Prof. Kemmler: Elektro-Muskel(Myo)stimulation (EMS) ist ein breit gefächertes Feld. Grundsätzlich kann EMS als die Anwendung externer elektrischer Ströme zur Muskelstimulation definiert werden. Es sind jedoch verschiedene Anwendungsgebiete zu unterscheiden. Heute soll es hauptsächlich um die Ganzkörper-Elektro-Muskelstimulation (GK-EMS) gehen, die vor allem im Fitness- und präventiven Gesundheitsmarkt anzutreffen ist. Dabei werden alle großen Muskelgruppen gleichzeitig stimuliert, wobei die Intensität der Belastung bzw. der Reize individuell angepasst werden kann.
Bei diesem Training werden dem Muskel von außen elektrische Impulse zugeführt, die ihn stimulieren. Die Muskelkontraktion erfolgt in Abhängigkeit von der Intensität der Impulse, die stark von der Ausrichtung des Trainings abhängt. Beim GK-EMS sind die Impulse stark genug, um eine Muskelkontraktion auszulösen. Dabei wird der Muskel, ähnlich wie bei Kraftübungen oder anderen körperlichen Aktivitäten, ausreichend stark gereizt, um eine Kräftigung und eine Zunahme der Muskelmasse zu bewirken.
Bei diesem Training werden dem Muskel von außen elektrische Impulse zugeführt, die ihn stimulieren.
Prof. Kemmler: GK-EMS ist ein sehr effektives Training, welches wir derzeit im Bereich des kraftorientierten Ganzkörpertrainings einsetzen. Es handelt sich um relativ hohe Stromintensitäten und eher kurze Trainingsumfänge. In der Regel trainieren wir ein- bis eineinhalb mal pro Woche etwa 20 Minuten, was sehr kurz ist, aber für die bislang untersuchten Fragestellungen ausreichend lange ist. Im Vergleich dazu gibt es das weitaus weniger verbreitete ausdauerorientierte GK-EMS, bei dem deutlich häufiger und länger, aber mit niedrigerer Intensität trainiert wird. Im Moment konzentriert sich die Wissenschaft auf die kraftorientierte WB-EMS-Methodenvariante, weil es deutlich zeiteffizienter und applikabler ist. Dieses kraftorientierte Training zeigt positive Effekte auf Kraft, Funktionalität, Muskelmasse und zusätzlich auf den Körperfettanteil. Diese Aspekte sind die Hauptziele, die wir behandeln, abgesehen von den gesundheitsbezogenen Parametern, die mit diesen funktionellen und morphometrischen Faktoren verbunden sind.
Prof. Kemmler: Viele gesundheitliche Probleme können durch kraftorientierte Trainingsmethoden verbessert werden. Daher ist die GK-EMS Methodenvariante in der heutigen medizinischen Praxis sehr sinnvoll. Sie eignet sich auch für Menschen, die mit anderen Trainingsarten Schwierigkeiten haben oder einfach keinen Spaß daran finden. Stattdessen können sie von einer zeiteffizienten und gelenkschonenden Trainingsmethode profitieren. Besonders vorteilhaft ist diese Trainingsform für Menschen mit chronisch unspezifischen Rückenschmerzen sowie für Menschen mit einer Muskelschwäche. Darüber hinaus gibt es Krankheiten wie z.B. Krebs, bei denen das Training nicht direkt auf die Krebszellen abzielt, sondern grundsätzlich eine hohe Alltagsfunktionalität ermöglichen soll. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht nur die Grunderkrankung selbst, sondern auch die körperliche Fitness berücksichtigt werden muss, um die Krankheit erfolgreich zu bewältigen.
Viele gesundheitliche Probleme können durch kraftorientierte Trainingsmethoden verbessert werden.
Prof. Kemmler: Der größte Nachteil der Ganzkörper-EMS ist die intensive Stimulation aller großen Muskelgruppen gleichzeitig. Im Gegensatz zur gezielten Aktivierung, bei der Sie die Belastung auf 20 kg, 30 kg oder 40 kg begrenzen können, sind Sie bei der Ganzkörper-EMS einer intensiven Stromstärke ausgesetzt. Das bedeutet, dass Sie im Vergleich zum herkömmlichen Training supramaximal trainieren, was dazu führen kann, dass Ihre Muskeln so stark angespannt sind, dass Sie sich nicht mehr bewegen können. Dies wird natürlich nicht empfohlen.
