Prof. Schauenburg: Es ist immer schwierig, bei komplexen Geschehnissen wie einer depressiven Entwicklung von eindeutigen Ursachen zu sprechen. Es geht ja immer um auslösende Ereignisse und vorbestehende Vulnerabilität. Empirisch sind die Hauptsachen für depressive Erkrankungen Armut, Krieg, Entwurzelung und Migration. Andererseits wissen wir, dass all diese Belastungen von Menschen auch ohne depressive Erkrankung überwunden werden können. Also wird natürlich auch nach körperlichen und vor allem individuell-biografischen Dispositionen gesucht.
Die ungeheure Breite der Forschung nach biologischen Ursachen ist kaum noch zu erfassen. Manchmal hat man den Eindruck, als hätte sich die Forschung hier verrannt, wie beim Wald und den Bäumen. Immer wieder finden sich neue Befunde, die aber meistens, wie häufig in der Natur, nur schwache Effekte zeigen und deren Gesamtbewertung unklar ist, oder die, wie die Serotoninhypothese, bald wieder verworfen werden müssen. Insgesamt geht man davon aus, dass die körperliche Neigung zu depressiven Beeinträchtigungen etwas mit der Empfindsamkeit gegenüber Stress und Umwelteinflüssen zu tun hat. An dieser Empfindsamkeit wirken ungeheuer viele Faktoren mit, so dass auch hier keine einzelne Substanz und schon gar nicht ein einzelner Gen- Ort festgestellt werden kann. Auf der anderen Seite ist einer der gesichertsten Befunde, dass belastende Erlebnisse in der Kindheit zu einer späteren Depressionsneigung im Leben beitragen. Aber auch hier ist vielfältig, wie genau schwierige Kindheitserfahrungen letztlich im weiteren Verlauf zu ungünstigen Lebensläufen führen und, Stichwort Resilienz, was solche ungünstigen Verläufe verhindern kann. Ein von mir sehr geschätzter Ansatz ist hier die von John Bowlby in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Bindungstheorie.
...dass belastende Erlebnisse in der Kindheit zu einer späteren Depressionsneigung im Leben beitragen.
Prof. Schauenburg: Es gibt keine "Gamechanger". Bei der Ursachensuche addieren sich Ergebnisse zu einem immer facettenreicheren Bild und mir scheint als warte die ganze wissenschaftliche Welt darauf, dass, wie in anderen medizinischen Bereichen auch, eine plötzliche Sicht „von oben“ die Strukturen “der Depression“ erhellt und einfache Grundprinzipien deutlich werden. Einige Grundelemente sind allerdings schon seit langem beschrieben – wie etwa gelernte Hilflosigkeit. Was das Verständnis angeht: nach einer langen psychoanalytischen und auch lerntheoretischen „Phase“ in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, folgte ja so etwas wie ein Siegeszug der biologischen Psychiatrie. Hier ist allerdings Ernüchterung eingetreten. Weder gibt es bis heute, nach Jahrzehnten der Forschung, eindeutige biologische Merkmale psychischer Erkrankungen, noch hat sich das Versprechen der Psychopharmaka wirklich befriedigend einlösen lassen. Heute hat die Psychotherapie eine deutlich größere Bedeutung und auch die soziale Sicht auf die Depression, Stichwort „Einsamkeit in der Gesellschaft“, wird stärker betont.
Im Bereich der medikamentösen Therapie haben sich die Pharmafirmen aus der Weiterentwicklung von Antidepressiva seit 2005 fast vollständig zurückgezogen, so gering ist die Hoffnung auf erfolgversprechende Ansätze. Der Einsatz von altbekannten, aber bisher illegalen Halluzinogenen beschäftigt die Fachwelt und die Öffentlichkeit sehr. Sie werden, immer eingebunden in komplexe psychotherapeutische Herangehensweisen, vermutlich in der Zukunft eine bereichernde Rolle spielen. Aber sie werden keine Wunder bewirken.
Im Bereich der medikamentösen Therapie haben sich die Pharmafirmen aus der Weiterentwicklung von Antidepressiva seit 2005 fast vollständig zurückgezogen...
In der Psychotherapie ist in der Verhaltenstherapie eine Hinwendung von eher übenden Vorgehensweisen zur Berücksichtigung von Emotionen, von Beziehungsgestaltung und sogar die Übernahme des psychoanalytischen Übertragungsmodells zu beobachten. In den psychoanalytischen Verfahren hat sich eine sehr wichtige Differenzierung ergeben, die bedeutet, dass die Vorgehensweise besser an die jeweilige Persönlichkeit und die emotionalen Möglichkeiten der Patienten angepasst wird. Deshalb kommen heute mehr Menschen als früher in den „Genuss“ einer angemessenen Psychotherapie, auch solche, die vor 20 Jahren noch, zu Unrecht, als untherapierbar abgelehnt worden wären.
