Dr. Post: Der Begriff "Diätkultur" bedeutet nicht einfach nur auf Diät zu sein oder eine Diät nach der anderen zu machen, sondern geht viel tiefer. Es ist eine Denkweise, die den Wert einer Person über das bestimmte Aussehen ihres Körpers definiert. Besonders das Schlanksein wird als Statussymbol verehrt und wird gleichgesetzt mit Gesundheit, Schönheit, Fitness, Erfolg und Disziplin. Wir finden diese Stereotypen und Vorurteile bereits in Kinderbüchern und sind tagtäglich bewusst und unbewusst mit hunderten Botschaften konfrontiert, dass der schlanke, weiße, fitte, durchtrainierte, junge Körper der „bessere“ sei.
Ganz allgemein gesagt, finden wir Diätkultur überall dort, wo uns suggeriert wird, dass der Körper, den wir gerade haben, nicht gut genug sei und dass alle Menschen (und ganz besonders Frauen und weiblich gelesene Personen) schlank sein könnten, wenn sie sich nur genug anstrengen und disziplinieren. Diätkultur kann auch als eine Form der Unterdrückung angesehen werden, da diese Denkweise von Rassismus und Kolonialismus geprägt ist. Sabrina Strings, die zu den historischen Gründen von Fettfeindlichkeit forscht, hat es in ihrem 2019 erschienenen Buch „The racial origins of fat phobia“ folgendermaßen zusammengefasst: Der transatlantische Sklavenhandel sowie der erstarkende Protestantismus im frühen 19. Jahrhundert waren die beiden Entwicklungen, aus denen unsere heutige Diätkultur entstanden ist.
Kurz gesagt: Es wurden rassistische Theorien erfunden, um den europäischen Sklavenhandel zu rechtfertigen und gleichzeitig wollte sich die „weiße Elite“ durch Schlankheit und Disziplin moralisch überlegen fühlen und sich von den Sklaven, die sie als „minderwertig“ betrachteten abheben.
Besonders das Schlanksein wird als Statussymbol verehrt und wird gleichgesetzt mit Gesundheit, Schönheit, Fitness, Erfolg und Disziplin.
Dr. Post: Wir setzen als Gesellschaft schlank mit gesund gleich. Die logische Schlussfolgerung ist dann, dass ein dicker Körper automatisch krank ist (oder zwangsläufig werden wird). Er ist dementsprechend ein Problem, das gelöst werden muss. Das hat weitreichende Folgen, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch besonders in der Gesundheitsversorgung. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass mehrgewichtige Menschen weniger gründlich untersucht werden, bei Beschwerden später zum Arzt gehen und es länger dauert, bis sie eine effektive Behandlung bekommen, weil sie viel zu häufig mit der Empfehlung „nehmen Sie doch erstmal ab“ wieder heimgeschickt werden.
Die Angst vor Beschämung beim Arztbesuch ist leider sehr real und hält zu viele Menschen davon ab, sich überhaupt Hilfe und Unterstützung zu suchen. Wir diskutieren die ganze Zeit, ob Dicksein ungesund ist, aber damit kommen wir weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene weiter. Wir sollten lieber über Respekt, soziale Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung und die Auswirkungen von Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts sprechen. Das würde uns als Gesellschaft wirklich gesünder machen.
Dr. Post: Das Marketing von Diäten läuft in der Regel so: Hier ist die Geschichte einer Person, die Gewicht verloren hat, dann haben sich alle ihre Träume erfüllt und wenn du unser Produkt kaufst, dann kannst du das auch haben. Diäten erfreuen sich so großer Popularität, weil sie die Sehnsucht und die Hoffnung geben, dass mit einer schlanken Figur alles erreicht werden kann, was man sich jetzt in diesem Moment wünscht.
Das kann alles Mögliche sein: Anerkennung, Zugehörigkeit, Liebe, Status, Bewunderung, Körperakzeptanz, Gesundheit, Leistungsfähigkeit etc. Es geht oft gar nicht um den schlanken Körper an sich, sondern um das Gefühl, das damit erreicht werden soll. Zudem schaffen Diäten ein Gefühl der Kontrolle getreu dem Motto: Wenn ich meine Ernährung oder meinen Körper im Griff habe, dann habe ich auch mein Leben im Griff.