Durch die große Anzahl der beanspruchten Muskelgruppen besteht bei zu hoher Stimulationsintensität und -häufigkeit auch die Gefahr einer sogenannten Rhabdomyolyse, d.h., dass Muskelfasern lokal zerfallen und Enzyme freigesetzt werden, die zu Nierenschäden führen können. Dies kann auch kardiometabolische Folgen haben. Dieser Effekt sollte nicht unterschätzt und ernst genommen werden. Der richtige Umgang mit Ganzkörper-EMS ist daher von entscheidender Bedeutung, da es sich um ein Risiko handelt, das bei vernünftiger Anwendung vermieden werden sollte. In der Vergangenheit wurde die Ganzkörper-EMS aufgrund dieser Probleme stark kritisiert.
Prof. Kemmler: Selbstverständlich gelten die gleichen Kontraindikationen wie beim normalen Training. Wer z.B. Fieber hat, sollte auf jeden Fall auf dieses Training verzichten. Ich möchte hier noch etwas weiter ausholen, um auf die negative Kritik der Vergangenheit einzugehen. Wir haben aus gutem Grund sehr vorsichtige Maßstäbe gesetzt. Es gibt einige klare Kontraindikationen, die beachtet werden sollten, denn es ist vorstellbar, dass die Anwendung von externem Strom in einigen Fällen unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen kann. Dies gilt beispielsweise bei Herzrhythmusstörungen, aber auch bei unbehandeltem Bluthochdruck. Es ist ratsam, diesen zu behandeln, bevor ein solches Training durchgeführt wird.
Zurzeit sind auch neuronale Störungen im aktuellen Kontraindikationskatalog enthalten. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Anwendung von Ganzkörper-EMS in einigen Fällen durchaus sinnvoll sein kann, da Menschen mit solchen Störungen oft nur eingeschränkt in der Lage sind, ein konventionelles Training durchzuführen. Schwangerschaft ist ebenfalls eine Kontraindikation, obwohl es die Möglichkeit geben würde, das Training anzupassen, indem man z.B. die Elektroden am Bauch und am unteren Rücken nicht zuschaltet und nur die Extremitäten trainiert. Wir haben uns bewusst für einen vorsichtigen Ansatz bei der Auswahl der Kontraindikationen entschieden, um sicherzustellen, dass die Sicherheit unserer Teilnehmer immer an erster Stelle steht.
Wir haben aus gutem Grund sehr vorsichtige Maßstäbe gesetzt.
Prof. Kemmler: Einige Fitnessstudios bieten ein Ganzkörper-EMS-Training an. Diese Studios sind oft spezialisierte Mikrostudios, die ausschließlich Ganzkörper-EMS anbieten. Wir legen großen Wert darauf, dass Ganzkörper-EMS immer unter fachkundiger Anleitung durchgeführt wird. Die Intensitätssteuerung ist nicht selbsterklärend, daher raten wir davon ab, sich selbst daran zu versuchen. Es ist wichtig, die Belastungsintensität für jede Muskelgruppe sorgfältig anzupassen. In Deutschland gibt es mittlerweile über 2000 Möglichkeiten, ein Ganzkörper-EMS-Training durchzuführen, was meiner Meinung nach eine erstaunlich hohe Zahl ist.
Leider zeigt der Trend, dass immer mehr Menschen versuchen, dies im privaten Bereich durchzuführen. Das ist aus Sicht der Forschung bedenklich, weil damit das Risiko von Nebenwirkungen steigt. Wir haben bereits strenge gesetzliche Regelungen für die Ganzkörper-EMS und es ist möglich, dass in Zukunft noch strengere Maßnahmen ergriffen werden. Zum Beispiel könnte EMS möglicherweise dann nur noch von medizinischem Fachpersonal durchgeführt werden. Das könnte bedeuten, dass die Möglichkeit, Ganzkörper-EMS zu trainieren, stark eingeschränkt wird. Aus diesem Grund sind wir in unseren Anforderungen an die Ganzkörper-EMS sehr restriktiv.
