Prof. Urban: Das Medikament Hepcludex®, mit dem Wirkstoff Bulevirtide, war früher unter dem Namen Myrcludex B bekannt. Es ist ein sogenannter Eintrittsinhibitor. Das bedeutet, dass das Medikament wirkt, indem es einen Teil der Oberfläche des Hepatitis B- und D-Virus imitiert, ähnlich dem abgebrochenen Bart eines Schlüssels. Es bindet an den Rezeptor, der von beiden Viren benutzt wird, in die Leberzelle einzudringen. Seine Wirksamkeit beruht also auf einem indirekten Mechanismus, da das Medikament die Virusvermehrung in der Zelle nicht direkt stört. Stattdessen schützt es nicht infizierte Zellen, die auch bei einer bestehenden Infektion immer wieder neu gebildet werden, davor, infiziert zu werden.
Die therapeutische Wirkung des Medikaments beruht darauf, dass die infizierten Zellen absterben oder vom Immunsystem eliminiert werden. Der Schutz der dabei neu während dieser Zeit neu gebildeten Zellen führt mit der Zeit dann zu einer Regeneration der Leber, was den therapeutischen Effekt ausmacht.
Prof. Urban: Die Viruslast, also die Anzahl der Viren im Blut des Patienten, nimmt kontinuierlich ab, weil virusproduzierende Hepatozyten absterben. Dadurch gibt es weniger „Replikationsraum“ in der Leber und immer weniger Zellen produzieren neue Viren. Man kann das mit einem Museum vergleichen, in dem die Eingangstür geschlossen wird: Es gehen ständig Leute raus, keiner kommt mehr rein, und in der Summe sind am Ende immer weniger Leute im Museum, bis es hoffentlich leer ist.
Der Nachteil des Medikaments ist, dass es über einen längeren Zeitraum eingenommen werden muss, da es nicht direkt auf das Virus wirkt, sondern auf das gesamte System aus Virus und Leber. Deshalb muss das Medikament kontinuierlich eingenommen werden. In dieser Zeit nimmt die Viruslast sowohl im Blut als auch in der Leber bei den allermeisten Patienten kontinuierlich ab.
Besonders wichtig für die Patienten ist, dass sich die Leberwerte schnell normalisieren. Die neu gebildeten Leberzellen übernehmen dann die normale Funktion und sind nicht mehr infiziert. Sie tragen auch nicht mehr zur Erhöhung der typischen Leberenzyme bei. Dieser Prozess verläuft relativ schnell, innerhalb weniger Wochen, und die Viruslast sinkt über Monate, bis sie mit der Zeit (1-2 Jahre) sogar negativ werden kann.
Die neu gebildeten Leberzellen übernehmen dann die normale Funktion und sind nicht mehr infiziert.
Prof. Urban: Die größte Herausforderung war anfangs die Skepsis gegenüber dem indirekten Wirkmechanismus. Es gibt zwar Eintrittsinhibitoren, die ursprünglich für HIV entwickelt wurden, aber sie waren nicht sehr erfolgreich. Denn das HI-Virus (oder HIV), das AIDS verursacht, bedient sich eines anderen Replikationsmechanismus als das Hepatitis-Delta-Virus.
Eine weitere große Skepsis betraf das Medikament selbst, denn es handelt sich um ein Peptid. Das heißt, es ist ein relativ komplexes Molekül und kein sogenanntes "small molecule". Das Peptid hat eine Länge von 47 Aminosäuren und einen zusätzlichen Fettsäurerest. Es gab Bedenken, ob dieses Peptid stabil ist, oder ob es im Serum schnell abgebaut wird, wie lang seine Halbwertszeit ist, wie oft es verabreicht werden muss und ob es überhaupt die Leber erreicht, wo es wirken soll.
