Prof. Rohde: Tatsächlich gibt es traumatisch erlebte Entbindungen gar nicht so selten, wie man vielleicht denkt. Seit den 1980er Jahren wurden eine Reihe von seriösen wissenschaftlichen Studien durchgeführt, die gezeigt haben, dass nach etwa 3% aller Entbindungen die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt sind und dass bei vielen weiteren Frauen einzelne Symptome vorhanden sind.
Die posttraumatische Belastungsstörung, oft mit der Abkürzung PTBS bezeichnet, ist eine allgemeine psychiatrische Diagnose. Eine PTBS kann auftreten nach besonderen Lebensereignissen, die von den Betroffenen als „traumatisch“ erlebt werden. Mittlerweile hat dieser Begriff „traumatisch“ eine weite Verbreitung gefunden und wird vielleicht sogar etwas inflationär verwendet – bis hin zu umgangssprachlichen Formulierungen wie „Das war total traumatisch für mich“. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange man nicht das persönliche Gefühl mit einer psychiatrischen Diagnose verwechselt.
Prof. Rohde: In früheren Definitionen einer posttraumatischen Belastungsstörung wurde nur ein „Ereignis von katastrophalem Ausmaß“ bzw. „eine lebensbedrohliche Erfahrung“ gelten gelassen als Verursachung, so etwa eine Entführung, Vergewaltigung oder schwere Katastrophen. Eine Geburt dagegen wurde nicht als etwas Katastrophales oder Lebensbedrohliches angesehen, abgesehen von manchen seltenen Notfällen.
Die Erforschung der traumatisch erlebten Entbindungen hat allerdings gezeigt, dass sich die volle Symptomatik einer PTBS auch dann entwickeln kann, wenn es „nach außen“ eine eher unauffällige Geburt war. Vielleicht mussten ein paar rasche Entscheidungen getroffen werden, oder die Gebärende wirkte nach vielen Stunden der Entbindung erschöpft und abwesend; aber mehr konnten die Geburtshelfer nicht erkennen.
Mittlerweile weiß man, dass auch solche Geburten traumatisch erlebt werden können und dass es vor allem von Bedeutung ist, wie die betroffene Frau die Entbindung erlebt hat. Typische Äußerungen von Betroffenen sind etwa „Ich habe mich total ausgeliefert gefühlt“, „Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Fleisch“, „Niemand hat mit mir gesprochen oder mir etwas erklärt“.
Die Erforschung der traumatisch erlebten Entbindungen hat allerdings gezeigt, dass sich die volle Symptomatik einer PTBS auch dann entwickeln kann, wenn es „nach außen“ eine eher unauffällige Geburt war.
Prof. Rohde: Nein, erfreulicherweise nicht. Es scheint auch mit bestimmten persönlichen Faktoren zusammenzuhängen, wie empfänglich man für eine PTBS ist; ob man solche Erfahrungen einfach nur als „schrecklich“ bewertet und ob mit der Zeit die Erinnerung daran verblasst, oder ob sich die Symptomatik einer PTBS entwickelt. Allerdings gelten auch Personalnot und Stress, wenn dadurch die Betreuung als unzureichend erlebt wird, als Risikofaktoren für ein traumatisches Erleben und eine eventuell folgende PTBS.
Prof. Rohde: Der wichtigste Risikofaktor ist eine Vortraumatisierung, d.h. also wenn schon in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen gemacht wurden. Das kann beispielsweise durch einen langjährigen Missbrauch der Fall sein, aber auch durch einmalige Erfahrungen wie eine Vergewaltigung, eine Naturkatastrophe o.ä.
Ein gutes Beispiel für letzteres ist die Hochwasserkatastrophe an der Ahr vor einigen Jahren. Viele Menschen wurden dadurch schwer traumatisiert. Auch bestimmte Persönlichkeiten, vor allem mit einem hohen Kontrollbedürfnis, sind eher gefährdet.
