Prof. Gresser: Ich hatte mich durch meine Doktorarbeit über die Behandlung bei Chronischer Polyarthritis viel mit Gelenkerkrankungen befasst und als dann in unserer Klinik der Forschungsbereich „Purinstoffwechsel“ frei wurde, habe ich mich dafür beworben. Der Klinikdirektor übertrug mir daraufhin diese Aufgabe. Und dann habe ich Gas gegeben und mich mit allen Aspekten von Störungen im Purinstoffwechsel bei den Patienten und im Labor befasst. Die häufigste Krankheit im Purinstoffwechsel ist die Gicht.
Die häufigste Krankheit im Purinstoffwechsel ist die Gicht.
Prof. Gresser: Die klassische Definition für „Gicht“ ist das Vorhandensein von Gichtanfällen und/oder Gichttophi (Knoten aus Harnsäuresalz) bei Patienten mit erhöhter Harnsäure. Hohe Harnsäurespiegel richten aber weit mehr Schaden an, als Gelenkentzündungen und Harnsäuresalzablagerungen. Hyperurikämie ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von Nierenschäden, Atherosklerose („Gefäßverkalkung“), Herzrhythmusstörungen (z.B. Vorhofflimmern) und vieles mehr.
Ursache der Hyperurikämie bei Erwachsenen ist fast immer eine familiäre Ausscheidungsschwäche der Nieren für Harnsäure. Diese Ausscheidungsschwäche kann in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen, von leicht bis schwer. Stand jetzt wurden 183 Genveränderungen identifiziert und publiziert, die mit einer solchen Ausscheidungsstörung für Harnsäure verbunden sein können. Ein Teil dieser Genveränderungen kodiert für mehrere Erkrankungen – dies erklärt, weshalb Patienten mit Hyperurikämie häufig auch eine Hypercholesterinämie und/oder einen Diabetes mellitus haben.
Von Hyperurikämie kann jeder betroffen sein, der diese Anlage erbt. Da die weiblichen Geschlechtshormone (Östrogene) die Ausscheidung von Harnsäure fördern, werden Frauen weniger oft und meist später als Männer symptomatisch.
Das erste für den Patienten erkennbare Symptom hoher Harnsäurespiegel (Hyperurikämie) ist meist ein Gichtanfall, es kann aber auch ein Gichtknoten (Tophus) sein.
Gichtanfälle sind akute Gelenkentzündungen. Typisch für Gichtanfälle ist, dass sie anfangs – das kann sich später ändern – an einem Gelenk auftreten und extrem schmerzhaft sind, weit schmerzhafter als Gelenkentzündungen anderer Ursache. Grundsätzlich kann dieser erste Gichtanfall an jedem Gelenk stattfinden, am häufigsten ist es aber am Grundgelenk des großen Zehs („Podagra“).
Ursache der Hyperurikämie bei Erwachsenen ist fast immer eine familiäre Ausscheidungsschwäche der Nieren für Harnsäure.
Prof. Gresser: Unbehandelt können Gichtanfälle von wenigen Tagen bis zu einigen Monaten dauern – das ist bei jedem Patienten anders. Behandelt man den Gichtanfall richtig und vermeidet Behandlungsfehler – wie etwa während des Gichtanfalls ein harnsäuresenkendes Medikament (z.B. Allopurinol, Febuxostat) neu zu beginnen, es wegzulassen oder in der Dosis zu ändern – dann bessert sich der Gichtanfall nach wenigen Stunden und verschwindet innerhalb weniger Tage komplett.
Prof. Gresser: „Chronische Gicht“ bezeichnet ein Krankheitsbild mit ineinander übergehenden Gichtanfällen, die dann auch an mehreren Gelenken gleichzeitig auftreten können, oft zusammen mit sichtbaren Harnsäuresalzablagerungen (Tophi). Die Lebensqualität dieser Patienten ist durch Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, Entzündungen und – auch spontan aufbrechende – Gichttophi dramatisch eingeschränkt. Meistens kommen dann noch eine durch die langjährige Hyperurikämie verursachte Niereninsuffizienz und eine Atherosklerose hinzu, beginnend mit Erektionsstörungen, später als Einengungen von Herzkranzgefäßen oder den Halsschlagadern.
Bei richtiger Behandlung – und das ist mit überschaubaren Mitteln möglich – kommen diese Veränderungen zum Stehen oder bessern sich: die Gichtanfälle hören auf, die Gichttophi werden kleiner und verschwinden, die Nierenfunktion kann sich teilweise bessern und die Elastizität der Gefäße kann auch wieder besser werden.
Prof. Gresser: Wenn der Harnsäurewert hoch ist, dann können auch Kleinigkeiten, wie ein Schweinebraten mit Bier, einen Gichtanfall auslösen. Das ist wie ein Maßkrug, der bis an den Rand gefüllt ist: da reichen wenige Tropfen um den Inhalt zum Überlaufen zu bringen.
Die Hyperurikämie kommt von der Ausscheidungsschwäche der Nieren für Harnsäure, und nur zu wenigen Prozent von der Nahrung. Deshalb kann man sie auch nur ganz gering mit der Ernährung beeinflussen.
Anders ist dies beim Alkohol: Alkohol bewirkt eine zeitweise noch geringere Ausscheidung von Harnsäure an den Nieren, führt darüber rasch zu höheren Harnsäurewerten und kann damit einen Gichtanfall auslösen.
