Prof. Wilhelm: Hemianopsie bedeutet Ausfall einer Gesichtsfeldhälfte. Unsere linke Gehirnhälfte ist für alle Informationen aus der rechten Gesichtsfeldhälfte zuständig und umgekehrt. Deshalb muss die Sehbahn auf dem Weg vom Auge zum Gehirn so sortiert werden, dass diese Zuständigkeitsaufteilung möglich wird. Das geschieht in der Sehnervenkreuzung. Wird diese beschädigt, kann es zu halbseitigen Ausfällen kommen, die aber in jedem Auge eine andere Seite betreffen. Tritt ein Schaden nach der Kreuzung oder in dem für das Sehen zuständigen Gehirnteil auf, fällt in jedem Auge dieselbe Seite, rechts oder links aus. Das ist die weitaus häufigste Art der Hemianopsie, darum soll es hier gehen. Der Fachbegriff dafür ist homonyme Hemianopsie, gleichseitiger Halbseitenausfall.
Prof. Wilhelm: Das Fehlen einer Gesichtsfeldhälfte ist viel schlimmer als der Verlust eines Auges. Das erscheint zunächst erstaunlich. Verliert man ein Auge durch einen Unfall oder eine Krankheit, ist der Einfluss auf das Gesichtsfeld gering, wie man leicht selbst feststellen kann, wenn man ein Auge zukneift: Nur ein Stück auf der Nasenseite fehlt. Das stört zwar, aber man gewöhnt sich daran und kann die meisten alltagsrelevanten Tätigkeiten rasch wieder meistern.
Anders ist es, wenn ein halbes Gesichtsfeld fehlt: Man erkennt Hindernisse auf der fehlenden Seite später oder gar nicht, tut sich schwer beim Suchen und Orientieren, hat Probleme einem Lesetext zu folgen, wenn die rechte Seite ausgefallen ist oder zum Zeilenanfang zurückzuspringen, wenn die linke Seite fehlt. Und man darf damit nicht Autofahren. Der von rechts vor den Wagen laufende Fußgänger oder ein entgegen kommendes Auto würden unter Umständen zu spät erkannt.
Man erkennt Hindernisse auf der fehlenden Seite später oder gar nicht, tut sich schwer beim Suchen und Orientieren, hat Probleme einem Lesetext zu folgen...
Prof. Wilhelm: Am häufigsten sind es Schlaganfälle, die zur homonymen Hemianopsie führen. An zweiter Stelle kommen Unfälle, dann Hirntumoren. Manchmal muss bei einer Epilepsie, die nicht anders zu behandeln geht, sogar ein Hirnteil entfernt werden, in dem eine Sehbahn verläuft.
Prof. Wilhelm: Fast immer hat ein solcher Patient den Eindruck, dass ein Auge ausgefallen sei. Bei einem Schlaganfall, bei dem es ja auf rasches Handeln ankommt, wird er seinen Hausarzt oder Augenarzt auf eine falsche Fährte schicken. Deshalb ist es sehr wichtig, diese Angabe unmittelbar zu hinterfragen: Halten Sie erst das rechte, dann das linke Auge zu. Ist wirklich ein Auge betroffen, oder betrifft das Problem beide Augen? Typisch bei der akuten homonymen Hemianopsie ist auch eine erhebliche Störung des Lesens. Das wäre nicht der Fall, wäre nur ein Auge ausgefallen (wenn beide Augen vorher in Ordnung waren).
Es ist möglich, dass eine homonyme Hemianopsie gar nicht bemerkt wird. Nicht selten ist sie das einzige Anzeichen eines Schlaganfalls, die typischen, jedem bekannten Symptome wie Lähmung oder Sprachstörungen fehlen oft. Dann bemerkt der oder die Betroffene eines Tages, dass etwas aus dem Nichts auftaucht, schlimmstenfalls ein Radfahrer vor dem Auto.
Typisch bei der akuten homonymen Hemianopsie ist auch eine erhebliche Störung des Lesens. Das wäre nicht der Fall, wäre nur ein Auge ausgefallen (wenn beide Augen vorher in Ordnung waren).
Prof. Wilhelm: Dazu muss man das Gesichtsfeld prüfen, man nennt das Perimetrie. In der Augenarztpraxis erfolgt dies mit computergesteuerten Geräten, die auf dem gesamten Gesichtsfeld Lichtpunkte aufblitzen lassen. Der Patient muss quittieren, dass er sie gesehen hat.
Für den Notfall, etwa im Falle einer akuten Sehverschlechterung, kann man so vorgehen: Man betrachtet sich im Spiegel, fixiert seine Nasenwurzel. Dabei müssen sowohl beide Augen als auch beide Ohren gleichzeitig sichtbar sein. Ist das nicht der Fall, besteht der Verdacht eines Halbseitenausfalls.
