Ein Beinlängenunterschied von bis zu 1 cm wird als normal angesehen, während ein Unterschied von 2 cm oder mehr medizinische Interventionen erfordert, z. B. eine Schuherhöhung oder eine Operation. Strukturelle Unterschiede entstehen durch ungleich lange Knochen, während variable Unterschiede durch Muskel- oder Gelenkprobleme verursacht werden können. Ab 2-3 cm werden Beinlängendifferenzen unausgeglichen durch ein Verkürzungshinkensichtbar. Die aktuelle Studienlage lässt einen Zusammenhang mit verfrühten Gelenkverschleiß und Rückenschmerzennicht belegen.
Prof. Rödl: Grundsätzlich ist zunächst einmal zwischen strukturellen Beinlängenunterschieden mit ungleich langen Beinknochen und variablen Beinlängenunterschieden zu unterscheiden. Eine variable Beinlängendifferent kann aufgrund von Muskelverkürzungen sowie einer Beckenverwringung entstehen, wobei die beiden Knochen vollkommen gleich sind. Dies kann sich sogar tagesabhängig ändern. Das Ausmaß der variablen Beinlängenunterschiede liegt im Bereich von ±1 cm. Allein deshalb sind Beinlängendifferenzen von 1 cm als normal zu betrachten.
Darüber hinaus ist es so, dass 30% der Bevölkerung eine Beinlängendifferenz von 1 cm und mehr hat. Wann ein Beinlängenunterschied auszugleichen ist, ist letztendlich Konsens. Wir haben keine belastbaren Daten, die diese Grenze klar definieren. Der weltweite Konsens ist, dass ein Ausgleich ab einer Beinlängendifferenz von 2 cm erfolgen sollte, wobei eine Beinlängendifferenz von 2 cm auf 1 cm reduziert werden sollte.
Prof. Rödl: Sogenannte strukturelle Beinlängendifferenzen sind idiopathisch, d.h. man weiß nicht genau, woher es kommt. Bei Unfällen kann es zu einem Knochensubstanzverlust kommen, der ebenfalls Ursache sein kann. Auch Verletzungen der Wachstumsfugen mit vorzeitigem Verschluss sind Gründe. Variable Beinlängendifferenzen hingegen liegen einer Bewegungseinschränkung von Gelenken, Beckenverwringungen, Sehnenverkürzungen oder auch Rückenverbiegungen zugrunde.
Prof. Rödl: Eine strukturelle Beinlängendifferenz kann sich nicht verwachsen. Es ist jedoch so, dass eine idiopathische Beinlängendifferenz während des Wachstums permanent zunimmt, da das kürzere Bein prozentual immer weniger wächst. Man kann sagen, dass bei einem Mädchen die Beinlängendifferenz am 3. Geburtstag und beim jungen am 4. Geburtstag verdoppelt werden kann, um zu erfahren wie groß die Beinlängendifferenz bei Wachstumsabschluss sein wird.
Eine strukturelle Beinlängendifferenz kann sich nicht verwachsen.
Prof. Rödl: Eine strukturelle Beinlängendifferenz durch ungleich lange Beinknochen kann sich nach Wachstumsabschluss nicht verändern. Veränderungen können nur eintreten, wenn beispielsweise durch Unfälle ein Knochensubstanzverlust besteht. Die variable Beinlängendifferenz ist grundsätzlich veränderlich, wie zuvor angesprochen.
Prof. Rödl: Beinlängendifferenzen führen unausgeglichen zu einem Verkürzungshinken. In der Sportwelt berechtigt eine Beinlängendifferenz von 4 bzw. ab 7 cm zur Teilnahme an paralympischen Wettbewerben. Wenn zum Ausgleich der Beinlängendifferenz eine Schuherhöhung getragen wird, wird der Fuß schwerer und die Sohle steifer, weshalb das Abrollverhalten und das Gangbild verändert werden. Ab einer Beinlängendifferenz von 5 cm kommt es durch eine solche Schuherhöhung auch zur Umknickneigung.
Prof. Rödl: Wie zuvor genannt, kommt es bei einer unausgeglichenen Beinlängendifferenz zu einem Verkürzungshinken. Häufig wird vermutet, dass diese auch Ursache für Rückenschmerzen, verfrühte Arthrose, Stolperneigung und Rückenverbiegung ist. Des Weiteren wird vermutet, dass durch eine Beinlängendifferenz während des Wachstumsalters ein Fehlwachstum im Bereich von Rücken oder Hüfte entstehen könnte. Getragen wird diese Vermutung von der Vorstellung, dass die Menschen auf beiden Beinen gleich belastet wie ein Turm stehen. Schon kleine Kinder wissen, dass ein Turm, der auf 2 ungleich hohen Säulen steht, zum Fallen neigt.