...Hyperurikämie kommt von der Ausscheidungsschwäche der Nieren für Harnsäure, und nur zu wenigen Prozent von der Nahrung.
Prof. Gresser: Mit einer Änderung der Ernährung, einer sog. „purinarmen Ernährung“, kann man den Harnsäurewert fast nicht beeinflussen. Diese Ratschläge stammen noch aus der Zeit, als man nichts von den Ursachen der Hyperurikämie wusste und auch noch keine Medikamente hatte, die den erhöhten Harnsäurespiegel runterbringen können.
Bis in die 1980er Jahre hinein ging man sogar davon aus, dass Gicht eine psychosomatische Erkrankung sein könne – was Unsinn ist, Gicht ist eine organische Stoffwechselerkrankung.
Hohe Alkoholzufuhr kann die Ausscheidungsschwäche der Nieren für Harnsäure auf Zeit – so lange der Alkohol wirkt – verstärken und damit zu einem früheren sichtbaren Beginn von Gichtsymptomen führen.
Prof. Gresser: Man muss zwei unterschiedliche Behandlungen unterscheiden:
1) Die Ursache der Gicht ist die Hyperurikämie. Sie kann man unproblematisch mit einem Medikament behandeln, welches die Harnsäure senkt (z.B. Allopurinol, Febuxostat, Benzbromaron). Das muss man aber regelmäßig und auf Dauer einnehmen, sonst geht die ganze Leidensgeschichte von vorne los.
2) Die spürbarste Folge der Hyperurikämie ist der Gichtanfall, eine extrem schmerzhafte Gelenkentzündung. Harnsäuresenker sind kein Mittel zur Behandlung des Gichtanfalls, sie können sogar – falls im Anfall neu begonnen, in der Dosis verändert oder abgesetzt – den Anfall intensivieren und/oder verlängern. Den Gichtanfall muss man intensiv antientzündlich behandeln. Dies geht mit Hilfe wirksam dosierter Entzündungshemmer (wie z.B. Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen, Etoricoxib, auch Prednisolon) in Kombination mit abschwellenden Maßnahmen, wie z.B. Fuß in kaltem Wasser baden, danach hochlegen – stündlich.
Es gibt kein Standardrezept, man muss die Behandlung immer am Patienten individuell ausrichten.
Prof. Gresser: Als erstes klären, ob man eine Gicht hat. Wenn eine Gicht vorliegt und damit nahezu immer auch eine Hyperurikämie, dann Alkohol weglassen und die Hyperurikämie mit einem Harnsäuresenker behandeln. Man muss seinen Harnsäuresenker regelmäßig einnehmen, so wie eine Frau die „Anti-Baby-Pille“ regelmäßig nimmt. Zielwert bei der Gicht ist ein Harnsäurespiegel um 5 mg/d, und dies auf Dauer.
Man muss seinen Harnsäuresenker regelmäßig einnehmen, so wie eine Frau die „Anti-Baby-Pille“ regelmäßig nimmt.
Prof. Gresser: Gichtknoten, auch Tophus bzw. Tophi genannt, sind Ablagerungen von Harnsäuresalz in Knochen oder an bindegewebigen Strukturen wie Gelenkkapseln und Sehnen oder unter der Haut. Sichtbare Tophi findet man am häufigsten an Händen und Füssen, aber auch im Schleimbeutel der Ellbogengelenke oder über den Kniegelenken. Sie können entstehen, wenn der Harnsäurespiegel für längere Zeit erhöht ist. Eine mögliche Therapie wäre: Tophi mechanisch in Ruhe lassen (also nicht einschneiden, wegschneiden oder daran drücken) und mit einem Harnsäuresenker die Harnsäure senken. Die Tophi hören dann auf, größer zu werden, beginnen nach einigen Wochen kleiner zu werden und verschwinden irgendwann komplett.
Prof. Gresser: Richtig behandelt können Gichtpatienten ganz normal leben. Sie müssen sich weder beim Essen einschränken, noch komplett auf Alkohol verzichten. Wobei eine Verringerung der Zufuhr alkoholischer Getränke dazu beiträgt, dass die Gicht nicht mehr wiederkommt.
Prof. Gresser: Die aktuelle Forschung befasst sich vor allem mit den Folgen der Hyperurikämie wie z.B. Herzrhythmusstörungen. Je mehr man über die Folgen weiß, desto besser kann man den Patienten erklären, was sie sich ersparen, wenn sie die Gicht behandeln. Es wird auch immer wieder nach besseren Entzündungshemmern oder Harnsäuresenkern gesucht, aber wir haben hier jetzt schon ein so gutes Angebot an Medikamenten, dass es für jeden Patienten etwas Passendes gibt. Ich habe noch nie einen Patienten gehabt, für den sich kein passendes Medikament fand.
Prof. Gresser: Man wird durch die bessere Kenntnis der Folgen von Hyperurikämie mehr Patienten früher behandeln und einen hohen Harnsäurewert nicht mit einem Hinweis auf „bessere“ Ernährung und weniger Alkohol abtun. Das wird bei der Hyperurikämie ähnlich kommen, wie bei den Fettstoffwechselstörungen: man wartet bei Hypercholesterinämie nicht mehr, bis der Herzinfarkt passiert ist, sondern man behandelt vorher, um den Herzinfarkt zu vermeiden.
Vielen Dank für das Interview!
aktualisiert am 02.10.2023