Prof. Wilhelm: Ein Neglect und eine Hemianopsie treten oft aber nicht immer gemeinsam auf. Symptomatisch wird der Neglect vor allem beim Ausfall der linken Gesichtsfeldhälfte, also bei einer rechtsseitigen Schädigung der Gehirnregion, die für die Aufmerksamkeitszuwendung nach links und rechts verantwortlich ist, wahrgenommen. Die linke Seite kann die Aufmerksamkeitszuwendung nur nach rechts steuern.
Betroffene Patienten verlieren das Interesse für alles, was sich links von ihnen befindet. Sie schauen auch nicht mehr nach links. Sie nehmen nicht einmal wahr, dass ein Gesichtsfeldausfall vorliegt. Das ist eine erheblich behindernde Störung, die sich zum Glück meistens wieder zurückbildet. Man erkennt einen Neglect daran, dass der Patient die Mitte einer Linie, die er halbieren soll, viel zu weit nach rechts lokalisiert. Hätte er ausschließlich eine Hemianopsie, würde er die Halbierung richtig machen oder sogar zu weit nach links setzen (weil er die Erfahrung gemacht hat, dass links noch etwas kommt, was er nicht gut sieht).
Ein Neglect und eine Hemianopsie treten oft aber nicht immer gemeinsam auf.
Prof. Wilhelm: Behandeln muss man vor allem die Ursache, die zur homonymen Hemianopsie geführt hat, also den Schlaganfall oder den Tumor. Was man zur Bewältigung der homonymen Hemianopsie anbieten kann, ist ein Kompensationstraining. Man braucht es nicht zwingend, auch ohne Training wird sich – sofern kein dauerhafter Neglect vorliegt – eine gewisse Anpassung einstellen. Liegt eine Halbseitenlähmung vor, braucht man eine Physiotherapie, denn es besteht die Gefahr, dass die gelähmten Gliedmaßen vernachlässigt werden und gewissermaßen verkümmern. Hierbei erlebt man oft immense Erfolge. Das Sehen trainiert man aber auf jeden Fall ständig, jederzeit, sodass auch ohne Training die Störung nach und nach besser kompensiert wird.
Prof. Wilhelm: Sakkaden sind die schnellen Blickbewegungen, die wir alle brauchen, um uns ein Bild von unserer Umwelt zu machen. Bewegungen im Gesichtsfeld ziehen Sakkaden an. Erfolgt eine Bewegung in einem blinden Halbfeld, fehlt dieser Reiz, dorthin zu schauen, und es entgeht uns unter Umständen etwas Wichtiges.
Das Sakkadentraining lehrt und trainiert diese Suchbewegungen gezielt und verbessert damit die Art, wie der Patient mit seiner Behinderung umgeht. Es ist also ein Kompensationstraining. Damit kann erhebliches geleistet werden. Eine Studie mit Epilepsie-Kindern nach einer Operation zeigte, dass nach wenigen Monaten Objekte in der linken und rechten Gesichtsfeldhälfte wieder gleich schnell gefunden wurden, vorher brauchten sie auf der ausgefallenen Seite deutlich länger.
Prof. Wilhelm: In vielen Fällen bessert sich eine homonyme Hemianopsie ohne jedes Zutun von allein. Oft bleibt aber ein beträchtlicher Ausfall. Nach einen Jahr ist in aller Regel keine Verkleinerung eines solchen Ausfalls mehr zu erwarten. Auch wenn nach einem Sakkadentraining sehr gute Leistungen erzielt werden und der Alltag keine Probleme mehr macht, bei einer Gesichtsfeldprüfung wird der Ausfall immer noch vorhanden sein, er verkleinert sich durch das Training nicht überzeugend messbar. Eine Rückgewinnung des verlorenen Gesichtsfeldes, ganz gleich durch welche Maßnahmen, ist nicht möglich. Angebote, die Fahreignung wieder herzustellen, sind unseriös.
In vielen Fällen bessert sich eine homonyme Hemianopsie ohne jedes Zutun von allein.
Prof. Wilhelm: Nach meiner Erfahrung lernen fast alle Patienten mit einer homonymen Hemianopsie den Alltag zu bewältigen. Auch das Lesen lässt sich trainieren, manchmal helfen einfache Tricks, wie den Text schräg halten oder ein Lineal benutzen. Trainer in Reha-Einrichtungen sind wichtige Anlaufstellen, auch zum Austausch von Erfahrungen und solchen Tricks. Wenig halte ich von Prismenbrillen, die das blinde Halbfeld auf die gesunde Seite spiegeln. Ich glaube, das unvermeidliche Doppeltsehen verwirrt mehr, als es nützt. Ein Fahrverbot rate ich einzuhalten. Man weiß ja nicht, was man sieht und was nicht. Nach einer gewissen Zeit fühlt man sich im Alltag wieder sicher, aber beim Autofahren ist das Risiko zu hoch.
Prof. Wilhelm: Auch bei einer erneuten Suche habe ich keine neuen Publikationen gefunden, die in diesem Zusammenhang hilfreich sein könnten. Immer wieder tauchen Verfahren wie Elektrostimulation auf, die hilfreich sein sollen, sich aber bei näherem Hinsehen nicht als belastbar erweisen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 04.07.2024.