Wir haben die rationale Ebene längst verlassen und deshalb beeindrucken uns auch die Zahlen nicht mehr, dass etwa 95% der Diäten in den ersten 1-5 Jahren scheitern und bis zu 2/3 der Menschen nach der Diät mehr wiegen als vorher. Die Sehnsucht, dass eine Diät alle Probleme, denen man sich gegenübersieht, lösen könnte, ist sehr viel größer, sodass die Hoffnung, wir könnten die eine Ausnahme sein, uns weiterhin antreibt, diese eine magische Diät zu finden, die dann auch wirklich funktioniert.
Diäten erfreuen sich so großer Popularität, weil sie die Sehnsucht und die Hoffnung geben, dass mit einer schlanken Figur alles erreicht werden kann, was man sich jetzt in diesem Moment wünscht.
Dr. Post: Es ist schon lange keine neue Diät mehr erfunden worden und auch die Schönheitsideale kommen in wunderbarer Regelmäßigkeit immer und immer wieder. Wenn Diäten nachhaltig funktionieren würden, dann müsste nicht ständig "eine neue Sau durchs Dorf getrieben werden". Dann würden wir einmal Gewicht verlieren, das Ziel erreichen und einen Haken dranmachen. Das passiert aber nicht und genau hier kommen die Schönheitsideale ins Spiel. Diese sollen gar nicht erreicht werden.
Tatsächlich entspricht nur eine von 40.000 Frauen natürlicherweise dem Schönheitsideal – alle anderen müssen nachhelfen, indem in den sozialen Medien – aber natürlich nicht nur dort, sondern auch überall anders – immer wieder Diäten beworben und Schönheitsideale diskutiert werden und damit ein Mangel kreiert wird, hält die Diät- und Wellnessindustrie dieses System aufrecht und verdient eine Menge Geld. Wenn wir aufhören würden zu denken, nicht gut genug zu sein und uns stattdessen annehmen würden, wie wir sind, wäre eine dreistellige Milliardenindustrie über Nacht bankrott.
Dr. Post: Body Positivity wird häufig falsch verstanden als ein Aufruf, einfach den eigenen Körper zu lieben. Das trifft es nicht ansatzweise. Body Positivity ist eine aus dem Fat-Acceptance-Movement entstandene Bewegung, die sich für die Abschaffung unrealistischer und diskriminierender Schönheitsideale einsetzt sowie für Teilhabe aller Menschen und soziale Gerechtigkeit. Vorreiterinnen der Bewegung waren vor allem schwarze, queere, dicke Frauen, davon ist aber heutzutage nicht mehr viel übrig.
Wenn wir Body Positivity beispielsweise auf Social Media eingeben, sehen wir sehr viele weiße, normschöne Körper, die vermeintliche Makel in die Kamera halten. Von der Bewegung, die unrealistische und ungesunde Schönheitsideale kritisch hinterfragt, ist nicht mehr viel übrig.
Dr. Post: Health at Every Size® ist ein gewichtsneutrales, medizinisch erprobtes Konzept für mehr Körperakzeptanz, Gesundheit und Wohlbefinden, aber auch eine politische Bewegung, die dieselben Wurzeln wie Body Positivity hat. 2003 hat die Association for Size Diversity and Health (ASDAH) die Prinzipien von Health at Every Size erstmals in Worte gefasst und sich den Begriff, sowie die Abkürzung HAES®, markenrechtlich schützen lassen. Die ASDAH, eine gemeinnützige Organisation, will eine Zukunft erschaffen, in der die Gesellschaft Körper aller Größen und Formen feiert, in der Körpergewicht kein Anlass mehr für Diskriminierung ist und in der sozial benachteiligte und unterdrückte Gemeinschaften einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheit haben.
Dr. Post: In der Diätkultur ist der schlanke Körper das oberste Ziel und – überspitzt gesagt – ist jedes Mittel recht, um diesen zu erreichen. Der HAES®-Ansatz basiert primär auf Selbstfürsorge und ermutigt Menschen, Vertrauen in den eigenen Körper wieder herzustellen. Leider halten uns unser Alltag und unsere Routinen viel zu oft davon ab, wirklich in uns hineinzuhören und zu erkennen, was wir brauchen. Kommt dann noch Stress und Belastung durch Beruf, Familie oder andere Herausforderungen hinzu, die unseren Bedürfnissen im Wege stehen, kommt die Selbstfürsorge häufig zu kurz.