Prof. Rohde: Da gibt es ganz typische Symptome, die nach einer traumatischen Erfahrung auftreten: So etwa intensive Erinnerungen, in denen die Ereignisse immer wieder „wie ein Film vor dem inneren Auge ablaufen“. Diese Nachhallerinnerungen, auch als Flashbacks bezeichnet, lassen mit der Zeit nicht nach, sondern sie behalten ihre Intensität – begleitet von den gleichen intensiven Gefühlen wie in der ursprünglichen Situation. Das ist natürlich ausgesprochen belastend, denn das Verblassen von Erinnerungen – auch von schrecklichen Erfahrungen – gehört ja zu den Bewältigungsstrategien, die unser Gehirn anwendet, um mit schlimmen Erlebnissen umgehen zu können.
Typisch für solche Erinnerungen ist auch, dass sie durch bestimmte äußere Reize ausgelöst werden können, wir sprechen dann von „getriggert“. Das können bestimmte Geräusche sein, Gerüche oder auch einfach nur das Betreten einer Klinik oder der Kontakt mit anderen Müttern im Rahmen einer Krabbelgruppe.
Entsprechende Situationen werden dann intuitiv vermieden, was letzten Endes zum sozialen Rückzug führt. Weitere Symptome sind u.a. Reizbarkeit, Schlafstörungen, Albträume, Ängste, ein fehlendes Gefühl von Sicherheit und nicht zuletzt depressive Symptome. Nicht selten erfolgt zunächst die Untersuchung wegen der Verdachtsdiagnose „Depression“ und bei genauerer Betrachtung stellt sich dann heraus, dass die Depression nur ein Teil der PTSD ist.
Weitere Symptome sind u.a. Reizbarkeit, Schlafstörungen, Albträume, Ängste, ein fehlendes Gefühl von Sicherheit und nicht zuletzt depressive Symptome.
Prof. Rohde: Das kann leider geschehen, vor allem wenn depressive Symptome sehr ausgeprägt sind. Ein typisches depressives Symptom in das „Gefühl der Gefühllosigkeit“. Betroffene erleben die Gefühle ihren Mitmenschen gegenüber nicht mehr so intensiv wie früher oder gar nicht. Das kann auch das Neugeborene betreffen und führt dann bei den Müttern zu ausgeprägten Schuldgefühlen.
Prof. Rohde: Leider vermeiden durch eine Geburt traumatisierte Frauen nicht selten weitere Schwangerschaften oder leiden die ganze Schwangerschaft unter Ängsten, dass es wieder so kommen könnte. Eine psychotherapeutische Unterstützung und das offene Ansprechen der Vorerfahrungen bei der Frauenärztin und bei der Hebamme helfen.
Prof. Rohde: Ganz wichtig ist in solchen Fällen die Nachbesprechung mit der Hebamme bzw. der bei der Geburt anwesenden medizinischen Fachkräfte, vor allem wenn Dinge geschehen sind, die man sich nicht erklären konnte oder man vielleicht in der Situation die Erklärung nicht verstanden hat. Auch der Austausch mit anderen Frauen ist sinnvoll, selbst wenn es vielleicht etwas traurig macht, dass man selbst nicht die „ideale“ Geburt hatte, wie man sie sich gewünscht hätte. Sprechen hilft! Eine gute Adresse für den Austausch mit anderen Müttern bei allen psychischen Problemen nach der Geburt ist übrigens die Selbsthilfevereinigung „Schatten und Licht e.V.“.
Prof. Rohde: Auch dann kann man ein Nachgespräch anstreben, um Dinge zu klären und auch das eigene Erleben zu schildern. Oftmals wissen Hebammen und Ärzte gar nicht, dass die betroffenen Frauen die Geburt so erlebt haben. Es gibt aber auch eine Reihe von Strategien, die man selbst anwenden kann.
In unserem Ratgeber „Rund um die Geburt. Depressionen, Ängste und mehr“ haben meine Mitautorin Almut Dorn, eine auf dem Gebiet sehr versierte Verhaltenstherapeutin, und ich eine Reihe von Strategien beschrieben, die man einsetzen kann, um mit traumatischen Erinnerungen, aber auch mit Ängsten und Depressionen umzugehen.
