Autismus wird nach den neuesten Klassifikationssystemen als Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet, wobei alle Betroffenen gemeinsame Probleme in der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation aufweisen, aber individuelle Unterschiede bestehen. Autismus ist nicht als Krankheit, sondern als normale genetische Variation anzusehen. Diagnostik und Therapie zielen darauf ab, den Betroffenen zu helfen, ihre Besonderheiten zu erkennen und Kompensationsstrategien zu entwickeln, anstatt sie grundlegend zu verändern. Trotz der Herausforderungen, die Autismus mit sich bringen kann, wird Autismus als eine besondere Form menschlicher Vielfalt betrachtet.
Prof. Tebartz van Elst: Nach den neuesten Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-11 spricht man von Autismus-Spektrum-Störungen. Nach ICD-10 gilt jedoch noch die alte Klassifikation, die drei verschiedene Gruppen von autistischen Störungen unterscheidet: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Allen drei Gruppen gemeinsam sind Probleme in der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation, z.B. fehlender Blickkontakt, auffällige nonverbale Kommunikation und eine monotone Sprachmelodie.
Die Kommunikation zwischen Betroffenen und anderen funktioniert oft nicht gut, weil die Betroffenen Schwierigkeiten haben, die Absichten anderer zu verstehen. Metaphern und sprachliche Bilder werden oft wörtlich genommen. Diese Kommunikationsprobleme werden als Störung der "Theory of Mind" bezeichnet, also der Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu erkennen. Ein weiteres Merkmal sind starke Routinen und ein großes Bedürfnis nach festen Abläufen. Störungen dieser Routinen können zu Stress und manchmal zu aggressiven Reaktionen führen. Viele autistische Menschen haben auch intensive Spezialinteressen, die viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.
Häufig sind auch sensorische Besonderheiten wie eine hohe Empfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen, Berührungen oder grellem Licht. Dies kann zu intensiven Reaktionen wie Erstarren oder starker Anspannung führen. Die drei Untergruppen von Autismus unterscheiden sich wie folgt:
Neuere Klassifikationssysteme unterscheiden nicht mehr zwischen diesen drei Untergruppen. Man spricht nun allgemein von Autismus-Spektrum-Störungen, um die Vielfalt der Ausprägungen innerhalb des Spektrums zu betonen.
Prof. Tebartz van Elst: Die Früherkennung von Autismus hängt stark vom Alter des Kindes ab. Bei Säuglingen im ersten Lebensjahr ist es besonders schwierig, Autismus objektiv zu erkennen, da Kommunikation und soziale Kognition in diesem Alter noch wenig entwickelt sind. Auffällig ist in diesem Alter oft der fehlende Blickkontakt. Autistische Kinder nehmen nicht wie erwartet Blickkontakt auf und schauen anderen nicht in die Augen. Auch die Motorik kann ungewöhnlich erscheinen, ist aber schwer in Worte zu fassen.
Im ersten Lebensjahr können auch Wahrnehmungsauffälligkeiten wie Essstörungen auftreten. Autisten reagieren manchmal sehr empfindlich auf bestimmte Nahrungsmittel, nicht nur auf den Geschmack, sondern auch darauf, wie sich das Essen im Mund anfühlt. Solche Besonderheiten sind jedoch schwer zu erkennen und von typischen Essproblemen bei Kindern zu unterscheiden. So ist im ersten Lebensjahr der fehlende Blickkontakt das auffälligste Symptom, gefolgt von einer möglichen Berührungsempfindlichkeit.
Mit zunehmendem Alter verändern sich die Symptome. Im zweiten Lebensjahr kann sich das Laufen verzögern und es treten Probleme beim Krabbeln auf. Später kommt es häufig zu einer verzögerten Sprachentwicklung. Bis zum dritten Lebensjahr sollte ein Kind eigentlich sprechen können. Je älter die Kinder werden, desto spezifischer werden die Symptome, insbesondere in Bezug auf das Sozialverhalten, die Kommunikation und die soziale Interaktion. Diese Symptome werden besonders deutlich, wenn die Kinder in sozialen Gruppen interagieren, z.B. im Kindergarten oder in der Kinderkrippe. Autistische Kinder haben oft Schwierigkeiten, sich in Gruppen zu integrieren, spielen nicht mit anderen Kindern und ziehen sich zurück. Sie spielen oft nur mit bestimmten Gegenständen und auf ungewöhnliche Weise, z.B. sortieren sie Puppen der Größe nach, anstatt mit ihnen zu spielen.
