Granulozyten sind eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Leukozyten sind Blutzellen, die eingedrungene Krankheitserreger und Fremdkörper erkennen und beseitigen. Damit sind sie ein Teil des Immunsystems. Im Gegensatz zu den roten Blutkörperchen (Erythrozyten) sind sie eher farblos und werden daher weiße Blutkörperchen genannt. Im Färbeverfahren lassen sie sich dann eindeutig erkennen und die Unterarten unterscheiden.
Granulozyten machen etwa 50 bis 70 Prozent der Leukozyten aus. Kommt es im Körper zu einer Verletzung oder Entzündung werden sogenannte Chemokine produziert. Dies sind kleine Signalproteine, die Granulozyten aus dem Blut an den Entzündungsort locken. Die Granulozyten haben eine entscheidende Bedeutung an der Akutabwehr.
Drei Untergruppen der Granulozyten lassen sich nach ihrer Anfärbbarkeit im Blutausstrich unterscheiden, die neutrophilen Granulozyten, die basophilen Granulozyten und die eosinophile Granulozyten, die jeweils verschiedene Aufgaben erfüllen.
Eine hochgradige Verminderung von unter 500 Zellen pro Mikroliter Blut oder ein völliges Fehlen von Granulozyten wird als Agranulozytose bezeichnet. Im Blut kommen normalerweise 3.200 bis 6.500 Granulozyten pro Mikroliter vor.
Die häufigste Ursache für die Entstehung einer Agranulozytose ist die Einnahme bestimmter Medikamente. Durch die fehlenden Abwehrzellen ist die körpereigene Abwehr bei der Agranulozytose stark geschwächt und das Risiko von Infektionen steigt deutlich.
Die häufigste Ursache für eine Agranulozytose ist eine Unverträglichkeitsreaktion auf bestimmte Arzneimittel. Der Auslöser ist bisher nicht eindeutig geklärt. Unterschieden werden allergische Reaktionen auf das Arzneimittel (Typ-1-Agranulozytose) und eine giftige Wirkung auf blutbildende Zellen durch das Arzneimittel (Typ-2-Agranulozytose).
Die Typ-1-Agranulozytose wird ausgelöst, wenn sich die Medikamente mit im Blut befindlichen Eiweißen verbinden. Daraus bilden sich Eiweiß-Arzneimittel-Komplexe, die vom körpereigenen Immunsystem fälschlicherweise als schädigender Eindringling erkannt und bekämpft werden. Es werden Antikörper produziert, die den Komplex markieren, damit entsprechende Zellen diesen dann abbauen können. Die Oberfläche der Granulozyten ähnelt der des Komplexes, so dass diese ebenfalls durch Antikörper markiert und von sogenannten Fresszellen abgebaut werden. Die Granulozytenzahl im Blut nimmt bei der Erkrankung rapide ab. Folgende Medikamente gelten als die häufigsten Auslöser einer Agranulozytose (bei etwa 125 Medikamenten ist die Agranulozytose als Nebenwirkung aufgeführt):
Die Typ-1-Agranulozytose tritt dosisunabhängig auf. Bereits kleine Mengen der Arzneimittel können zu einer plötzlichen Zerstörung der Granulozyten führen. Dadurch kommt es zu einem Zusammenbruch des Immunsystems. Bakterielle sowie virale Infektionen oder Mykosen (Pilzbefall) bis hin zur Sepsis („Blutvergiftung“, schwerwiegender Verlauf einer Infektion, der zum Organversagen führen kann) können folgen.
Arzneimittel, die eine Typ-2-Agranulozytose verursachen, sind Zytostatika. Dabei handelt es sich um Medikamente, die zur Behandlung von Krebs eingesetzt werden. Sie sollen das Zellwachstum beziehungsweise die Zellteilung hemmen, indem sie Stoffwechselvorgänge stören, die dafür benötigt werden. Besonders schnell wachsende Zellen werden durch eine solche Chemotherapie geschädigt. Die Medikamente wirken sich besonders auf Tumorzellen aus: Tumorzellen haben eine sehr schnelle Zellteilungsrate mit eingeschränktem Reparaturmechanismus. Das gewährleistet, dass vor allem entartete Zellen durch die giftige Wirkung der Substanzen zerstört werden.