Aber all diese Bedenken konnten im Zuge unserer präklinischen Untersuchungen aufgeräumt werden. Zum Beispiel hat sich gezeigt, dass dieses Peptid, nach Injektion unter die Haut (so wird es als Medikament verabreicht), mit einer enormen Effizienz, ähnlich wie das Virus selbst, in die Leber gelangt und dort mit hoher Effizienz die Eintrittspforte des Virus blockiert. Für ein Peptid ist es im Serum sehr stabil. In seiner jetzigen Form muss es täglich unter die Haut gespritzt werden, ähnlich wie Insulin bei Diabetikern.
Letztendlich wurde diese anfängliche Skepsis sehr schnell überwunden, als wir die ersten klinischen Studien an Freiwilligen durchführten. Wir konnten zeigen, dass das Peptid stabil ist, in die Leber gelangt und vor allem in der sogenannten Phase 2 sehr effektiv gegen das Virus wirkt.
Prof. Urban: Wichtig zu wissen ist, dass das Hepatitis-D-Virus (HDV) gewissermaßen ein Parasit des Hepatitis-B-Virus ist. Um sich mit Hepatitis D zu infizieren, muss man bereits mit Hepatitis B infiziert sein oder das HBV (Hepatitis-B-Virus) gleichzeitig mit HDV (Hepatitis-D-Virus) übertragen werden. Das Hepatitis-D-Virus ist damit ein sogenanntes Satellitenvirus, das sich nicht selbständig vermehren kann, sondern die Hilfe des Hepatitis-B-Virus benötigt, das ihm seine Hülle zur Verpackung zur Verfügung stellt.
Es stellt sich die Frage, wie ein solches Virus überleben kann, wenn es eine andere Infektion als Basis benötigt. Hepatitis B ist eine der am weitesten verbreiteten Viruserkrankungen, weltweit sind etwa 257 Millionen Menschen chronisch infiziert. Vor allem in asiatischen Ländern wird sie häufig von der Mutter auf das Kind übertragen, sodass sich viele Menschen schon früh in ihrem Leben infizieren. Diese Menschen bilden ein Reservoir für eine Überinfektion mit dem Hepatitis-D-Virus, das sich dann mit Hilfe von Hepatitis-B-Viren in der Leber repliziert.
Seit den 70er-Jahren weiß man, dass es ein Hepatitis-D-Virus gibt. Davor kannte man nur das Hepatitis-B- und das Hepatitis-A-Virus und ein zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifiziertes Virus, welches man non-A-non-B nannte (dieses stellte sich 1989 als Hepatitis-C-Virus heraus). Die genaue Zahl der Menschen, die mit Hepatitis D überinfiziert sind, ist unklar, aber Schätzungen gehen von mindestens 12 Millionen bis möglicherweise 50-60 Millionen aus. Realistisch ist, dass etwa 20-25 Millionen Menschen chronisch HBV/HDV-koinfiziert sind.
Da HDV völlig anders repliziert als HBV, sind alle Therapeutika die die HBV-Replikation direkt blockieren (z.B. Tenofovir, Entecavir) bei einer Hepatitis-D-Infektion wirkungslos. Interferon-α (IFNα und seine pegylierte Form) sind ebenfalls bei HBV zugelassen. Sie wurden auch bei HDV-Infektionen angewendet und zeigten eine gewisse Wirksamkeit, allerdings mit mäßigem Erfolg und starken Nebenwirkungen. Die Prävalenz der Hepatitis-D-Infektion ist je nach geographischer Region weltweit und innerhalb großer Länder sehr unterschiedlich. Man geht davon aus, dass etwa 5-10% aller Hepatitis-B-Infizierten auch eine Hepatitis-D-Infektion haben. In der Mongolei sind es bis zu 60%, während es in anderen Ländern kaum Hepatitis-D-Infektionen gibt. Afrika ist wahrscheinlich ein Kontinent mit sehr vielen Hepatitis-D-Fällen zusätzlich zur bereits hohen Hepatitis-B-Prävalenz, aber es wurde bisher zu wenig getestet.