Schon im Kindergarten zeigen sich oft Routinen und das Bedürfnis nach immer gleichen Abläufen. Veränderungen in der Routine, wie z.B. Ausflüge, können großen Stress verursachen, der sich in heftigen Wutausbrüchen äußern kann. In der Grundschule, wenn sich die Sprache entwickelt, fällt bei hochfunktionalen autistischen Kindern oft der Konkretismus der Sprache auf. Sie nehmen Sprichwörter wörtlich und verstehen metaphorische Sprache nicht. Autistische Kinder wirken oft wie kleine Professoren: Sie entwickeln ein großes Wissen über bestimmte Themen und sprechen mit einer anderen Sprachmelodie. Neurotypische Kinder wissen, wie ihr Verhalten auf andere wirkt und können es kontrollieren. Autistische Kinder erkennen dies nicht und unterdrücken seltsames Verhalten nicht, was zu sozialer Ausgrenzung und Mobbing führen kann.
Jugendliche mit höherer Intelligenz lernen oft Kompensationsstrategien, um soziale Erwartungen zu erfüllen, wie zum Beispiel auf die Nasenwurzel statt in die Augen zu schauen. Mädchen und junge Frauen mit Autismus kompensieren oft besser als Jungen, weil sie sich mehr für soziale Themen interessieren. Dennoch dekompensieren viele Mädchen im Übergang zur Pubertät, da die Anforderungen an die soziale Kompetenz stark ansteigen und sie aus Gruppen ausgeschlossen werden. Dies kann zu sekundären Problemen wie Depressionen führen. Diese Symptome sind je nach Alter unterschiedlich ausgeprägt und hängen von den in diesem Alter zu erwartenden Entwicklungsschritten ab.
Mit zunehmendem Alter verändern sich die Symptome.
Prof. Tebartz van Elst: Der Zeitpunkt der Diagnose hängt vom Schweregrad ab. Heutzutage versucht man, die Diagnose so früh wie möglich zu stellen, im Idealfall bereits im Kindes- oder Säuglingsalter. Das ist aber sehr schwierig. Als Erwachsenenpsychiater und -psychotherapeut bin ich auf diesem Gebiet nicht der Experte, das ist eher ein Thema der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Man versucht, durch systematische Beobachtung, vor allem des Sozialverhaltens, schon bei Kindern im ersten oder zweiten Lebensjahr Hinweise zu finden. Man beobachtet zum Beispiel, wie das Kind mit der Mutter oder dem Vater interagiert. Ein wichtiger Aspekt ist die sogenannte "Joint Attention": Können sich Kind und Elternteil gemeinsam auf ein drittes Objekt konzentrieren, zum Beispiel beim Puppenspiel? Mit solchen Tests und sehr genauen Beobachtungen des frühen Sozialverhaltens versucht man, die Diagnose so früh wie möglich zu stellen, um frühzeitig intervenieren und therapieren zu können.
Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger ist die Diagnose, da sich viele soziale Kompetenzen erst im Laufe des Lebens entwickeln. Ab einem Alter von etwa drei bis sechs Jahren sind diese sozial-kommunikativen Kompetenzen deutlicher ausgeprägt und die Diagnose wird leichter. Generell gilt: Je höher die allgemeine Intelligenz und die Fähigkeit, spezifische Probleme in der Kommunikation und sozialen Wahrnehmung sowie das Bedürfnis nach Routinen und erwartungskonformen Abläufen zu kompensieren, desto später fällt eine Auffälligkeit auf.
Prof. Tebartz van Elst: Ich denke, man kann schon oft übersehen, wenn es sich um hochfunktionale Menschen handelt. Das kommt fast nur bei sprechenden Autisten vor. Bei den Nichtsprechenden, die überhaupt keine Sprache entwickeln, ist die Auffälligkeit so deutlich, dass man meistens schon im ersten Lebensjahrzehnt, oft schon vor der Grundschulzeit zur richtigen Diagnose kommt.