Wir nennen sie bewusst „Selbsthilfestrategien“, weil wir hervorheben wollen, dass man selbst ganz viel tun kann, um psychische Probleme zu bewältigen. Wenn sich allerdings nach einigen Wochen herausstellt, dass sich die Erinnerungen bzw. die gesamte Symptomatik überhaupt nicht verändern, dann sollte man eine psychotherapeutische Behandlung anstreben. Diese sollte am besten bei einer speziell ausgebildeten Psychotherapeutin erfolgen, denn es gibt spezielle traumatherapeutische Verfahren, die erfolgreich angewendet werden können.
Bestehen begleitende Depressionen oder ausgeprägte Schlafstörungen, dann kann auch eine antidepressive Medikation sinnvoll sein. Es gibt auch Antidepressiva, die die Symptomatik der PTBS als solche lindern.
Wenn sich allerdings nach einigen Wochen herausstellt, dass sich die Erinnerungen bzw. die gesamte Symptomatik überhaupt nicht verändern, dann sollte man eine psychotherapeutische Behandlung anstreben.
Prof. Rohde: Ein hohes Kontrollbedürfnis führt nicht selten dazu, dass man möglichst jede Situation im Voraus durchdenken und planen möchte, was natürlich bei einer Geburt nicht immer möglich ist. Eine gute Vorbeugungsmaßnahme ist es deshalb schon, sich zwar gut vorzubereiten und zu informieren, sich aber auch darauf einzustellen, dass nicht alles so laufen wird, wie man es gerne hätte.
Gibt es traumatische Erfahrungen in der Vorgeschichte oder sogar schon eine posttraumatische Belastungsstörung, dann sollte das unbedingt bei der Geburtsvorbereitung bzw. bei der Geburtsanmeldung in der Klinik angesprochen werden, damit es berücksichtigt werden kann. Zum Beispiel dadurch, dass nur Frauen im Kreißsaal sind oder dass für möglichst wenig Personalwechsel gesorgt wird. Hebammen und andere Geburtshelfende sind in solchen Fällen in der Regel sehr motiviert, möglichst optimale Bedingungen für ihre Patientin zu schaffen.
Prof. Rohde: Leider haben Sie Recht, und ich finde das eine sehr unglückliche Entwicklung bzw. Wortwahl. Wenn von „Gewalt im Kreißsaal“ und von „Tätern und Täterinnen“ gesprochen wird, dann suggeriert das doch vorsätzliche strafbare Übergriffe, die eigentlich vor Gericht gehören. Dabei meinen selbst diejenigen, die diese Begriffe verwenden, eigentlich etwas anderes – nämlich Handlungen, die durch Überlastungen und Stress des Personals entstehen bzw. der Patientin nicht erklärt werden, oder auch Situationen, in denen die Geburtshelfenden einfach nicht erkennen, was ihre Patientinnen eigentlich brauchen.
Nicht zuletzt durch Aktionen wie den „Roses day“, eine Bewegung, die aus den USA zu uns gekommen ist, wird das Ganze verschärft. Dabei legen an einem bestimmten Tag im November Frauen, die aus ihrer Sicht Gewalt im Kreißsaal erlebt haben, eine Rose vor dem Kreißsaal ab, um ein Zeichen zu setzen. Aus meiner Sicht ist die Absicht dahinter durchaus gut, nämlich eine gesellschaftliche Diskussion über die Bedingungen in Kreißsälen in Gang zu setzen. Solche Aktionen und vor allen Dingen die Verwendung der Begriffe „Gewalt“ und „Täter“ diskriminieren aber ganz viele engagierte Hebammen sowie Ärzte, die selbst unter den Arbeitsbedingungen in unserem Medizinsystem leiden und trotzdem versuchen, ihr Bestes tun.
Danke für das Interview!
Veröffentlichung von Prof. Dr. Anke Rohde und Dr. Almut Dorn:
„Rund um die Geburt“
Depressionen, Ängste und mehr
Hilfe und Selbsthilfe bei peripartalen psychischen Problemen
Letzte Aktualisierung am 11.07.2024.