Prof. Kemmler: Für das EMS-Training vereinbaren Sie einen Termin. Das Schöne am EMS-Training ist, dass Sie immer einen festen Termin haben. Wenn Sie nicht kommen, bekommen Sie sofort einen neuen Termin. Das hat einen gewissen Aufforderungscharakter, sodass man es wirklich regelmäßig macht. Es ist also nicht wie im Fitnessstudio, wo man einen Vertrag abschließt und dann nie hingeht. EMS ist natürlich nicht ganz billig, muss man sagen. Es ist das günstigste Personal-Training, aber man muss mit etwa 25-30 Euro pro Sitzung rechnen.
Wenn Sie zu Ihrem Termin kommen, machen Sie zunächst ein Probetraining. Zuerst werden Sie nach Ihren Kontraindikationen gefragt, was in den Studios sehr sorgfältig gemacht wird. Danach erhalten Sie die passende Kleidung, die eng am Körper anliegen muss, damit die Elektroden richtig platziert werden können. Die Elektroden sind in die Weste und die Arm- und Beinmanschetten integriert. Sie werden normalerweise mit warmem Wasser angefeuchtet, um die Übertragung zu verbessern.
Dann beginnt das Training und der Trainer fragt Sie intensiv nach Ihrem Intensitätsempfinden. Er kann mit den Beinen, den Armen oder dem unteren Rücken beginnen - die Reihenfolge spielt keine Rolle. Sie geben Feedback zur Intensität, ob es zu viel oder zu wenig ist. Dies ist die Feinabstimmung des Ganzkörper-EMS-Trainings, um die richtige Stromintensität zu finden. Beim Probetraining dauert das vielleicht 12 Minuten, aber mittelfristig werden Sie eine 20-minütige EMS-Anwendung haben. Während des gesamten Trainings haben Sie immer einen Trainer an Ihrer Seite, der Sie anleitet. Diese 20 Minuten können anstrengend sein, aber der Trainer passt die Intensität an Ihre Bedürfnisse an. Sie werden regelmäßig gefragt, ob Sie sich wohl fühlen oder ob es zu viel wird. Es findet also eine enge Interaktion mit dem Trainer statt.
Nach dem EMS-Training werden Sie wahrscheinlich denken, dass es gar nicht so schlimm war. Aber am nächsten Tag verspreche ich Ihnen einen leichten Muskelkater, vor allem im Po. Das liegt daran, dass der Po eine relativ große Muskelgruppe ist, aber wenig trainiert wird. Muskelkater nach GK-EMS in diesem Bereich ist zu erwarten. Insgesamt kann man sagen, dass die ersten Trainingseinheiten vorsichtiger angegangen werden sollten, da sich die Muskulatur erst an die ungewohnte Anwendung von elektrischem Strom gewöhnen muss. Seien Sie also bei den ersten Trainingseinheiten etwas vorsichtiger, einen leichten Muskelkater werden sie trotzdem bekommen, man gewöhnt sich aber daran.
Nach dem EMS-Training werden Sie wahrscheinlich denken, dass es gar nicht so schlimm war. Aber am nächsten Tag verspreche ich Ihnen einen leichten Muskelkater...
Prof. Kemmler: Die meisten kommerziellen Fitnessstudios bieten ein Training pro Woche an, was meiner Meinung nach auch ausreicht - vor allem im ersten Jahr, um wirklich einen Effekt auf die Muskelgröße zu erzielen. Wenn man Rückenschmerzen hat, reicht es nachweislich, einmal pro Woche zu trainieren, um chronische unspezifische Rückenschmerzen zu reduzieren. Unser Problem ist derzeit, dass wir kaum Studien haben, die länger als ein Jahr dauern. Deshalb können wir nicht definitiv sagen, ob die Effekte mit der Zeit abnehmen. Es wäre also möglich, dass nach längerem Trainingszeitraum - trotz angepasster Stimulationsintensität - die Trainingshäufigkeit etwas angehoben werden muss.
Der aktuelle Stand der Wissenschaft sagt, dass die meisten Trainingsziele mit einer Trainingshäufigkeit zwischen 1-2 mal die Woche zu realisieren sind. Wenn man grundsätzlich kraftorientierte Trainingsziele verfolgt, aber sagt, Ausdauer ist auch wichtig für mich, dann kann man gerne zweimal pro Woche, also einmal kraftorientiert und einmal ausdauerorientiert trainieren. Wenn Sie nicht der Outdoor-Typ sind, können Sie auch zweimal pro Woche auf dem Crosstrainer mit zusätzlicher EMS Applikation trainieren.