Erfüllte Bedürfnisse sind jedoch die Voraussetzung für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Health at Every Size® konzentriert sich nicht nur auf einen Faktor wie beispielsweise das Gewicht, sondern auf die Gesamtheit der Lebensumstände, Ressourcen und Möglichkeiten und gibt konkrete Handlungsempfehlungen, wie sich nachhaltig Gesundheit und Wohlbefinden positiv beeinflussen lassen.
Leider halten uns unser Alltag und unsere Routinen viel zu oft davon ab, wirklich in uns hineinzuhören und zu erkennen, was wir brauchen.
Dr. Post: Der HAES®-Ansatz basiert auf einem gesamtheitlichen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden und bietet gleichzeitig eine Grundlage sowohl für die individuelle als auch politische Entscheidungsfindung. Am ehesten lässt sich Health at Every Size mit Gesundheit(-sförderung) bei jedem Gewicht übersetzen.
Die fünf Prinzipien von Health at Every Size® sind:
Dr. Post: Sehr viele Faktoren bestimmen die Gesundheit eines Menschen und ja, das Gewicht ist vermutlich einer davon. Die Faktoren, die wir aber nicht unbedingt beeinflussen können wie Genetik, Sozialstatus, Armut, die individuelle Gesundheitsversorgung, traumatische Erfahrungen, Lebensmittel- und Jobunsicherheit, Beziehungsschwierigkeiten und essgestörte Verhaltensweisen können sehr viel stärker ins Gewicht fallen als das Gewicht selbst.
Es macht daher keinen Sinn, Menschen die Schuld an ihrer Gesundheit zu geben. Außerdem bringt uns die Suche nach der Schuldfrage nicht weiter, da sie uns im Problem hält und keine Möglichkeiten aufzeigt, was wir als Gesellschaft verbessern könnten.
Dr. Post: Das sind beispielsweise die Klassiker: eine ausgewogene, abwechslungsreiche Ernährung, ein regelmäßiges Bewegungsverhalten, welches die Lebensqualität fördert, ausreichend qualitativ hochwertiger Schlaf und ein gutes Stressmanagement. Der Unterschied ist, dass die Umsetzung und die Etablierung von gesunden Gewohnheiten unabhängig vom Gewicht oder einer Gewichtsabnahme betrachtet werden.
Hinzu kommt beim HAES®-Ansatz noch die Förderung der Körperakzeptanz und eines positiven Körperbildes und das Entwickeln von Strategien im Umgang mit Vorurteilen, Beschämungen und (struktureller) Gewichtsdiskriminierung. Eine gewichtszentrierte Gesundheitsversorgung legt den Schwerpunkt auf Gewicht und Gewichtsabnahme bei der Definition von Gesundheit und Wohlbefinden, was häufig dazu führt, dass Erfolge in Zahlen gemessen werden. Beim Health at Every Size®-Ansatz ist die mental-emotionale Gesundheit mindestens ebenso wichtig und wird immer in alle Überlegungen mit einbezogen.
Der Unterschied ist, dass die Umsetzung und die Etablierung von gesunden Gewohnheiten unabhängig vom Gewicht oder einer Gewichtsabnahme betrachtet werden.
Dr. Post: Ein Bedürfnis ist das Gefühl, eine Sache dringend zu brauchen. Natürlich könnte man jetzt sagen, dass nicht jeder Wunsch erfüllt werden muss oder auch kann. Ein Bedürfnis ist aber mehr als ein oberflächlicher Wunsch, eher ein tiefliegendes Verlangen. Bedürfnisse bilden eine sehr wichtige Grundlage für unser Wohlbefinden, unsere Zufriedenheit und unsere Gesundheit. Sind unsere Bedürfnisse erfüllt, geht es uns gut. Wenn sie nicht erfüllt sind, verursacht das Stress und wir erleben dieses Defizit als etwas sehr Negatives.
Vereinfacht gesagt lässt sich alles, was wir den ganzen Tag so tun, auf irgendeines unserer Bedürfnisse zurückführen. Dazu gehören nicht nur existenzielle Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, Sex, Gemeinsamkeit, Sicherheit und Geborgenheit, sondern auch die sogenannten Wachstumsbedürfnisse wie Anerkennung, Wertschätzung, Macht oder Selbstverwirklichung. Mit Diäten versuchen wir häufig unseren Status und unsere Anerkennung zu erhöhen (Wachstumsbedürfnisse), vernachlässigen aber gleichzeitig unsere Grundbedürfnisse.
