Bei der Fibromyalgie handelt es sich um ein Syndrom, das durch chronische Schmerzen in verschiedenen Körperregionen gekennzeichnet ist. Hauptsymptome sind Schmerzen, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit und funktionelle Störungen wie Verdauungsprobleme. Die Ursachen sind nicht bekannt, es gibt jedoch eine Reihe von Theorien, die von psychischen Auslösern bis hin zu neurologischen und hormonellen Faktoren reichen. Frauen sind häufiger betroffen.
Prof. Sommer: Unter Fibromyalgie versteht man ein Krankheitsbild, bei dem eine Gruppe von Beschwerden gemeinsam auftreten. Es handelt sich im medizinischen Sinne um ein Syndrom, also eine Kombination von einzelnen Beschwerden bzw. Symptomen. Kernsymptome sind Schmerzen in verschiedenen Körperregionen. Laut Definition müssen die Schmerzen mindestens rechts und links, oberhalb und unterhalb der Gürtellinie sowie im Bereich des Rumpfes auftreten. Neben den Schmerzen gibt es weitere Symptome, die häufig mit der Fibromyalgie einhergehen. Dazu gehören Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, eventuell Depressionen und funktionelle Störungen wie Probleme beim Wasserlassen oder bei der Verdauung. Dieses Beschwerdebild wird als Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom bezeichnet.
Prof. Sommer: Wenn man wüsste, woher die Schmerzen und die anderen Beschwerden bei Fibromyalgie kommen, wäre man schon einen großen Schritt weiter. Es gibt unglaublich viel Forschung und viele Meinungen dazu. Dennoch weiß man nicht, wie all das zustande kommt. Jeder Facharzt versucht das Problem von seinem eigenen Fachgebiet aus zu beobachten.
Psychiater neigen dazu zu sagen, dass eine zugrunde liegende Depression all diese Beschwerden verursacht. Rheumatologen sagen, dass es sich um eine Art Rheuma handelt, aber nicht um Gelenkrheuma, sondern um Weichteilrheuma, welches Muskeln, Faszien und Sehnen betrifft. Neurologen neigen zu der Einschätzung, dass der Schmerz vom Nervensystem ausgeht. Schmerztherapeuten sind oft der Meinung, dass der Fibromyalgie eine gestörte zentrale Schmerzverarbeitung zugrunde liegt. Das heißt, dass das Gehirn die Schmerzverarbeitung nicht richtig reguliert, sodass z.B. Druck auf einen Muskel, der normalerweise nicht wehtun würde, als schmerzhaft empfunden wird.
Andere vermuten, dass die Probleme nicht nur das Gehirn liegen, sondern dass auch die Funktion der peripheren Nervenfasern, welche die Schmerzsignale in Haut, Gelenken und Muskelfaszien aufnehmen und weiterleiten, gestört ist. Unsere Forschung in Würzburg hat gezeigt, dass diese kleinen Nervenfasern in ihrer Struktur und Funktion verändert sind, was zur Fibromyalgie beitragen kann. Es gibt auch Hinweise auf hormonelle und metabolische Veränderungen, die eine Rolle spielen könnten.
Jeder Facharzt versucht das Problem von seinem eigenen Fachgebiet aus zu beobachten.
Prof. Sommer: Bei der Ursache denkt man an das, was es wirklich verursacht, während man bei den Risikofaktoren schaut, was in der Vorgeschichte der Betroffenen vorhanden war, was vielleicht über Umwege zur Erkrankung geführt hat. Sehr häufig findet man bei den Betroffenen traumatische Erlebnisse in der Kindheit, sowohl psychischer als auch physischer Art. Im Laufe des Lebens treten oft starke Belastungen auf, wie Trennungen und Todesfälle. Es gibt Menschen, bei denen sich solche Erlebnisse häufen und deren Organismus möglicherweise so darauf reagiert, dass Krankheitssymptome auftreten.
Man weiß noch nicht genau, wie das zusammenhängt, aber man weiß, dass sich solche Erlebnisse bei Menschen mit Fibromyalgie häufen. Auch Lebensstilfaktoren spielen eine Rolle: Übergewicht und ein ungesunder Lebensstil mit wenig Bewegung, Rauchen und ungesunder Ernährung sind Risikofaktoren.