Bei Autisten, die sprechen können und eine normale oder überdurchschnittliche Intelligenz haben, hängt die Diagnose auch von der Umgebung ab. Wenn sie ein sehr tolerantes Umfeld haben oder die Eltern selbst autistisch strukturiert sind - alles ist super geregelt, alles passiert immer auf die gleiche Weise, zur gleichen Zeit - dann geht es den Kindern gut. Die schulischen Leistungen sind in Ordnung und wenn die Eltern erfolgreich und sozial gut integriert sind, fällt es nicht so schnell auf. In solchen Fällen kann die Diagnose lange übersehen und sehr spät gestellt werden, erst im zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt.
Wir haben gerade jemanden hier auf der Station, eine Frau mit Autismus, die erst mit Anfang/Mitte 20 diagnostiziert wurde, obwohl es jetzt sehr offensichtlich ist. Oft entwickeln diese Menschen noch andere Probleme. Die autistischen Mädchen werden oft mit 13/14 Jahren depressiv oder entwickeln eine Essstörung, wenn sie aus ihren bis dahin funktionierenden Gruppen herausfallen. Jungen zeigen oft aggressives Verhalten und werden dann mit Depressionen, Essstörungen oder ADHS diagnostiziert. Diese anderen Diagnosen verschleiern den zugrunde liegenden Autismus.
Prof. Tebartz van Elst: Es ist wichtig zu erkennen, dass "Autismus" und "Autismus-Spektrum-Störung" Syndrom-Begriffe sind. Sie beschreiben nur einen sogenannten Phänotyp wie Auffälligkeiten im Blickkontakt, Reizempfindlichkeit, soziale Kommunikation, Stimmmelodie, Fähigkeit zur Gruppeninteraktion, Bedürfnis nach Routinen, besondere Interessen - nicht aber die Ursachen. Ich vergleiche das gerne mit der Körpergröße. Körpergröße ist ein Merkmal mit Varianz: Manche Menschen sind sehr groß, manche klein, die meisten mittelgroß. Im Grunde ist alles normal. Aber eine extreme Körpergröße kann Ausdruck einer Krankheit sein, z.B. Marfan-Syndrom oder Akromegalie.
Ähnlich verhält es sich beim Autismus: Es gibt genetische Erkrankungen wie die Tuberöse Hirnsklerose oder das 22q11-Syndrom, die häufig mit Autismus einhergehen, und erworbene Ursachen wie die Einnahme von Valproat durch die Mutter während der Schwangerschaft oder eine Rötelninfektion. Bei vielleicht einem Drittel der Menschen mit Autismus liegen solche kausalen Ursachen vor. Bei den anderen zwei Dritteln gibt es keine eindeutigen sekundären Ursachen, aber oft familiäre Häufungen, ähnlich wie bei der Körpergröße. Das liegt an der sogenannten multigenetischen Vererbung - mehrere hundert Gene mit geringer Effektstärke beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Phänotyp zu entwickeln. Diese genetische Variation ist keine Krankheit, sondern eine normale biologische Varianz.
Es ist mir wichtig, dass die Menschen erkennen: Multigenetische Vererbung ist keine Erbkrankheit, sondern die Natur des Lebens. Alle unsere Eigenschaften haben etwas mit Genetik und Umwelt zu tun. Multigenetische Vererbung ist sehr wichtig für eine große Untergruppe von autistischen Menschen, aber es ist keine Krankheit, sondern normale genetische Varianz.
Bei den anderen zwei Dritteln gibt es keine eindeutigen sekundären Ursachen, aber oft familiäre Häufungen, ähnlich wie bei der Körpergröße.
Prof. Tebartz van Elst: Nun, ich würde sagen, dass das auffälligste Merkmal für Außenstehende die kommunikative Unbeholfenheit und Steifheit ist. Außenstehende können oft nicht genau sagen, was los ist, aber sie merken, dass die Person sich komisch verhält. Diese kommunikativen Auffälligkeiten äußern sich in einer hölzernen und unbeholfenen Art, der Unfähigkeit zum Smalltalk und der Tendenz, sich von Gruppen fernzuhalten.