Prof. Kemmler: Die Empfehlungen variieren je nach Trainingsziel. Angenommen, man findet Krafttraining nicht besonders attraktiv, aber man hat mit Rückenschmerzen zu kämpfen. Dann würde ich empfehlen, mindestens einmal pro Woche ins EMS-Studio zu gehen und dort Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur zu machen. Das hilft auch, das Risiko von Rückenschmerzen, die etwa beim Laufen oder Radfahren häufig auftreten, zu verringern. Wenn man jedoch allgemein fit bleiben möchte, bietet EMS in seiner heutigen Form bereits eine solide Basis für die Kraftentwicklung.
Wenn man auch Wert auf Beweglichkeit legt und eine gewisse Koordination für andere Aktivitäten wie Tanzen benötigt, sollte man dies zusätzlich in Betracht ziehen. Man kann sein Training mit funktionellem Krafttraining erweitern oder das EMS-Training unter funktionalen Aspekten durchführen, um die eigene Fitness ganzheitlicher zu gestalten. Es ist also je nach Trainingsziel sogar sehr förderlich, neben dem GK-EMS noch weiteren Sport zu treiben.
Prof. Kemmler: Wenn wir uns auf die gezielte Steigerung der Muskelkraft oder gar auf Hypertrophieeffekte konzentrieren, erweist sich die Anwendung von günstigen heimbasierten EMS-Geräten in der Regel als relativ ineffektiv. Ein Training mit GK-EMS Geräten zuhause empfehlen wir aus den oben genannten Gründen ebenfalls nicht. Meiner Meinung nach ist das Geld, das für EMS-Geräte ausgegeben wird, besser in eine Studiomitgliedschaft investiert.
Prof. Kemmler: Ich war selbst überrascht, wie viele Studien es tatsächlich im Bereich der Ganzkörper-EMS gibt. Wir haben vor kurzem eine systematische Überprüfung durchgeführt und am Ende über 300 Studien gefunden, darunter 100 Längsschnittstudien. Einige davon waren methodisch hochwertige kontrollierte, randomisierte Studien. Trotzdem ist es ein Bereich, in dem es noch viel Forschungspotenzial gibt. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Ganzkörper-EMS in den USA noch überwiegend unbekannt ist. In den nächsten Jahren werden wir sicherlich deutlich mehr wissenschaftliche Studien aus den USA sehen.
Der Schwerpunkt der Forschung in diesem Bereich ist derzeit schwer einzuschätzen. Einige deutsche Kollegen forschen im Bereich Athletik und Leistungssport, insbesondere im Fußball. Hier ist die Philosophie etwas anders: Auf eine hohe willkürlich Muskelaktivierung wird nochmals eine Stimulation via GK-EMS gelegt, im Gegensatz dazu macht im nicht-athletischen GK-EMS „der Strom die Arbeit“. In unserem Bereich liegt der Fokus eher auf älteren Menschen, die keinen Zugang zu klassischem Training haben. EMS bietet hier eine zeiteffiziente und gelenkschonende Alternative.
Im Gesundheitsbereich arbeiten wir an verschiedenen Fragestellungen, vor allem im Bereich Frailty (Gebrechlichkeit), Sarkopenie (Muskelschwund) und teilweise auch Osteoporose. Im Bereich Osteoporose müssen wir allerdings feststellen, dass wir noch nicht die gewünschten Effekte erzielt haben, da die Stoßbelastung fehlt. Im Bereich Fitness und Gesundheit gibt es jedoch viele gute Studien, zunehmend auch von internationalen Forschungsgruppen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass viele Menschen das Thema Ganzkörper-EMS oft mit trivialen EMS-Geräten wie einem „Bauchwegtrainer“ in Verbindung bringen. Das bessert sich aber aufgrund der hohen Dichte von GK-EMS Anbietern in Deutschland zusehens – die meisten Menschen wissen inzwischen durchaus dass es sich bei GK-EMS um eine zeiteffektive und gelenkschonende Trainingstechnologie handelt.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 10.01.2024.