Prof. Sommer: Oft wird die Diagnose Fibromyalgie erst spät gestellt, weil die Symptome vielfältig sind und keine klare Ursache erkennbar ist. Man stelle sich vor, eine Patientin (denn es sind überwiegend Frauen, die an einer Fibromyalgie leiden) Mitte 30 kommt zum Hausarzt und klagt über Muskelschmerzen in Schultern und Oberschenkeln, die ihren Alltag beeinträchtigen. Zuerst denkt man an eine rheumatische Erkrankung und untersucht alle möglichen Blutwerte, macht Röntgenaufnahmen und untersucht die Muskeln. Wird nichts gefunden, werden verschiedene Fachärzte aufgesucht, um andere Ursachen auszuschließen, vielleicht auch ein Psychiater, um eine Depression auszuschließen.
Schließlich wird die Patientin vielleicht an eine Schmerztherapeutin überwiesen, die das Fibromyalgie-Syndrom diagnostiziert. Auf diesem Weg müssen viele andere Erkrankungen ausgeschlossen werden, wie zum Beispiel eine Schilddrüsenfunktionsstörung oder ein beginnender Diabetes, die ähnliche Symptome verursachen können. Es ist wichtig, diese Krankheiten nicht zu übersehen, bevor die Diagnose Fibromyalgie gestellt werden kann.
Prof. Sommer: Man weiß es nicht genau, aber eine naheliegende Vermutung ist, dass weibliche Hormone eine Rolle spielen. Es könnte auch etwas mit dem Immunsystem zu tun haben, denn Frauen leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen. Das sind Krankheiten, bei denen sich das eigene Immunsystem, unser Abwehrsystem gegen Viren und Bakterien, gegen körpereigene Strukturen richtet. Ein Beispiel ist das Gelenkrheuma, oder im neurologischen Bereich die Multiple Sklerose. Es gibt Hinweise darauf, dass auch Fibromyalgie eine Autoimmunerkrankung sein könnte oder zumindest vom Immunsystem beeinflusst wird.
Das Immunsystem von Frauen reagiert anders als das von Männern, weil Frauen schwanger werden können. Während einer Schwangerschaft muss das Immunsystem der Frau ein anderes Lebewesen im Körper tolerieren. Das ist einer der Gründe, warum manche Krankheiten bei Frauen häufiger auftreten. Ein weiterer Grund sind Hormonschwankungen, die Schmerzen beeinflussen und auslösen können, wie man es von Migräne kennt. Es gibt sicher noch weitere mögliche Zusammenhänge zwischen weiblichem Geschlecht und Fibromyalgie, die noch nicht vollständig erforscht sind.
Man weiß es nicht genau, aber eine naheliegende Vermutung ist, dass weibliche Hormone eine Rolle spielen.
Prof. Sommer: Psychische Störungen können bei der Fibromyalgie eine wichtige Rolle spielen, wobei unklar ist, ob sie bereits vor der Erkrankung bestanden oder sich erst im Laufe der Zeit entwickelt haben. Depressionen sind besonders häufig. Möglicherweise gibt es eine genetische Veranlagung, die das Risiko für eine Depression und gleichzeitig für Fibromyalgie erhöht. Es ist aber auch möglich, dass die ständigen Schmerzen im Verlauf der Erkrankung zu einer Depression führen.
Auch andere Autoimmunerkrankungen gehen überdurchschnittlich häufig mit einer Fibromyalgie einher, zum Beispiel andere Formen von Rheuma. Das Risiko für Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck ist dagegen nicht zwangsläufig erhöht. Eine Ausnahme ist, wenn Betroffene aufgrund ihrer Schmerzen weniger aktiv sind. Dann kann das Risiko für sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes steigen.
Prof. Sommer: Betroffene müssen zu verschiedenen Fachärzten gehen. Wenn jemand Schmerzen hat, kann man nicht einfach pauschal sagen: “Ach, das wird eine Fibromyalgie sein.” Ein Rheumatologe hat spezielle Untersuchungsmethoden, zum Beispiel die körperliche Untersuchung der Gelenke und Muskeln. Es gibt zahlreiche Laborwerte, die im Blut untersucht werden können, darunter auch bestimmte Werte, die auf Gelenkrheuma hinweisen. Außerdem gibt es Techniken, um die Gelenke oder Muskeln mit Röntgenstrahlen oder Kernspintomographie sichtbar zu machen.