Eine Nebenwirkung der Chemotherapie ist die Giftwirkung der Medikamente auf körpereigene Zellen. Hiervon betroffen sind vor allem sich schnell teilende Zellen im Magen-Darm-Trakt, Epithelzellen (Oberflächenzellen, als Nebenwirkung ergibt sich Haarausfall) oder die blutbildenden Zellen im Knochenmark. Clozapin ist ein zytostatischer Wirkstoff, der sehr häufig zu einer Agranulozytose führt. Er setzt Stoffe frei, die gezielt den Zelltod von Granulozyten auslösen können.
Im Gegensatz zu der Typ-1-Agranulozytose ist der Verlauf dosisabhängig und führt durch die Knochenmarkschädigung zu einer langsamen Abnahme der Granulozytenzahl.
Arzneimittelunabhängige Ursachen für eine Agranulozytose sind Erkrankungen, die zu einer Blutbildungsstörung im Knochenmark führen. Dies wird ebenso zur Typ-2-Agranulozytose gezählt. Die Osteomyelofibrose gehört dazu, sie ist eine bösartige Erkrankung des Knochenmarks. Durch einen bindegewebigen Umbau des Knochenmarks kommt es zu einer Störung der Blutbildung. Zu Beginn der Erkrankung kommt es zur Agranulozytose oder Leukozytose (Vermehrung der weißen Blutkörperchen). Im weiteren Verlauf entwickelt sich daraus eine Panzytopenie, das bedeutet eine Abnahme der roten Blutkörperchen (Erythrozyten), weißen Blutkörperchen (Leukozyten) und Blutplättchen (Thrombozyten). Auch andere Krebserkrankungen des Knochenmarks oder erbliche Erkrankungen können eine Agranulozytose verursachen.
Als Risikofaktoren zur Entwicklung einer Agranulozytose gelten ein hohes Alter (besonders wenn zeitgleich weitere Medikamente eingenommen werden müssen), Autoimmunerkrankungen (Erkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigene Zellen angreift) oder Niereninsuffizienz (Nierenfunktionsstörung). Ob Alter und Geschlecht einen Einfluss haben, ist noch nicht hinreichend geklärt.
Durch die fehlenden Abwehrzellen ist die körpereigene Abwehr der Patienten stark geschwächt. Dadurch steigt das Infektionsrisiko bei der Agranulozytose erheblich. Die Erkrankung beginnt oft mit grippeähnlichen, unspezifischen Symptomen wie Fieber und Schüttelfrost, Halsschmerzen und Entzündungen der Mundschleimhaut. Im weiteren Verlauf treten Schleimhautschäden im Mund-, Anal- und Genitalbereich sowie Lymphknotenschwellungen auf. Charakteristisch sind die drei Symptome:
Schafft der Körper es nicht, die Entzündung aufzuhalten, breitet sich die Infektion über das Blut im ganzen Körper aus. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer tödlichen Sepsis.
Die Diagnose erfolgt im Blutbild. Fällt im kleinen Blutbild bereits eine Erniedrigung der Leukozytenzahl (Anzahl der weißen Blutkörperchen) auf, wird ein Differentialblutbild angefertigt, um den Grund für die Erniedrigung zu finden. Differentialblutbild und kleines Blutbild werden zusammen als großes Blutbild bezeichnet. Im großen Blutbild sind die einzelnen Leukozytenwerte gesondert aufgeführt.
Die Granulozytenzahl wird als Absolutzahl, also Zellen pro Mikroliter (µl) Blut und als prozentualer Anteil an der Gesamtleukozytenzahl angegeben. Im großen Blutbild erfolgt grundsätzlich eine Aufschlüsselung in die einzelnen Leukozyten- und Granulozyten-Untergruppen. Fällt die Zahl der Granulozyten auf Werte unter 3000 Zellen pro µl Blut, spricht man von einer Granulozytopenie. Die schwerste Form der Granulozytopenie ist die Agranulozytose mit weniger als 500 Zellen pro µl Blut. Im gesunden Blutbild befinden sich 3200 bis 6500 Granulozyten pro µl Blut.
