Prof. Surges: Bei einem epileptischen Anfall feuern kleinere oder größere Gruppen von Nervenzellen in gleichem Rhythmus zusammen. Diese synchrone Entladung wiederum führt zu Störungen normaler Hirnfunktionen, die sich je nach Lage der Nervenzellen im Gehirn in unterschiedlichen Zeichen und Symptomen zeigen können.
Prof. Surges: Es gibt unterschiedliche Formen von Anfällen. Zum einen Anfälle, die Betroffene nur selbst wahrnehmen (früher "Aura" genannt), z.B. ein aus der Magengegend aufsteigendes Wärmegefühl oder ein metallischer Geschmack im Mund. Andere Anfallstypen können mit unwillkürlichen motorischen Phänomenen, z.B. Schmatzen oder Nesteln, oder Verhaltensänderungen einhergehen. Dabei kann das Bewusstsein erhalten oder gestört sein. Der eindrucksvollste Anfallstyp ist der tonisch-klonische Anfall (früher als "Grand Mal Anfall" bezeichnet), bei dem sich der gesamte Körper zunächst versteift, um dann in rhythmische Zuckungen von Armen und Beinen überzugehen.
Der eindrucksvollste Anfallstyp ist der tonisch-klonische Anfall...bei dem sich der gesamte Körper zunächst versteift...
Prof. Surges: Im Allgemeinen können eine gestörte Schlafqualität oder Schlafentzug sowie Konsum von Alkohol und anderen Substanzen (z.B. Marihuana) das Auftreten von Anfällen begünstigen. Das tatsächliche Risiko ist individuell wahrscheinlich sehr unterschiedlich und hängt von der Form der Epilepsie und dem Ausmaß von z.B. Schlafentzug und Alkoholkonsum ab. Besonders empfindlich reagieren Menschen mit genetischen generalisierten Epilepsien (früher "idiopathische Epilepsien" genannt) auf solche Faktoren.
Prof. Surges: Durch Bewusstseinsstörungen und den Verlust der Körperkontrolle ist das Risiko von schweren oder tödlichen Unfällen und Verletzungen erhöht, z.B. Knochenbrüche, Verbrennungen und Ertrinken. Vor allem tonisch-klonische Anfälle bergen besondere Gefahren und Risiken. Sie können auch ohne Sturz und auch bei jungen Menschen Schädigungen im Schultergelenk, Sehnenabrisse und Wirbelkörperbrüche verursachen. Die schwerwiegendste Komplikation tonisch-klonischer Anfälle ist der plötzliche unerwartete Tod bei Epilepsie ("SUDEP" genannt), bei dem es nach Ende des Anfalls zu einem tödlich verlaufenden Atemstillstand kommen kann.
Das Risiko für den SUDEP kann glücklicherweise durch verschiedene Maßnahmen relevant vermindert werden, z.B. durch regelmäßige Medikamenteneinnahme, „gesunde“ Lebensführung, regelmäßige ärztliche Betreuung zur besseren Anfallskontrolle, und durch die Nutzung von Wearables (das sind Armbänder, die diese Anfälle erkennen und dann Alarm geben können).
Die schwerwiegendste Komplikation tonisch-klonischer Anfälle ist der plötzliche unerwartete Tod bei Epilepsie...
Prof. Surges: Oberstes Prinzip ist das Verhindern von Verletzungen durch Schaffung eines sicheren Umfelds. Bei Auftreten eines tonisch-klonischen Anfalls sollte man beispielsweise versuchen, Verletzungen durch Hinlegen der/des Betroffenen und Entfernen von umliegenden Gegenständen vorzubeugen. Besondere Maßnahmen während des Anfalls sind in der Regel nicht hilfreich. Nach Anfallsende sollte man darauf achten, dass der/die Betroffene atmet (dies ist meist von einem lauten, „schnarchenden“ Geräusch begleitet), sie/ihn in die stabile Seitenlage bringen und für mindestens eine Stunde bei der Person bleiben. Sollte die Atmung nicht wieder einsetzen, sollten die Atemwege überprüft werden, ein „Weckreiz“ gegeben werden. Bei immer noch ausbleibender Atmung muss der Rettungsdienst gerufen werden und mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen werden. Ob Notfallmedikamente sinnvoll sind, sollte mit den ärztlichen Behandlern besprochen werden.