Diese Untersuchungsmethoden sind notwendig, um andere Diagnosen auszuschließen und eine genaue Diagnose zu stellen. Es ist wichtig, dass diese Verfahren durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass die richtige Diagnose gestellt und die richtige Behandlung eingeleitet wird. Dies zeigt, wie komplex die Diagnose von Schmerzsyndromen sein kann und warum eine umfassende ärztliche Untersuchung entscheidend ist.
Prof. Sommer: In der Medizin gibt es glücklicherweise viele Beispiele dafür, dass wir Krankheiten behandeln können, auch wenn wir ihre Ursachen nicht vollständig verstehen. Oft wissen wir, welche Maßnahmen helfen. Es gibt einige pragmatische Methoden, insbesondere nicht-medikamentöse Ansätze.
Der erste Schritt ist die Aufklärung und Schulung der Betroffenen. Sie müssen verstehen, was ihre Krankheit ist, besonders da sie oft schon bei vielen anderen Ärzten waren, die ihnen nur gesagt haben, was sie nicht haben. Das führt oft zu Verwirrung. Ein klärendes Gespräch über die Symptome der Fibromyalgie und was man selbst dagegen tun kann, ist daher entscheidend.
Ein bewährter Ansatz ist die Bewegungstherapie. Studien zeigen, dass körperliche Aktivität hilft, auch wenn sie bei vielen Betroffenen die Schmerzen zunächst verstärkt. Deshalb muss die Bewegungstherapie vorsichtig dosiert werden. Geeignet sind zum Beispiel Wassergymnastik oder jede Form der Wassertherapie, bei der man sich im Thermalwasser bewegt. Dabei wird das Körpergewicht entlastet und die Schwerkraft reduziert, sodass schonende Bewegungen möglich sind. Auch Methoden wie Qi Gong oder Tai Chi sind wirksam, wenn sie regelmäßig und unter Anleitung ausgeübt werden.
Physiotherapie, die auf die schmerzenden Bereiche abgestimmt ist, kann ebenfalls helfen. Ist zum Beispiel der Schultergürtel verspannt, können spezielle Übungen in der Gruppe oder einzeln unter Anleitung durchgeführt werden. Weitere unterstützende Maßnahmen sind Entspannungstherapien wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Diese sollten jedoch immer Teil eines Gesamtkonzeptes sein und können bei Bedarf durch psychotherapeutische Unterstützung ergänzt werden.
Reichen die nicht-medikamentösen Maßnahmen nicht aus, können Medikamente eingesetzt werden. In Deutschland sind im Gegensatz zu den USA keine speziellen Medikamente gegen Fibromyalgie zugelassen. Dort werden beispielsweise Pregabalin oder Duloxetin eingesetzt, die auch bei Nervenschmerzen wirksam sind. Diese Medikamente können auch in Deutschland verschrieben werden und helfen einigen Patienten, während andere keinen Nutzen verspüren. Zusätzlich können vorübergehend Standard-Analgetika eingesetzt werden, um akute Schmerzspitzen zu lindern. Sie sollten jedoch nicht dauerhaft eingenommen werden, um Nebenwirkungen und Organschäden zu vermeiden.
Sie müssen verstehen, was ihre Krankheit ist, besonders da sie oft schon bei vielen anderen Ärzten waren, die ihnen nur gesagt haben, was sie nicht haben.
Prof. Sommer: Es gibt erstaunlich wenige Langzeitbeobachtungen zur Fibromyalgie. Man kann nur sagen, dass es einen deutlichen Häufigkeitsgipfel gibt. Betrachtet man eine Stichprobe von Betroffenen, stellt man fest, dass von 100 Personen etwa 90 Frauen und 10 Männer sind. Die meisten sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Es gibt auch einige jüngere und ältere Betroffene, aber die Mehrheit ist im mittleren Alter. Das deutet darauf hin, dass die Symptome später nachlassen können.
Ich habe oft von Patientinnen gehört, dass die Symptome in jungen Jahren besonders schlimm waren, aber mit etwa 60 Jahren deutlich nachgelassen haben. Es gibt aber auch sehr alte Patientinnen, die berichten, dass sie ihr ganzes Erwachsenenleben an Fibromyalgie gelitten haben und immer noch leiden. Das bedeutet, dass die Erkrankung nicht unbedingt aufhören muss, aber kann. Die Symptome können auch durch äußere Umstände in bestimmten Lebensphasen besonders ausgeprägt sein und sich dann wieder bessern, auch durch Therapie.