Dieses Wissen ist aber in keinster Weise auf den Menschen zu übertragen, da der Mensch eben kein Turm ist. Der Mensch steht maximal 10 min pro Tag wie ein Turm und belastet seine beiden Beine mit dem gleichen Gewicht. Natürlich gibt es Ausnahmen wie z.B. Wachsoldaten, diese Ausnahmen sind jedoch sehr selten. Beim Liegen, beim Sitzen, beim Gehen und auch die meiste Zeit beim Stehen, stehen wir nicht auf beiden Beinen mit dem gleichen Gewicht. Wir haben fast immer ein Stand und ein Spielbein, wir lehnen uns irgendwo an oder halten uns irgendwo fest und stehen praktisch nie gerade. Dazu kommt, dass die meisten Menschen mit Rückenschmerzen gleich lange Beine haben.
Schon nach diesen kurzen Überlegungen wird klar, dass das Turmmodell in keinster Weise übertragbar ist. Daneben gibt es aber auch eine gute Studienlage, die beispielsweise Risikofaktoren für Rückenschmerzen sehr genau überprüft hat. Genauso gibt es Studien zur Arthrose. Hier ist es so, dass die einen Studien sagen, dass es etwas mehr Arthrose am Knie des längeren Beines gäbe, die anderen Studien behaupten, dass es etwas mehr Arthrose im Kniebereich am kürzeren Bein gäbe. Mit anderen Worten: wir haben keinerlei belastbare Daten, die die Schlussfolgerung zuließen, dass eine Beinlängendifferenz irgendwelche Spätschäden erzeugt.
Des Weiteren wird vermutet, dass durch eine Beinlängendifferenz während des Wachstumsalters ein Fehlwachstum im Bereich von Rücken oder Hüfte entstehen könnte.
Prof. Rödl: Die Beinlängendifferenz wird indirekt mittels Brettchen-Methode und Überprüfung des Beckenstandes gemessen. Es werden so lange Brettchen definierter dicke unter das kürzere Bein gelegt, bis das Becken gerade steht. Wenn man eine Operation plant - und nur dann - sollte die Beinlängendifferenz radiologisch gemessen werden, hier wird dann eine sogenannte Ganzbeinstandaufnahme mit der vorher ermittelten Brettchen-Unterlage durchgeführt.
Prof. Rödl: Eine kleine Beinlängendifferenz (<5cm) kann konservativ entweder durch eine Schuherhöhung oder durch Schuheinlagen bzw. eine Kombination aus beidem behandelt werden. Größere Beinlängendifferenzen benötigen Schienenapparate teilweise mit künstlichen Füßen.
Prof. Rödl: Eine Operation zur Korrektur einer Beinlängendifferenz ist grundsätzlich kein überlebensnotwendiger Eingriff. Man hat auch ohne operative Korrektur eine normale Lebenserwartung. Daher ist die operative Korrektur immer ein Wahleingriff. Durch diese operative Korrektur wird die Notwendigkeit der lebenslangen Hilfsmittelversorgung - sei es Schuhversorgung oder Schienenversorgung - überflüssig. Dadurch wird das Gangbild nicht durch entsprechende Sohlenversteifung und das Schuhgewicht beeinträchtigt. Des Weiteren ist es natürlich wesentlich kostengünstiger, eine Beinlängendifferenz operativ zu korrigieren, als lebenslang Hilfsmittel zu finanzieren.
Prinzipiell kann das lange Bein verkürzt oder das kurze Bein verlängert werden. Dazu ist anzumerken, dass in der Regel das kranke Bein das Kürzere ist, weshalb beim Verkürzen des längeren Beins häufig das gesunde Bein behandelt wird. Die früher geübte Praxis der Verkürzung durch Entfernen eines Knochenstückes ist mit einer relativen Überlänge der Muskulatur verbunden, was zu langanhaltendem Hinken führt. Teilweise benötigt man über 2 Jahre oder auch länger, bis ein normales Gangbild und auch eine normale Kraft wieder erreicht wird, teilweise wird nicht mehr die normale Kraftentwicklung erreicht. Daher ist diese Methode nur noch in Ausnahmefällen sinnvoll.
