Prof. Gockel: Wir sind derzeit zwei weibliche Lehrstuhlinhaberinnen für Viszeralchirurgie in Deutschland. Eine weitere Ordinaria wurde vor wenigen Jahren emeritiert, also sind wir insgesamt 3 Frauen als Leitung einer universitären Viszeralchirurgie in den letzten 151 Jahren seit Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Das ist immer noch viel zu wenig und macht den Karriere-Weg nicht gerade einfach, da bei der Besetzung von Professuren Männer häufig ihresgleichen berufen. D.h. auch die Berufungskommissionen an deutschen Universitätsklinika sind männlich dominiert. Dennoch setzen wir uns sehr für den viszeralchirurgischen Nachwuchs ein und versuchen in den letzten Jahren zunehmend, Chirurginnen auf ihrem Weg zur Habilitation zu unterstützen und bessere Möglichkeiten im klinischen Alltag zur Vereinbarkeit von Familie und Karriere zu bieten.
Prof. Gockel: Beim Barrett-Ösophagus handelt es sich um eine krankhafte zunächst gutartige Veränderung am unteren Ende der Speiseröhre am Übergang zum Magen. Verursacht wird diese durch den wiederholten, meist jahrelangen Kontakt der Speiseröhre mit saurem Mageninhalt (sogenannter saurer Reflux). Der Mageninhalt gelangt zumindest teilweise in die Speiseröhre und verursacht das vielen Menschen bekannte „Sodbrennen“. Wenn dieser Prozess chronisch abläuft und immer wieder geschieht, kann sich aus dem Barrett-Ösophagus ein bösartiges Barrett-Karzinom entwickeln. Hier haben die Zellen der unteren Speiseröhre Eigenschaften erworben, um sich ungehindert zu teilen und unkontrolliert zu wachsen. Es entsteht ein Speiseröhrenkrebs, das Barrett-Karzinom, welches sich klassischer Weise im unteren Drittel der Speiseröhre ausbreitet und bis an den Mageneingang heranreicht.
Prof. Gockel: Patienten, die jahrelanges Sodbrennen bzw. gastro-ösophagealen Reflux haben, haben ein erhöhtes Risiko, einen Barrett-Ösophagus zu bekommen, auf dessen Grundlage sich der Barrett-Krebs entwickeln kann. Der Reflux wird überwiegend durch einen Zwerchfellbruch begünstigt. Weitere Risikofaktoren sind das männliche Geschlecht und vor allem das Übergewicht. Zudem sind Alkohol und Nikotin als krebsfördernde Noxen, wie auch bei vielen anderen Krebserkrankungen, gesicherte Risikofaktoren für den Speiseröhrenkrebs. Eine gesunde, ausgewogene und obst- sowie gemüsereiche Kost, regelmäßige körperliche Bewegung/Sport und ein bewusster Lebensstil wirken sich hingegen positiv aus und vermindern das Risiko der Entstehung des aggressiven Barrett-Krebs.
Patienten, die jahrelanges Sodbrennen bzw. gastro-ösophagealen Reflux haben, haben ein erhöhtes Risiko, einen Barrett-Ösophagus zu bekommen...
Prof. Gockel: Problematisch ist, dass weder der Barrett-Ösophagus noch das Barrett-Karzinom im Frühstadium symptomatisch sind. Das heißt, dass die Veränderungen von Patienten in ihrer Entstehungsphase nur selten bemerkt werden. Für das Barrett-Karzinom gibt es keine Früherkennungsprogramme (wie beispielsweise die Vorsorgekoloskopie beim Darmkrebs), daher sehen wir in der Regel Patienten mit fortgeschrittenen Tumorstadien. Die Herausforderung liegt darin, Patienten mit einem sehr hohen Risiko zu identifizieren und diese einem gezielten Überwachungsprogramm (z.B. Endoskopie) zuzuführen. Hierzu fehlt es uns aber aktuell noch an geeigneten Indikatoren und Biomarkern (z.B. im Blut), um diese Hochrisikopatienten herauszufiltern.
Prof. Gockel: Schluckbeschwerden, das Hochwürgen der Nahrung (sogenannte Regurgitationen), eventuell Schmerzen hinter dem Brustbein und der ungewollte Gewichtsverlust sind klassische Symptome, die einer sofortigen Abklärung bedürfen. Der Goldstandard ist hier die Endoskopie (Magenspiegelung) mit histologischer Sicherung. Zur Umfelddiagnostik und zum Ausschluss von Metastasen wird eine PET-CT (Computertomographie) durchgeführt.
Prof. Gockel: Wir führen in den letzten Jahren die OP bei Speiseröhrenkrebs überwiegend minimal-invasiv mit dem OP-Roboter durch. Die Roboterarme werden hierbei durch die Chirurgen gesteuert und es resultieren hochpräzise Bewegungen im Bauchraum bzw. Brustkorb der Patienten bei gleichzeitiger 3D-Visualisierungsmöglichkeit für die Operateure. Es sind nur wenige kleine „Schlüsselloch“-Schnitte erforderlich, welche weniger Schmerzen und eine schnellere Rekonvaleszenz der Patienten mit sich bringen. Durch diese Hochpräzisions-Technik bei gleichzeitig besserer Sichtbarkeit der Organe und Strukturen im Operationsgebiet können möglicherweise im Langzeitverlauf bessere onkologische Ergebnisse, d.h. ein besseres Überleben nach Krebs, erzielt werden, da die den Tumor umgebenden Lymphknoten besser visualisiert und entfernt werden können. Insgesamt konnten große Studien reduzierte Komplikationsraten der Robotik-OPs im Vergleich zu den konventionell-offenen OP-Verfahren beim Speiseröhrenkrebs nachweisen.