Ein wichtiger Punkt ist, dass eine Impfung gegen Hepatitis B auch eine Hepatitis-D-Infektion verhindern kann. Vor allem in Ländern wie Afrika und Asien, in denen die Mutter-Kind-Übertragung häufig vorkommt, ist die Impfung ein wichtiger Aspekt der Prävention. Gegen eine spätere Superinfektion bei bereits mit Hepatitis B infizierten Personen hilft die Impfung jedoch nicht. Daher ist die Impfung gegen Hepatitis B der wichtigste Schutz gegen Hepatitis D.
Ein wichtiger Punkt ist, dass eine Impfung gegen Hepatitis B auch eine Hepatitis-D-Infektion verhindern kann.
Prof. Urban: “Gut Ding will Weile haben” könnte man sagen. Ich kann sogar genau sagen, wie lange es gedauert hat. Von der Entdeckung des Medikaments, oder besser gesagt, von der ersten Charakterisierung der Vorstufen dieses Peptids in Zellkultursystemen, bis zur ersten Injektion in einen Menschen vergingen 18 Jahre. Es war zu dieser Zeit extrem kompliziert, Experimente durchzuführen, selbst einfache Laborexperimente. Wir hatten keine Zellkultursysteme für Hepatitis B und C, das heißt, wir konnten nicht einfach in der Petrischale experimentieren.
Stattdessen brauchten wir Lebergewebe von Patienten, denen wegen eines Karzinoms Teile der Leber entfernt werden musste. Mit der Zustimmung einer Ethikkommission konnten wir dann ein Stück Lebergewebe vom Rand dieser Resektion erhalten. Dieses kultivierten wir für Experimente, was sehr zeitaufwändig war. Ab 2005 hatten wir dann die erste Zellkultur, in der wir das Peptid optimiert und die sogenannte Leitsubstanz (das spätere Medikament) Substanz definiert haben. Ich erinnere mich noch genau: Die erste Injektion in einen Menschen erfolgte am 27. Juli 2011. Es handelte sich nicht um einen Patienten, sondern um einen gesunden Probanden.
Prof. Urban: Die Entwicklung eines Medikaments beginnt in der präklinischen Phase. Hier wird eine Substanz in vitro, also in Zellen, gegen ein bestimmtes Virus getestet. Wichtig ist dabei die Charakterisierung der Substanz, insbesondere ihre Aktivität, die benötigte Konzentration und die erzielte Wirkung. Danach folgt die Optimierung der Substanz, bei der geprüft wird, ob die Struktur des Moleküls verbessert werden kann, meist durch chemische Modifikation.
Erfolgreiche Substanzen erreichen dann oft nanomolare oder sogar picomolare Konzentrationsbereiche, d.h. es reichen sehr kleine Mengen aus, um eine hohe Wirksamkeit zu erzielen. Nach der Optimierung folgt die In-vivo-Phase, in der die Substanz im ganzen Organismus getestet wird. Hier muss herausgefunden werden, wie die Substanz am besten verabreicht werden kann, ob als Tablette, Injektion oder auf andere Weise, und wie sie durch den Körper transportiert wird, ohne abgebaut zu werden - dies wird als Pharmakokinetik bezeichnet. Wichtig ist dabei auch die Substanz vor zu schnellem Abbau zu schützen.
Ist die Substanz auch in vivo wirksam, muss sie nach strengen Reinheitskriterien synthetisiert und in Tiermodellen unter anderem auch auf seine Giftigkeit hin (Toxizitätsstudien) getestet werden. Besteht die Substanz diese Tests und erweist kann eine klinische Studie beantragt werden. In Phase 1 geht es vor allem um die Sicherheit der Substanz: Gesunde Probanden erhalten steigende Dosen, um mögliche Nebenwirkungen zu identifizieren. In unserem Beispiel traten außer einer symptomlosen Erhöhung der Gallensalze keine systemischen Nebenwirkungen auf.