Prof. Schauenburg: Sehr verkürzt sagt die Bindungstheorie, dass Menschen sich aus evolutionärer Notwendigkeit an stärkere und schützende Andere anlehnen müssen und im Lauf ihrer Entwicklung innere Bilder von deren „Verfügbarkeit“ oder „Nichtverfügbarkeit" entwickeln, sogenannte Bindungsstile. Menschen, die über eine sichere Bindung an ihre Bezugspersonen verfügen, zeigen dies schon im ersten und zweiten Lebensjahr und es gibt eine gewisse, wenn auch schwache, Kontinuität einer solchen Bindungssicherheit über die Lebensgeschichte. Für Menschen, die an Depressionen erkranken, zeigt sich häufig, allerdings nicht immer, dass sie schon früh in ihrem Leben unsichere Bindungsstile (d.h. innere Muster der Nichtverfügbarkeit von Hilfe) entwickelt haben, die entweder dazu führen, sich emotional zu ängstlich mit der Umgebung zu verstricken (allen gefallen wollen, Angst vor Verlassen werden etc.) oder aber, die sich schon früh scheinbar aus unterstützenden Kontakten der Umgebung zurückziehen (Vermeidung von Verbundenheit, besondere Betonung von Autonomie). Menschen, die unsicher gebunden sind, haben also ein erhöhtes Risiko unter belastenden Umständen der verschiedensten Art schneller mit Hilflosigkeit und Ohnmacht , d.h. unter Umständen längerfristig mit Depressivität zu reagieren. Menschen mit sicherem Bindungsstil sind grundsätzlich besser in der Lage, sich ein unterstützendes soziales Umfeld zu schaffen und sich in der Not auch Hilfe zu holen.
Für Menschen, die an Depressionen erkranken, zeigt sich häufig...dass sie schon früh in ihrem Leben unsichere Bindungsstile...entwickelt haben.
Solche früh entstandenen unischeren Muster spielen dann später in der Psychotherapie eine große Rolle und sind mit Einschränkungen veränderbar bzw. bewältigbar. Insofern halte ich die Bindungstheorie für eine im umfassenden Sinn integrative Theorie, die auch über Psychotherapieschulen anerkannt ist und die, weil sie stark auch das Stresserleben und die Stressregulation berührt und einen Bezug zur menschlichen Biologie hat.
Prof. Schauenburg: Ich achte viel mehr darauf, wie Menschen sich ihr Beziehungsumfeld gestalten bzw. nicht gestalten und lerne immer wieder den Wert menschlicher Verbundenheit zu schätzen. Meine therapeutische Arbeit geht dann häufig darum, besser zu verstehen, was es Menschen schwer macht, die natürliche Heilkraft ihrer sozialen Umgebung zu nutzen. Das hat natürlich mit Lebensgeschichte und Vorerfahrungen zu tun, oft auch mit schlechten Rahmenbedingungen, die bewältigt werden müssen. Die Welt ist nicht immer freundlich, aber es gibt immer Orte der Unterstützung und Hoffnung.
Prof. Schauenburg: Im Schnitt sind die häufigen mittelschweren Depressionen gut psychotherapeutisch zu beeinflussen. Allerdings können wir da besser werden und für viele sehr schwer Erkrankte, insbesondere auch sozial deprivierte Menschen, braucht es noch mehr als Psychotherapie. Der Aufbau komplexer Versorgungsstrukturen inkl. sozialpädagogischer und pflegerischer Unterstützung für die Gruppe der komplex Erkrankten geht in Deutschland voran, wenn auch langsam.
Was die medikamentöse Therapie angeht, geht man bei mittleren und schweren Depressionen von einer äquivalenten Wirkung aus, wie die Psychotherapie zeigt. Man muss aber auch sehen, dass hier ein sehr hoher Plazeboeffekt gefunden wurde. Zudem wünscht man sich als Arzt immer, dass die Betroffenen aus einer Auseinandersetzung mit ihrem Leben eine eigene Handlungsmächtigkeit zurückbekommen, was man vermutlich eher in psychotherapeutischen Prozessen, als durch die Einnahme eines Medikamentes erreicht. Dennoch gibt es eine kleine Gruppe von Patienten, die durch Antidepressiva - auch jenseits des Plazeboeffektes - gestärkt wird. Leider wissen wir nicht im Voraus welche Patienten dies sind. Ich persönlich würde, vorausgesetzt, dass ich nicht unter schwersten Schlafstörungen und Unruhezuständen leide, deshalb immer erst mit einer Psychotherapie (bei einer/m Therapeuten meiner Wahl!) beginnen und erst, wenn sich mein Befinden nicht spürbar bessert, auch die Einnahme von Antidepressiva erwägen. Aber hier gibt es sicher auch andere Meinungen, je nach eigenem Erfahrungshorizont.