Wir führen in den letzten Jahren die OP bei Speiseröhrenkrebs überwiegend minimal-invasiv mit dem OP-Roboter durch.
Prof. Gockel: Wie bereits hinsichtlich der Risikofaktoren dargelegt, führt bei bestimmten Risikokonstellationen, z.B. dem Nachweis eines Zwerchfellbruchs, welcher den gastroösophagealen, sauren Reflux aus dem Magen in die Speiseröhre begünstigt, in Kombination mit bestimmten „Lifestyle“-Faktoren, eine chronische Exposition von Säure klinisch zu Sodbrennen, auf zellulärer Ebene möglicherweise zu Veränderungen im Sinne eines (zunächst gutartigen) Barrett-Ösophagus. Zur Behandlung des Sodbrennens sind Säureblocker erforderlich. Später, z.B. bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit dieser, kann eine minimal-invasive OP des Zwerchfellbruchs erwogen werden (sogenannte laparoskopische Fundoplikation). Simultan profitieren Patienten sehr von einer Lebensstiländerung, die immer am Beginn jeglicher Antireflux-Therapie stehen sollte. Diese besteht z.B. aus einer Gewichtsreduktion bei vorhandenem Übergewicht, einer ausgewogenen „mediterranen“ Kost, Reduktion von Kohlenhydraten, insbesondere von industriellem, raffiniertem Zucker, regelmäßiger körperlicher Bewegung/Sport und einem nur mäßigem Konsum von Alkohol bei komplettem Verzicht auf Nikotin, wenn möglich.
Prof. Gockel: Im Frühstadium ist Speiseröhrenkrebs heilbar und sogar im Rahmen einer Endoskopie kurativ entfernbar. Problematisch ist jedoch, dass dieses Frühstadium keine oder nur diskrete Symptome verursacht und somit auch keine Diagnostik erfolgt. Die Diagnose eines Frühstadiums ist häufig ein Zufallsbefund im Rahmen einer Endoskopie aus anderen Gründen oder eines Überwachungsprogramms bei bekanntem Barrett-Ösophagus mit Risikofaktoren. Somit werden die meisten Diagnosen eines Speiseröhrenkrebses erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, z.B. wenn Schluckbeschwerden und ein Gewichtsverlust auftreten. Die Prognose dieser fortgeschrittenen Stadien ist dann weniger günstig, als in den frühen Tumorstadien. Die Therapie ist heutzutage multimodal, d.h. durch eine Vor-Therapie, bestehend aus Strahlen- und Chemotherapie oder alleiniger Chemotherapie, wird der Tumor verkleinert und erst dann (minimal-invasiv/robotisch) operiert, was das Langzeitüberleben verbessert. Nach der Operation erfolgt meist noch eine Komplettierungs-Chemotherapie. Weitere medikamentöse Kombinationen, z.B. mit zielgerichteten Antikörpern oder die Immuntherapie, konnten in den letzten Jahren die Prognose weiter verbessern.
Prof. Gockel: Die deutliche Zunahme des Barrett-Karzinoms im unteren Drittel der Speiseröhre in den letzten Jahren ist auf unseren Lebensstil zurückzuführen: Übergewicht, schlechte Ernährung (z.B. „Fast-Food“), wenig frisches Obst und Gemüse, Alkohol und Nikotin spielen eine wesentliche Rolle bei der Zunahme, insbesondere in unserer „westlichen“ Welt.
Prof. Gockel: Wir konnten in den letzten Jahren das weltweit größte Konsortium zur Identifizierung von Risikogenen aufbauen. Die zentrale Steuerung erfolgt dabei von unserem Studienzentrum in Leipzig aus. In einer Patienten-Kohorte von ca. 16.000 Erkrankten konnten wir zuletzt eine Reihe spannender Risikogene identifizieren, die mit der Entstehung des Barrett-Ösophagus und des Barrett-Karzinoms vergesellschaftet sind. Unsere Aufgabe ist es momentan, die Funktion und die Rolle dieser Gene weiter zu untersuchen und ihre Beteiligung an der Krankheitsentstehung besser zu verstehen. Momentan stehen wir hier noch ganz am Anfang.
Prof. Gockel: Die nächsten Schritte bestehen darin, die Rolle der Risikogene in der Krankheitsentstehung besser zu verstehen. Darüber hinaus beschäftige ich mich intensiv mit der intra-operativen Bildgebung, wie z.B. dem Hyperspektral-Imaging, welches die operative Behandlung der Patienten verbessern und sicherer machen soll. Ich bin fest davon überzeugt, dass sowohl das bessere Verständnis molekularer Vorgänge in der Entstehung des Barrett-Ösophagus und des Barrett-Karzinoms, sowie eine stetige Optimierung der OP-Technik, wie beispielsweise mit Robotik und intraoperativer Bildgebung, in naher Zukunft signifikante Vorteile für unsere Patienten haben wird.
Herzlichen Dank für das Interview!
aktualisiert am 25.08.2023