Nach erfolgreicher Phase 1 folgt Phase 2, in der die Wirksamkeit und die erweiterte Sicherheit an Patienten getestet wird; in unserem Fall waren das 120 Patienten in vier Dosisgruppen. Verläuft auch diese Phase erfolgreich, wird die Phase 3 geplant, die in unserem Fall aufgrund der Daten der Phase 2 für fünf Jahre geplant wurde. Hier wird untersucht, ob die Substanz bei einer noch höheren Patientenzahl langfristig sicher und wirksam ist, wie effizient sich die Viruslast über den längeren Zeitraum reduzieren oder sogar negativieren lässt und ob das Medikament abgesetzt werden kann ohne das ein Wiederaufflammen der Infektion erfolgt, was einer Heilung entspricht.
In dieser Phase wurden in unserem speziellen Fall (wir hatten ja zu diesem Zeitpunkt eine konditionelle Zulassung) auch "Real-World"-Daten einbezogen, also Informationen aus der tatsächlichen Anwendung der Substanz in klinischen Zentren.
Prof. Urban: Dank einer beschleunigten Zulassung, der sogenannten Prime Eligibility der EMA, konnte das Medikament bereits nach erfolgreichem Abschluss der Phase 2 und bei laufender Phase 3 auf den Markt gebracht werden. Dies war besonders wichtig für Patienten, da diese ja bis zu diesem Zeitpunkt keine spezifisch wirksame Therapie hatten. Die beschleunigte Zulassung erhalten Medikamente die in einer solchen Situation Wirksamkeit zeigen, also die Lücke eines sogenannten „unmet medical need“ füllen. Die noch laufende Phase 3 deckt sogar noch zwei Jahre nach der 3-jährigen Gabe des Medikamentes ab, um Langzeitdaten zu sammeln und zu testen, ob Patienten geheilt werden können.
Von besonderem Interesse sind auch künftige Studien mit schwer kranken Patienten, etwa mit dekompensierter Leberzirrhose, die bisher von der Anwendung ausgeschlossen waren. Sie sollen zeigen, ob das Medikament auch diesen Patienten helfen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Prozess der Medikamentenentwicklung komplex und langwierig ist, aber durch dieses spezielle Programm der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA) eine beschleunigte Zulassung lebensrettender Medikamente früher zur Verfügung gestellt werden können.
Dies war besonders wichtig für Patienten, da diese ja bis zu diesem Zeitpunkt keine spezifisch wirksame Therapie hatten.
Prof. Urban: Diese Frage ist etwas schwieriger zu beantworten, weil sie so komplex ist. Wenn wir in Europa ein neues Medikament zulassen und es dann in den ersten europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien schnell verfügbar ist, können wir Hepatitis-B/D-koinfizierten Patienten mit diesem Medikament schnell helfen. Auch sind in diesen Ländern viele Patienten bereits diagnostiziert und bekannt.
Nach und nach kommen dann auch alle anderen europäischen Länder hinzu, was von Verhandlungen mit den nationalen Zulassungsbehörden abhängt. Hier geht es auch um die Aushandlung des Preises, die die Krankenkassen ja dann übernehmen müssen. Allerdings wissen wir in vielen (auch wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern) noch nicht einmal, wer überhaupt mit Hepatitis D infiziert ist. In vielen Ländern gibt es auch das Problem, dass es keine ausreichende Krankenversicherung gibt und die Patienten dann das Medikament selbst oft nicht bezahlen können.
Viele Menschen mit Hepatitis D leben in Ländern mit sehr niedrigem oder nur geringem Einkommen wie Afrika und Südamerika. Afrika ist besonders betroffen, weil dort Hepatitis B weit verbreitet ist und wie erste Studien zeigen, auch HDV regional sehr häufig auftritt. In China gibt es zahlenmäßig die meisten Hepatitis-B-Infizierten, Die Anzahl der HDV-ko-infizierten ist aber auch hier nur partiell erforscht.
Es wird sicher lange dauern, bis Menschen in wirtschaftlich schwachen Staaten zu dem Medikament bekommen werden. In Europa und Russland ist es bereits zugelassen, in den USA noch nicht. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat das Medikament noch nicht zugelassen, was aber nicht an der Wirksamkeit liegt, sondern an der Art wie das Medikament appliziert werden soll und auch weiteren Faktoren. Viele Länder orientieren sich jedoch an der amerikanischen Zulassung, die eine Signalwirkung hätte.