Von Heilung zu sprechen, wäre jedoch zu optimistisch, da es bisher keine Methode oder Medikamente gibt, die die Fibromyalgie vollständig heilen können.
Prof. Sommer: Man muss sich unbedingt wieder bewegen. Bei den meisten führt der Schmerz dazu, dass man sich immer mehr einschränkt und immer weniger macht. Das ist ein Teufelskreis, weil dann schon die kleinste Bewegung zu Schmerzen führt. Es kann gut sein, dass man das aus eigener Kraft nicht schafft und erst einmal therapeutische Angebote wie Bewegungstherapien annehmen muss. So kann man lernen, die Übungen wieder in den Alltag zu integrieren. Für viele ist es auch hilfreich, die eigenen Grenzen zu kennen.
Man kann zum Beispiel sagen: Wenn ich jetzt zwei Stunden etwas gemacht habe, dann mache ich eine halbe Stunde Pause. Wenn man das einrichten kann, geht es danach wieder besser. Es ist aber sehr individuell, was der Einzelne tun kann.
Es gibt sogenannte multimodale Therapieangebote, bei denen verschiedene Therapieeinheiten, die ich vorhin genannt habe, kombiniert werden. Solche Programme werden ambulant von Schmerzpraxen oder Kliniken angeboten. Man nimmt über mehrere Wochen an einem multimodalen Programm teil und lernt unter Anleitung, was man in den Alltag integrieren kann, was einem hilft.
Prof. Sommer: In den letzten Jahren hat es einige spannende Erkenntnisse gegeben. Eine habe ich schon erwähnt: Früher dachte man, dass der Schmerz bei Fibromyalgie ausschließlich vom Gehirn ausgeht, weil dort die Schmerzregionen nicht richtig funktionieren. Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie konnte man sehen, dass bei Betroffenen bestimmte Hirnareale aktiver sind als bei Gesunden. Seit etwa zehn Jahren werden aber auch die kleinen Nervenfasern in der Haut untersucht, weil sie gut zugänglich sind. Noch wichtiger wären die Nervenfasern in den Muskeln, die aber schwerer zu erreichen und zu untersuchen sind.
Untersuchungen haben gezeigt, dass bei mindestens der Hälfte der Betroffenen die Anzahl der kleinen Nervenfasern in der Haut reduziert ist. Zudem wurde festgestellt, dass diese Nervenfasern bei Fibromyalgie-Patienten bei der Untersuchung mit Elektroden auch ohne Schmerzreiz verstärkt aktiv sind. Diese Nervenfasern feuern also von selbst, was darauf hindeutet, dass das gesamte schmerzleitende System einschließlich der feinen Nervenfasern in Haut, Muskeln und Gelenken überaktiv ist. Dadurch wird ständig das Signal „Es tut weh“ gesendet.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass das Immunsystem der Betroffenen auf körpereigene Substanzen reagiert. Diese Autoantikörper wurden bei Fibromyalgie-Patienten gefunden, aber man weiß noch nicht genau, welche Rolle sie spielen. Laborversuche haben gezeigt, dass diese Autoantikörper vorhanden sind, aber kontrollierte Studien sind notwendig, um ihre genaue Wirkung zu verstehen.
Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie konnte man sehen, dass bei Betroffenen bestimmte Hirnareale aktiver sind als bei Gesunden.
Prof. Sommer: Derzeit wird unter anderem an der Entwicklung neuer Schmerzmittel geforscht, die speziell auf die schmerzleitenden Nervenfasern und ihre Ionenkanäle abzielen. Diese Ionenkanäle sind für die Aktivität der Nervenfasern verantwortlich und ihre Blockierung könnte Schmerzen lindern. Solche Medikamente sind in der Entwicklung und werden derzeit bei Nervenschmerzen getestet. Der nächste Schritt wäre, sie auch bei Fibromyalgie zu testen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forschung auf mehreren Ebenen voranschreitet, um die Ursachen und möglichen Behandlungsansätze der Fibromyalgie besser zu verstehen und zu behandeln.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 07.08.2024.