Prof. Surges: Prinzipiell unterscheidet man fokale und generalisierte Epilepsien. Bei fokalen Epilepsien entstehen die Anfälle in einem umschriebenen (kleineren) Netzwerk in einer Hirnhälfte, wohingegen bei generalisierten Epilepsien ein größeres Netzwerk in beiden Hirnhälften bei der Erzeugung epileptischer Anfälle beteiligt ist.
Prof. Surges: Jede Schädigung des Gehirns kann zu Epilepsien führen, z.B. Hirnschädigungen durch Schlaganfälle, Blutungen, Unfälle mit Hirnverletzungen, Entzündungen und Infektionen sowie degenerative Hirnerkrankungen (z.B. Alzheimer). Daneben gibt es angeborene Fehlbildungen, Tumoren und Stoffwechselstörungen, die Epilepsien verursachen. Eine größere Gruppe von Epilepsien ist wiederum auf Genveränderungen zurückzuführen, die sich auch in typischen EEG-Mustern („Hirnspannungskurve“) zeigen.
Jede Schädigung des Gehirns kann zu Epilepsien führen...
Prof. Surges: Eine Epilepsie kann bereits diagnostiziert werden, wenn mindestens zwei Anfälle im Abstand von 24 Stunden aufgetreten sind. In der Regel werden ergänzende Untersuchungen durchgeführt, nämich EEG-Untersuchungen (Elektroenzephalographie, mit der die elektrische Hirnaktivität bestimmt wird) sowie eine kernspintomographische Darstellung des Gehirns (MRT). Oft werden typische Auffälligkeiten gefunden, die es erlauben, bereits nach einem ersten Anfall eine Epilepsie zu diagnostizieren.
Prof. Surges: Es stehen etwa 25 verschiedene Medikamente, sogenannte Anfallssuppressiva, zur Verfügung, die sich in ihren Wirkmechanismen, möglichen Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten unterscheiden. Die größte Gruppe machen die Natriumkanalblocker aus, dazu zählen beispielsweise Lamotrigin und Oxcarbazepin. Die Auswahl der Medikamente erfolgt nach individueller Einschätzung durch die ärztlichen Behandler gemeinsam mit den Betroffenen. Hierzu schlagen die „Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie“ eine Rangliste vor, wie Medikamente bei wem zuerst eingesetzt werden sollten.
Prof. Surges: Derzeit ist nur Cannabidiol als ein Bestandteil der Cannabispflanze zur Behandlung von Epilepsien zugelassen. Vereinfacht kann man festhalten, dass die Wirksamkeit von Cannabidiol sich nicht wesentlich von anderen Medikamenten unterscheidet. Die Krankenkassen übernehmen nur bei bestimmten Epilepsie-Formen oder in Einzelfällen auf Antrag die Kosten für diese Behandlung.
Vereinfacht kann man festhalten, dass die Wirksamkeit von Cannabidiol sich nicht wesentlich von anderen Medikamenten unterscheidet.
Prof. Surges: Manche Betroffene mit fokalen Epilepsien kann geholfen werden, indem man den Anfallsherd durch einen neurochirurgischen Eingriff entfernt. Dazu muss der zu entfernende Hirnteil durch verschiedene Untersuchungen präzise identifiziert werden. Vor der Operation muss auch zweifelsfrei geklärt werden, dass die Operation zu keiner dauerhaften körperlichen oder geistigen Einschränkung der Betroffenen führt. Dazu werden beispielsweise Sprachuntersuchungen per Kernspintomographie durchgeführt.