Es gibt noch viele Diskussionen über die Produktion und die Preisgestaltung des Medikaments, damit es auch wirklich bei den Patienten ankommt. Diese komplexen Fragen brauchen Zeit, um gelöst zu werden. Letztendlich wird das aber, wie man bei der mittlerweile sehr guten Verfügbarkeit von HIV Medikamenten sehen kann, Stück für Stück gelingen.
Ein interessantes Beispiel ist, dass die Preise für Nukleosidanaloga gegen Hepatitis B in Afrika inzwischen so weit gesunken sind, dass die Verabreichung des Medikaments billiger ist als die Diagnose der Krankheit. Die Möglichkeit, Medikamente durch langwierige Entwicklungen und Verhandlungen zugänglich zu machen, besteht, aber es braucht Zeit. Die betroffenen Regierungen müssen mit ihren Gesundheitsprogrammen an den Verhandlungstisch kommen und die Lizenzinhaber müssen bereit sein, seine Lizenzen an bestimmte Länder zu vergeben, damit diese das Medikament selbst herstellen und im Land verantwortungsvoll an betroffene Patienten verteilen können.
Trotz dieser komplexen Probleme ist ein Anfang gemacht und das ist gut so. Und es hat auch bereits andere Firmen motiviert, Eintrittsinhibitoren zu entwickeln, was den Wettbewerb belebt und letztlich den Patienten zugutekommt.
Prof. Urban: Kontraindikationen würde ich es nicht nennen. Eine Kontraindikation wäre, wenn jemand eine bestimmte Krankheit hat und nach der Einnahme des Medikaments eine starke toxische Wirkung erfahren würde. Allerdings ist das gesamte Spektrum möglicher Indikationen noch nicht ausgeschöpft, etwa die Frage, ob das Medikament bei HDV-Patienten mit sehr fortgeschrittener Zirrhose oder sogar schon mit Leberkrebs hilfreich ist.
Ein anderes Beispiel sind Kinder. In Europa gibt es nicht viele Kinder mit chronischer Hepatitis D, aber in Ländern mit sehr hoher Prävalenz, wie der Mongolei, gibt es sie. Auch dafür gibt es noch keine Zulassung, weil Kinder bisher nicht in die Studien einbezogen wurden und naturgemäß kleinere Dosen zu verabreichen sind.
Es gibt auch keine Zulassung für schwangere Frauen mit Hepatitis D. Wir haben keine Sicherheitsstudien, die zeigen, dass das Medikament für den Fötus unschädlich ist. Wir wissen zwar, dass es in den präklinischen Studien keine fruchtschädigende oder teratogene Wirkung aufweist, das allein reicht aber nicht aus. Nun stellen sie sich vor, eine HDV/HBV-koinfizierte Patientin, die mit Hepcludex® seit einem Jahr erfolgreich behandelt wird und der es seit der Behandlung besser geht wird schwanger. Wenn das Medikament nach nur einem Jahr abgesetzt wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Aufflammen der Infektion die Folge sein. Die Frage stellt sich: Was ist die bessere Alternative für Mutter und Kind? Absetzen der Medikation oder Weitergabe mit fehlender Indikation. All dies muss noch geklärt werden. Eine Kontraindikation im eigentlichen Sinne ist das Fehlen der Indikation dabei nicht.
Bei diesem Medikament muss man in glücklicherweise sehr wenigen Fällen auf Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten achten. Wenn jemand zum Beispiel bestimmte Statine einnimmt, die über das gleiche Molekül in die Leber transportiert werden, welches von Hepcludex® blockiert wird (NTCP), kann das die Aufnahme des Statins in die Leber behindern. In diesem Fall, muss die Medikation angepasst werden, was durchaus möglich ist.