Während des Wachstums kann eine Beinverkürzung auch dadurch erreicht werden, dass Wachstumsfugen vorzeitig angehalten werden. Hier kommt es nicht zu den oben beschriebenen Problemen. Es muss jedoch genau berechnet werden, zu welchem Zeitpunkt die Fugen verödet werden und wie groß die zu erwartende Beinlängendifferenz am Ende des Wachstums sein wird. Damit ist dieses Verfahren zwar von der Operationsintensität her das bisher geringste, aber hinsichtlich des Ziels, gleich lange Beine zu erreichen, unsicher (weniger als 1 cm Beinlängendifferenz).
Die Beinverlängerung erfolgt mittels Züchten eines Knochens, indem dieser gebrochen wird und dann langsam auseinandergezogen wird. Früher wurde dies mit äußeren Knochenspannern bewerkstelligt, heute kann dies mit voll implantierbaren Marknägeln, die durch Magneten von außen gesteuert werden, durchgeführt werden. Fixateure kommen dennoch zum Einsatz, wenn im Wachstumsalter bei offenen Wachstumsfugen verlängert werden soll. Heute werden Beinlängendifferenzen hauptsächlich durch die Knochenzüchtung mittels Marknagel operativ ausgeglichen.
Eine Operation zur Korrektur einer Beinlängendifferenz ist grundsätzlich kein überlebensnotwendiger Eingriff.
Prof. Rödl: Das hängt sehr von der zu korrigierenden Beinlängendifferenz ab. Nehmen wir eine Beinlängendifferenz von 3,5 cm, dann ist es so, dass der Patient während der Verlängerung und bis zur Ausreifung des neu gezüchteten Knochens Unterarmgehstützen tragen muss. Dieser Zeitraum ist im Schnitt mit 3 Monaten anzusetzen. Nach weiteren 6 Wochen kann wieder sportgetrieben werden. Das Hauptrisiko bei einer Beinverlängerung sind die angrenzenden Gelenke. Der Knochen wird gezüchtet, die Muskeln werden gedehnt. Dadurch werden die Muskeln während der Knochenverlängerung zu kurz.
Durch die kurzen Muskeln werden die angrenzenden Gelenke belastet, was zu Beweglichkeitseinschränkungen bis zum Ausrenken der Gelenke führen kann. Daher sollten solche Verlängerungsoperation auch ausschließlich in ausgewiesenen Spezialzentren durchgeführt werden, die mit diesen Schwierigkeiten vertraut sind und sie durch entsprechende Maßnahmen beherrschen können. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass sich der Knochen manchmal nicht richtig ausbildet. Auch hier braucht man ein Spezialzentrum, dass solche Probleme managen kann.
Prof. Rödl: Nein, es können alle Sportarten betrieben werden. Entscheidend ist, dass - solange es möglich ist - der Sport ohne Schuhausgleich betrieben werden sollte. Ein Stollenschuh mit 2 cm Sohlenerhöhung verliert vollkommen seine Eigenschaften und z.B. Fußballspielen ist nicht mehr möglich. Wenn es unmöglich ist, ohne Schuherhöhung den Sport auszuüben, muss man individuelle Lösungen finden.
Nein, es können alle Sportarten betrieben werden.
Prof. Rödl: Der Zusammenhang zwischen verminderter Lebensqualität und Beinlängendifferenz ist nicht untersucht. Es wird auch in Zukunft auf diesem Gebiet keine weiteren Erkenntnisse geben, da alle kleinen Beinlängendifferenzen (größer 2cm und kleiner 5 cm) operativ ausgeglichen werden, sodass große Gruppen mit persistierenden Beinlängendifferenzen schwer zu rekrutieren sind, um eine solche Untersuchung durchzuführen.
Prof. Rödl: In den letzten Jahren haben sich vor allen Dingen die operativen Techniken zum Ausgleich der Beinlängendifferenzen verändert. Konnte man früher die Beine nur mit einem äußeren Knochenspanner verlängern, ist es heute möglich, dies mit Marknägeln zu tun, die im Knochen liegen und über ein Magnetsystem von außen gesteuert werden können, ohne dass irgendetwas aus der Haut rausschaut.
Prof. Rödl: Es gibt jede Menge Forschung! Dabei wird sich womöglich im Bereich der Implantate, mit denen der Knochen gezüchtet werden kann, etwas tun. Hier ist insbesondere die Entwicklung von voll implantierbaren Systemen, die auch mit offenen Wachstumsfugen angewendet werden können, von großem Interesse.
Danke für das Interview!
Weitere Informationen zu diesem Thema:
Übersichtsarbeit zur Beinlängendifferenz:
Therapieindikationen und -strategien
Letzte Aktualisierung am 10.10.2024.