Prof. Surges: Es steht eine größere Anzahl von Medikamenten zur Verfügung, sodass man individuelle Besonderheiten und Begleiterkrankungen bei der Auswahl der Medikamente besser berücksichtigen kann. Gerade das Erkennen und die Verbesserung von Begleiterkrankungen (z.B. Schlafstörungen und Depression) ist in den letzten Jahren wichtiger geworden. Durch verbesserte Techniken in der Bildgebung und den EEG-Untersuchungen werden auch kompliziertere Epilepsien neurochirurgisch erfolgreich behandelt. Dazu stehen auch minimal-invasive Verfahren für bestimmte fokale Epilepsien zur Verfügung (Laser, tiefe Hirnelektroden), mit denen die Anfallskontrolle verbessert werden kann.
Darüber hinaus stehen in Deutschland drei verschiedene Verfahren zur Hirnschnittmacher-Therapie (Neuromodulation) zur Verfügung, die etwa mit ähnlicher Wirksamkeit wie Medikamente das Auftreten von Anfällen vermindern. Um die Sicherheit und Therapieüberwachung zu verbessern, sind seit geraumer Zeit auch Wearables erhältlich, die epileptische Anfälle erkennen können.
Prof. Surges: Zwei von drei Betroffenen werden mit Medikamenten anfallsfrei, was in vielen Fällen ein nahezu uneingeschränktes Leben ermöglicht. Epilepsien können aber auch mit verschiedenen Störungen einhergehen, die die Lebensqualität relevant einschränken können, z.B. Gedächtnisstörungen, Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen. Diese sollten auch mit den Ärzten angesprochen und Maßnahmen zur Linderung diskutiert werden. Wird keine Anfallsfreiheit erreicht, so ist die Eignung zum Führen von PKW und anderen Fahrzeugen eingeschränkt, manche Berufe können nicht ausgeführt werden und von verschiedenen Sportarten (z.B. Rennradfahren, Boxen) wird abgeraten. Eine Familiengründung muss gut geplant sein, um eventuelle Anpassungen der Medikamente vor Eintreten der Schwangerschaft vornehmen zu können.
Zwei von drei Betroffenen werden mit Medikamenten anfallsfrei, was in vielen Fällen ein nahezu uneingeschränktes Leben ermöglicht.
Prof. Surges: Manche Epilepsieformen, die im Kindes- oder Jugendalter entstehen, können spontan ausheilen. Im Erwachsenenalter ist dies eine seltene Ausnahme (und betrifft nur eine sehr kleine Gruppe von erworbenen Epilepsien). Bei manchen Betroffenen mit fokalen Epilepsien kann durch neurochirurgische Eingriffe oder minimal-invasive Verfahren (Laserablation, Radiofrequenz-Thermokoagulation) dauerhafte Anfallsfreiheit erreicht werden. Als geheilt gilt eine Epilepsie, wenn mindestens seit zehn Jahren keine Anfälle mehr aufgetreten sind, davon mindestens fünf Jahre ohne Medikamente.
Prof. Surges: In der Bonner Epileptologie forschen mehr als zehn Arbeitsgruppen an sehr unterschiedlichen Themen rund um Epilepsie. Wir entwickeln beispielsweise neue Ansätze bei der Auswahl von Betroffenen, die am stärksten von einer Operation profitieren. Wir entdecken neue Blutmarker von bestimmten entzündlichen Epilepsie-Formen und arbeiten an neuen mobilen Gesundheitstechnologien (Wearables) zur automatischen Erkennung von Anfällen. Ich könnte mir vorstellen, dass in zehn Jahren jeder Mensch mit Epilepsie mit Behandlern, Angehörigen und Partnern über mobile Gesundheitstechnologien und Kommunikationsplattformen vernetzt sein wird, um Autonomie, Sicherheit und Anfallskontrolle zu erhöhen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 20.06.2024.