Was wir ebenfalls noch nicht wissen, sind die Langzeiteffekte einer Behandlung über 3 Jahre hinaus. Solche Effekte müssen in Langzeitbeobachtungen analysiert werden. Man nennt das Phase 4 und das gilt für jedes Medikament. Langzeitdaten sind notwendig, um eine fundierte Bewertung vornehmen zu können.
Nicht zu vergessen ist, dass die meisten Patienten eine schnelle Normalisierung der Leberwerte und eine Reduktion der Viruslast im Serum und in der Leber zeigen. Leberbiopsien vor und nach der Behandlung zeigen, dass infizierte Zellen verschwinden. Die Patienten brauchen dann möglicherweise keine Lebertransplantation und die Leber regeneriert sich. Auch das Risiko für die Entstehung von Leberkrebs könnte verringert werden. Die möglichen Nebenwirkungen müssen immer gegen den Nutzen des Medikaments abgewogen werden.
Was wir ebenfalls noch nicht wissen, sind die Langzeiteffekte einer Behandlung über 3 Jahre hinaus. Solche Effekte müssen in Langzeitbeobachtungen analysiert werden.
Prof. Urban: Ich muss dazu sagen, ich bin kein Mediziner, also kann ich die medizinischen Implikationen der beobachteten Nebenwirkungen nur eingeschränkt beurteilen. Es gibt manchmal sogenannte "injection site reactions", also Reaktionen an der Einstichstelle, wenn man täglich die Spritze in die Unterhautgewebe setzt. An einer ungünstigen Stelle oder wenn die Spritze unsauber ist, kann es zu kleinen Entzündungen kommen.
In wenigen Fällen kam es zu allergischen Reaktionen, da das Peptid naturbedingt auch ein Allergen sein kann. Diese Reaktionen waren nie lebensbedrohlich und konnten durch lokale Behandlung der entzündeten Stelle kontrolliert werden. Auch bei den sehr seltenen allergischen Reaktionen war eine Desensibilisierung möglich, ohne die Therapie abbrechen zu müssen. All das sind sehr erfreuliche Nachrichten für betroffene Patienten.
Eine wichtige und generelle Nebenwirkung ist der Anstieg der Gallensalze im Blut. Das Zielmolekül in der Leber ist der Rezeptor, den das Virus benutzt, um in die Leberzelle einzudringen. Dieser Rezeptor ist ein Gallensalztransporter mit der Bezeichnung NTCP. NTCP hat die Aufgabe, bestimmte Gallensalze die aus dem Darm ins Blut gelangen wieder aufzunehmen und zu regenerieren. Ist der Transporter dieser spezifischen Gallensalze blockiert, werden sie nicht mehr über die Leber ausgeschieden, sondern steigen im Serum an. Das kann man messen, hat aber für den behandelten Patienten keine symptomatischen Effekte.
Anfangs gab es Bedenken, dass die durch bulevirtide/Hepcludex® bedingt erhöhten Gallensalze Juckreiz auslösen könnten, wie es bei manchen Erkrankungen der Fall ist. Glücklicherweise passiert das nicht. Studien haben gezeigt, dass eine erhöhte Gallensalzkonzentration im Serum nicht ursächlich für Juckreiz verantwortlich ist. Interessanterweise wurden Personen entdeckt, die aufgrund eines genetischen Defekts kein funktionales NTCP haben. Diese Personen hatten keine Symptome und können ein weitgehend normales Leben führen.
Es gibt auch Menschen mit bestimmten Enzymdefekten wie der Alkoholdehydrogenase, die keinen Alkohol vertragen, aber nicht krank sind. Diese Menschen mit NTCP-Defekt sind auch weniger anfällig für eine Infektion mit dem Virus, was uns in der Anfangsphase der Entwicklung beruhigte. Es zeigte sich, dass Menschen ohne funktionierendes NTCP über Generationen hinweg ohne größere Einschränkungen leben können.
