Hodenentfernung die Prothese implantieren können.
Prof. Heidenreich: Die aktuelle Forschung beschäftigt sich mit verschiedenen Fragestellungen, wie z.B. ein verbessertes Erkennen von Risikofaktoren für eine Mikrometastasierung, eine verbesserte Diagnostik von Metastasen und eine optimierte Identifikation von Residualtumoren mit vitalen, also lebenden, Tumorzellen ermöglichen soll. So werden für die Fragestellung ausgedehnte molekulare Untersuchungen des entfernten Primärtumors durchgeführt, die das Ziel haben, eine Gensignatur zu erkennen, die mit einem erhöhten Risiko für eine Lymphknotenmetastasierung assoziiert sind und eine frühe prophylaktische Therapie ermöglichen.
Die ersten Studien hierzu haben bereits 6 verschiedene Gene identifiziert, die nun in verschiedenen Kliniken validiert werden, bevor diese breitflächig eingesetzt werden können. Es werden neue im Blut zirkulierende Marker wie die miR371 oder die Menge an zirkulierender Tumor-DANN geprüft, die in der Lage sind, kleinste Metastasen von 3-4 mm frühzeitig zu diagnostizieren und eine Therapie zu optimieren. Außerdem werden die bildgebenden Verfahren der Computertomografie oder der Kernspintomografie mit Methoden der künstlichen Intelligenz verknüpft, um zu identifizieren, bei welchen Patienten sich vitale Tumorzellen in den Residualtumoren verstecken, die einer operativen Therapie zugeführt werden müssen und welche Patienten mit Residualtumoren einer abwartenden Strategie zugeführt werden können. Die ersten Daten zeigen eine Treffsicherheit von ca. 90%, aber auch diese Daten müssen in weitergehenden Studien validiert werden, bevor diese allgemein genutzt werden können.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 02.05.2024.