Zu wenig Essen versetzt unseren Körper in eine Stresssituation, sodass weder das Bedürfnis nach Nahrung noch nach Sicherheit erfüllt sein kann. Bevor die Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind, kann aber keine nachhaltige Erfüllung von komplexeren Bedürfnissen stattfinden. Das ist der Unterschied zu Health at Every Size®, das ganz unten am Fuß der Pyramide bei den existenziellen Bedürfnissen ansetzt und mit dem man sich langsam und Stufe für Stufe nach oben zu den Wachstumsbedürfnissen hocharbeitet.
Dr. Post: Der HAES®-Ansatz lädt dazu ein, eine neue Perspektive einzunehmen und sich besonders als Arzt oder Gesundheitsdienstleister mit der eigenen Voreingenommenheit und den eigenen Glaubenssätzen auseinander zu setzen und diese zu reflektieren. Zu behaupten, dass ein hohes Körpergewicht bestimmte Krankheiten verursacht, ist nicht nur bequem, sondern auch sehr uninformiert. Das Körpergewicht ist kein besonders guter Indikator für die körperliche oder geistige Gesundheit oder das mentale Wohlbefinden einer Person.
Ein paar Impulse, die die eigenen Überzeugungen in Bezug auf Gesundheit und Gewicht ins Wanken bringen können, sind zum Beispiel:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sobald wir in Studien zu Gesundheit und Gewicht Genetik, Umweltfaktoren und Verhaltensweisen berücksichtigen, zeigt sich, dass das Gewicht alleine überhaupt keine Aussagekraft mehr hat. Wenn wir glauben, dass wir nur gesund sein können, wenn wir schlank sind, dann geben wir dem Körpergewicht eine Funktion, die es gar nicht erfüllen kann. Außerdem verpassen wir so viele Chancen, wirklich etwas für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden zu tun, wenn wir ausschließlich auf das Gewicht fokussiert sind.
Dr. Post: Eins der fünf Prinzip von HAES® ist Essen für das Wohlbefinden. Es geht darum, eine flexible, bedürfnisorientierte Ernährungsweise (wieder) zu erlernen, die auf Selbstfürsorge und Körperrespekt basiert und genau das ist die Definition von Intuitivem Essen.
Die 10 Prinzipien der Intuitiven Ernährung haben 1995 Evelyn Tribole und Elyse Resch in ihrem Buch "Intuitive Eating" definiert. Sie lauten:
Man könnte auch sagen, die Intuitive Ernährung ist Teil von Health at Every Size® bzw. die beiden Konzepte überschneiden sich an vielen Stellen und gehen Hand in Hand.
Dr. Post: Oft glauben wir, dass Genuss und gesunde Ernährung nicht zusammenpassen, aber Genussesser leben statistisch gesehen sogar gesünder als Menschen, die Regeln und Verbote in ihrer Ernährung haben. Studien zeigen, dass sich Genussesser ausgewogener und hochwertiger ernähren, Genuss dazu führt, sich (wieder) mehr an inneren Signalen wie Hunger und Sättigung zu orientieren und sich positiv auf Lebensmittelqualität, Sättigung und Zufriedenheit auswirkt. Genuss schafft eine natürliche Balance in der Ernährung, schult die Achtsamkeit und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man auch in andere Lebensbereiche mehr Genuss holt, was wiederum die Lebensqualität verbessert. Kurz gesagt: Genuss fördert gesunde Verhaltensweisen.
Dr. Post: Indem HAES® die körperliche Vielfalt akzeptiert und respektiert und weder ein bestimmtes Körpergewicht schlechtmacht, noch ein anderes verherrlicht, unterstützt es gesundheitsorientierte Verhaltensweisen, die in einem wirklich ganzheitlichen Konzept zu mehr Wohlbefinden beitragen und die individuellen, körperlichen, emotionalen, spirituellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse berücksichtigen. Es geht immer darum, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten eine Balance herzustellen zwischen Körper, Seele und Geist.
Die emotionale Gesundheit ist die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen. Emotional gesunde Menschen verstehen ihre Gefühle, können sie benennen, nutzen sie als Wegweiser, um zu sehen, ob ihre Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht und können einen positiven Einfluss auf ihre Gefühlswelt nehmen. Das führt dazu, dass sie belastbarer und resilienter sind, d.h. sie können mit den Widrigkeiten und dem Stress im Leben besser umgehen und trotz aller Herausforderungen eine positive Einstellung zum Leben behalten. Und wer möchte das nicht?
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 31.07.2024.