Prof. Urban: Das ist natürlich eine sehr gute Frage, denn unser Medikament ist sehr wohl gegen Hepatitis-B-Viren wirksam. Das wurde in der Präklinik sowohl in vitro, als auch in Tiermodellen gezeigt. Es wirkt auch hier indirekt, indem es nicht infizierte Zellen schützt, während Hepatitis-B-infizierte Zellen eliminiert werden. Warum es noch nicht zugelassen ist, hat mehrere Gründe.
Ein Hauptgrund ist, dass es bereits sehr gute und preiswerte Medikamente gegen Hepatitis B gibt und damit natürlich kein beschleunigter Weg der Zulassungsbehörden notwendig ist. Eine chronische Hepatitis B kann mit diesen Arzneimitteln bisher nicht geheilt werden. Die klinischen Hürden für eine Krankheit, für die es bereits wirksame Medikamente gibt, sind jedoch viel höher. Es müssen umfangreiche Phase-3-Studien durchgeführt werden, was bei Hepatitis D nicht der Fall war, da es zum Zeitpunkt unserer Studien noch gar keine spezifisch wirksamen Medikamente gab.
Ich schließe aber nicht aus, dass klinische Studien mit Hepcludex® auch bei HBV-Patienten durchgeführt werden. Diese sind bereits in Vorbereitung, vor allem in Kombination mit bestehenden Medikamenten. Ziel ist es, herauszufinden, welche Kombinationen am effektivsten heilen können, indem sie zusätzliche Mechanismen außer der Blockade des Viruseintritts adressieren, etwa die gezielte Elimination infizierter Zellen durch immunologische Wirkstoffe. Bei Hepatitis B könnte es länger dauern, aber die Aussichten sind gut. Alles hängt davon ab, ob die teuren und umfangreichen Studien durchgeführt werden.
Prof. Urban: Das ist eine gute Frage und ich möchte sie positiv beantworten. Es gibt große Anstrengungen, hauptsächlich in der akademischen Forschung, einen Impfstoff gegen Hepatitis C zu entwickeln. Die Entwicklung ist aber kompliziert, wenn das Virus viele Variationsmöglichkeiten hat und sogenannte "immune escape"-Mechanismen nutzten kann. Diese Schwierigkeit kennen wir auch von HIV. Hepatitis C ist ein RNA-Virus und seine Oberflächenproteine, gegen die die neutralisierenden Antikörper gerichtet sein müssen, können stark variieren. Das macht die Impfstoffentwicklung schwierig.
Man muss eine Stelle auf der Oberfläche des Virus finden, die für das Virus unerlässlich ist, um eine Zelle zu infizieren. Werden dann Antikörper durch die Impfung erzeugt, die diese Stelle erkennen, kann das Virus dort keine Mutation einführen, um den Antikörper zu umgehen. Daran wird intensiv gearbeitet, auch in Deutschland. Ein weiteres Problem ist die nicht unbedingt kommerzielle Attraktivität eines Impfstoffes für die pharmazeutische Industrie im Vergleich zu einem Medikament. Ein Impfstoff wird nur ein- oder zweimal verabreicht, während ein Medikament häufiger verkauft werden kann.
Es gibt jedoch exzellente Medikamente gegen Hepatitis C, die das Virus innerhalb von 8 bis 12 Wochen eliminieren können, mit einer Heilungsrate von über 90%. Trotzdem glaube ich, dass wir die Impfung brauchen, weil sie die beste Prävention ist. Kurative Therapie und Impfung zusammen sind wichtig. Trotz hervorragender Impfstoffe gegen Hepatitis B und intensiver Impfkampagnen ist die Zahl der chronischen Infektionen aufgrund des Bevölkerungswachstums im Ganzen nicht sehr wesentlich zurückgegangen. Wir müssen daher noch effizientere Wege finden, um Impfprogramme vor allem in den armen und bevölkerungsreichen Ländern zu unterstützen und die Menschen aufzuklären.