Prof. Schauenburg: Insgesamt nicht genug. Ungeachtet der oben beschriebenen positiven Entwicklungen gibt es zu viele Patienten, die nie therapeutische Hilfe erhalten oder die dennoch chronifizieren, weil sie aus unterschiedlichsten Gründen ihr Leben nicht ändern können. Ein großer Fortschritt ist dennoch in Deutschland, dass wir seit Jahren Nationale Versorgungsleitlinien der Depressionsbehandlung haben, die für klinisch Tätige und auch Patienten sehr hilfreich sind, die ständig überarbeitet werden und die versuchen, alle wichtigen neuen Erkenntnisse aufzunehmen.
Prof. Schauenburg: Wie angedeutet können Therapeuten mit dieser Theorie ein komplexeres Bild der Bedeutung menschlicher Verbundenheit bekommen. Weder ist Autonomie um jeden Preis etwas Gutes und Hilfreiches, noch umgekehrt Verbundenheit unter Aufgabe der eigenen Person. Dennoch sind wir alle auf unsere Mitmenschen angewiesen. Nicht jede Einsamkeit ist krankhaft, aber Einsamkeit ist die Wurzel sehr vieler depressiver Erkrankungen. Und dies ernst zu nehmen, bedeutet, dass man eine andere Sicht auf die Welt bekommt, als sich viele zu Depressionen neigende Menschen im Laufe ihres Lebens angewöhnt haben.
Prof. Schauenburg: Natürlich. Die Einbeziehung von Angehörigen ist deshalb, wie es auch die Leitlinien vorgeben, essenzieller Bestandteil einer guten Depressionstherapie. Hier können viele Missverständnisse, Schuldgefühle, unrealistische Erwartungen und unbegründete Hoffnungslosigkeit gemeinsam besprochen werden. Und es hilft, den oft verunsicherten Angehörigen zu vermitteln, wie wichtig sie (meist, nicht immer), trotz aller manchmal schwierigen Kommunikation, für Halt und Hoffnung der betroffenen Patienten sind.
Prof. Schauenburg: Sich mit Geduld und Hartnäckigkeit auf die Suche nach einer ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeutin oder einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten des Vertrauens zu machen. Psychotherapieplätze sind manchmal mühsam zu finden, aber Deutschland hat weltweit mit großem Abstand das beste Versorgungssystem in dieser Hinsicht. Kleiner Tipp: in der Nähe großer Städte empfehlen sich auch die Ausbildungsinstitute für psychologische Psychotherapie. Dort gibt es fast immer deutlich weniger Wartezeit und die jungen unter Supervision arbeitenden Therapeuten sind meiner langjährigen Erfahrung nach sehr gut, engagiert und erwiesen erfolgreich. Wenn die Qual sehr groß ist, massive Schlafstörungen und andauernde große innere Unruhe bestehen, dann würde ich versuchen eine psychiatrisch begleitete medikamentöse Therapie zu ergänzen. Auch Hausärzte mit diesbezüglicher Erfahrung können Antidepressiva verordnen und begleiten.
Kleiner Tipp: in der Nähe großer Städte empfehlen sich auch die Ausbildungsinstitute für psychologische Psychotherapie.
Prof. Schauenburg: Zum aktuellen Stand der biologischen Grundlagenforschung kann ich leider nichts Kompetentes sagen. Die groben Linien, wie ich sie wahrnehme, habe ich oben versucht zu beschreiben. Die größte Versorgungsdringlichkeit besteht meiner Einschätzung nach in einem angemessenen, über lange Zeit verfügbaren Angebot für schwer erkrankte Patienten. Hier müssen noch mehr komplementäre Strukturen finanziert werden. Eine solche Betreuung kann kein Therapeut und kein Psychiater allein gewährleisten. Und ich persönlich bin, als junger Erwachsener der 70er Jahre, natürlich sehr neugierig, wie sich langfristig die so heftig diskutierten Psychedelika in unsere Versorgung so integrieren lassen, dass sie weder von heilsversprechenden Gurus missbraucht werden, noch Wunderheilungen ohne die Mühsal der Auseinandersetzung mit sich selbst versprechen.
Vielen Dank für das Interview!
aktualisiert am 23.08.2023