Liegt im Blutbild eine Panzytopenie vor, also reduzierte Werte für alle Arten von Blutzellen (Leukozyten, Erythrozyten und Thrombozyten), sollten Knochenmarksuntersuchungen durchgeführt werden.
Neben der Blutuntersuchung wird der Arzt im Patientengespräch klären, welche Arzneimittel eingenommen werden. Eine Risikotabelle mit Medikamenten, die eine Agranulozytose verursachen, hilft bei der Diagnose. In der klinischen Untersuchung können Lymphknotenschwellungen, Mandelentzündungen, Schleimhautveränderungen im Rachen, eine erhöhte Herzfrequenz oder Fieber hinweisend sein.
Wird die Agranulozytose durch Medikamente verursacht, werden diese abgesetzt und durch andere ersetzt. Ist die Erkrankung bereits fortgeschritten, werden die Symptome bekämpft. Bei einer Infektion mit Bakterien (Fieber ist dabei typisch) erhalten Patienten Antibiotika, bei Pilzinfektionen Antimykotika. Zusätzlich wird auf einen ausreichenden Infektionsschutz geachtet. In schweren Fällen werden Patienten zum Schutz vor Infektionen isoliert, bis sich das Blutbild normalisiert hat. Durch den raschen Einsatz von Antibiotika kommt es wesentlich seltener zu einer tödlich verlaufenden Sepsis.
In sehr schweren Fällen werden sogenannte Granulozyten-Wachstumsfaktoren verabreicht. Sie stimulieren das Wachstum von Granulozyten aus Vorläuferzellen im Knochenmark.
Ist Blutkrebs der Auslöser der Erkrankung, zielt die Therapie auf dessen Behandlung ab. Besonders ist hier auf einen gründlichen Infektionsschutz zu achten.
Nach Absetzen der Medikamente und Kontrolle der Ausbreitung einer Infektion durch ausreichenden Infektionsschutz erholen sich die Granulozyten in etwa ein bis zwei Wochen. Bleibt die Agranulozytose unbehandelt, kommt es in vielen Fällen (etwa 20 Prozent) zu einer tödlich verlaufenden Sepsis. Der Körper antwortet auf eine Infektion mit Bakterien, Viren, Pilzen oder Parasiten mit seiner Immunantwort so ungünstig, dass die Reaktion den Körper schädigt, anstatt ihn zu schützen. Es kommt zu einer lebensbedrohlichen Funktionsstörung verschiedener Organe. Durch den mittlerweile raschen Einsatz von Antibiotika bei Patienten mit einer Agranulozytose kommt es nur noch sehr selten zu einem tödlichen Verlauf.
Generell sollten Patienten, die eines der oben aufgeführten Medikamente regelmäßig einnehmen müssen, einige vorbeugende Maßnahmen zum Infektionsschutz beachten. Eine gründliche Körperhygiene, besonders auch von Mund- und Rachenraum, sollte regelmäßig erfolgen. Besonders zu Erkältungszeiten ist es besser, große Menschenansammlungen zu vermeiden.Hier ist die Gefahr besonders hoch, mit Mikroorganismen in Kontakt zu kommen.
Clozapin ist ein sehr oft und erfolgreich eingesetztes Medikament zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Durch die dabei häufig auftretende Agranulozytose wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor Therapiebeginn ein Blutbild mit normaler Leukozytenzahl gefordert. Außerdem erfolgt während der Therapie eine regelmäßige Kontrolle der Leukozyten- und Granulozytenzahl.
Es gibt umfangreiche Listen über Arzneimittel, die eine Agranulozytose hervorrufen. Die Leukozytenzahl sollte während der Behandlung mit diesen Medikamenten regelmäßig überprüft werden. Eine Forderung durch den Gesetzgeber gibt es nur in wenigen Ausnahmefällen (wie bei Clozapin). Durch das erhöhte Risiko zur Entwicklung einer Agranulozytose für ältere Patienten, bei Immunsupprimierten (Menschen mit geschwächtem Immunsystem) oder bei der gleichzeitiger Einnahme mehrerer Medikamente besteht für Ärzte und Apotheker eine besondere Aufklärungspflicht in der Verabreichung und Abgabe der Medikamente.
aktualisiert am 02.03.2021