Ein konkretes Beispiel ist die Impfung gegen Hepatitis B, die in Ländern wie Afrika innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt gegeben werden muss, um chronische Infektionen die durch Mutter-Kind Übertragung bei der Geburt zu verhindern. Es ist wichtig, darüber aufzuklären, um das Kind zu schützen, denn eine chronische Hepatitis-B-Infektion führt Jahrzehnte später zu schweren Leberproblemen und einer Verkürzung der Lebenszeit. Die Situation bei Hepatitis C sehe ich nicht pessimistisch. Es gibt zwar einige Hürden zu nehmen, etwa das richtige Antigen zu identifizieren, aber ich glaube, dass wir in den nächsten fünf bis acht Jahren klinische Studien mit positiven Ergebnissen sehen werden.
Es gibt jedoch exzellente Medikamente gegen Hepatitis C, die das Virus innerhalb von 8 bis 12 Wochen eliminieren können, mit einer Heilungsrate von über 90%.
Prof. Urban: Ich muss sagen, dass ich mich HBV und HDV als Grundlagenforscher genähert habe, zunächst ohne eine medizinisch relevante Fragestellung im Blick zu haben. Jetzt, nach Zulassung einer effizienten Therapie, ergibt sich ein ganz anderes Problem, nämlich dass wir nur sehr unzulänglich wissen, wer infiziert ist. Die Diagnoseraten für HDV und HBV sind sehr niedrig. Die Empfehlung in Europa lautet, dass jeder, der Hepatitis B hat, auch auf Hepatitis D getestet werden sollte. Das ist eine einfache und verständliche Empfehlung.
Jeder, der positiv auf Hepatitis B getestet wird, sollte auch auf eine HDV-Infektion hin untersucht werden. Diese Leitlinie gilt in Europa, aber sie wird nur in etwa 40% der Fälle umgesetzt. In anderen Ländern, wie den USA, gibt es diese Leitlinie so nicht, entsprechend liegt die Testquote nur bei ca. 5%. Das hat zur Folge, dass die allermeisten Patienten gar nicht wissen, dass sie infiziert sind. Außerdem muss berücksichtigt werden, wie viele Personen überhaupt auf Hepatitis B getestet wurden. Auch dieser Anteil ist geringer als im Idealfall wünschenswert.
Die Diagnostik ist teuer und in Ländern wie Afrika oft unerschwinglich. Wir haben in unserem Labor einen sogenannten Point-of-Care-Test entwickelt, einen Lateral-Flow-Assay, wie man ihn vom Corona Schnelltest kennt. Das ist ein Test, bei dem man einen Tropfen Blut auf einen Chip gibt und dann sieht, ob eine Bande erscheint oder nicht. Ein solcher Point-of-Care-Test ist billig und kann von jedermann durchgeführt werden. Wir wollen ihn so weiterentwickeln, dass er Hepatitis D und B möglicherweise in Kombination als Schnelltest erkennt.
Neben der Diagnose ist auch die Therapie wichtig. Forschung ist extrem wichtig, um solche Tests zu entwickeln. Aber um wirksame Maßnahmen in der Bevölkerung umzusetzen, braucht es manchmal ganz andere Ansätze, zum Beispiel Public-Health-Maßnahmen. Es ist oft schwieriger als man denkt, in bestimmten Ländern wie der Mongolei, wo viele Menschen infiziert sind, medizinisch sinnvolle Maßnahmen durchzuführen. Man müsste Programme auflegen, die dafür sorgen, dass zumindest die Diagnostik landesweit zur Verfügung steht.
Dann müssen politische Maßnahmen ergriffen werden, um in den Ländern, in denen Hepatitis D eine echte Bedrohung darstellt, wirksame medizinische Maßnahmen zu implementieren. In Deutschland gibt es nach Hochrechnungen wahrscheinlich nur einige Tausend Infizierte. Aber in Ländern, in denen 60% der Hepatitis-B-Positiven auch Hepatitis-Delta-positiv sind, kann man sich vorstellen, wie viele insgesamt infiziert sind. Es ist wichtig, die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern, um zukünftige Gesundheitsprobleme zu vermeiden.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 16.07.2024.