Ein klassisches Beispiel ist der hochfunktionale Asperger-Junge in der Grundschule. In der Hofpause kann er das Durcheinander der Gruppen kaum ertragen, weil zu viel geredet wird, was er nicht versteht. Smalltalk enthält oft metaphorische oder indirekte Sprache, die Autisten nur schwer entschlüsseln können. In Gruppen können sie manchmal nicht einmal hören, wer spricht. Deshalb ziehen sie sich zurück und setzen sich an den Rand, vielleicht mit einem Buch. Sie merken nicht, dass dies auf andere befremdlich wirkt, weil sie Schwierigkeiten mit der „Theory of Mind“ oder der kognitiven Empathie haben. Sie erkennen nicht spontan, dass ihr Verhalten bei anderen nicht gut ankommt. Die Mitschüler missverstehen dies oft und denken, das Kind halte sich für etwas Besseres, sei ein Streber oder wolle sich nicht in die Gruppe integrieren. Dies führt zu einer Fehlinterpretation des autistischen Verhaltens durch neurotypische Kinder.
Diese Verhaltensweisen zeigen sich besonders in sozialen Gruppen und im Sportunterricht. Viele Asperger-Kinder mögen Gruppensportarten nicht, weil sie oft grobmotorisch sind und die laute, hallende Turnhalle als Reizüberflutung erleben. Auch die monotone Sprechweise und das Fehlen von Mimik und Gestik fallen auf und machen es den anderen Kindern schwer, das Verhalten zu deuten. Diese Eigenschaften: Einzelgängertum, Probleme in der Gruppenkommunikation und Direktheit in der Kommunikation führen oft dazu, dass autistische Kinder als Streber oder Petzen wahrgenommen werden. Dies verstärkt ihre Außenseiterrolle.
Bei Erwachsenen ist es ähnlich. An der Universität stehen neurotypische Menschen nach der Vorlesung in Gruppen zusammen und unterhalten sich, was Autisten selten tun. Auch bei der Arbeit halten sie sich in den Pausen von den Gruppen fern, was dazu führt, dass sie oft ausgegrenzt werden.
Prof. Tebartz van Elst: Ein wichtiger erster Schritt in der Behandlung ist die Diagnose. Ich nenne das jetzt lieber Strukturdiagnostik. Ich betrachte die Mehrheit der Menschen mit der Diagnose Autismus als eine Normvariante. Das heißt, ich sehe Autismus nicht als Krankheit oder eigentlich als Störung, sondern als Phänotyp, ähnlich wie groß oder klein sein. Es ist keine Krankheit, wenn jemand 1,95m groß ist, aber es ist eine Besonderheit. Wenn jemand zum Beispiel 2,13m groß ist und das nicht weiß, stößt er sich ständig den Kopf an Türen, die für Durchschnittsmenschen gemacht sind. Erst wenn er sich bewusst wird, dass er größer ist als der Durchschnitt und die „Fallen“ in seiner Umgebung erkennt, kann er solche Unannehmlichkeiten vermeiden.
Das Gleiche gilt für autistische Menschen: Sie sind in ihrer Struktur besonders, und die kommunikativen Konstellationen unserer Welt sind für Durchschnittsmenschen gemacht. Während die meisten Menschen Smalltalk lieben, empfinden Autisten ihn oft als anstrengend. Wenn sie nicht verstehen, dass sie in dieser Hinsicht anders sind, fühlen sie sich ständig fehl am Platz. Es geht darum, sich selbst zu erkennen, wie der berühmte Spruch auf dem Apollo-Tempel in Delphi sagt: "Gnothi seauton" (Erkenne dich selbst). Jeder Mensch muss seine Struktur erkennen, aber bei autistischen Menschen ist das noch wichtiger. Sie müssen verstehen, dass und warum sie anders sind. Viele autistische Menschen empfinden die Diagnose als Erleichterung, weil sie nicht als Krankheitsbezeichnung, sondern eben als Strukturdiagnose verstanden wird.
Man sagt ihnen: Du bist einfach anders im sozial-kognitiven Bereich und im Bedürfnis nach Routinen. Das ist nichts, was du ändern kannst. Du machst nichts falsch, das ist dein Schicksal. Du musst dich aber darauf einstellen, es akzeptieren und Kompensationsstrategien entwickeln. Diese Strategien sind vergleichbar mit meiner Brille, da ich weitsichtig bin. Die Brille kompensiert die negativen Auswirkungen meiner Weitsichtigkeit weitgehend, ändert aber nichts daran, dass ich weitsichtig bin.
Das Ziel einer sogenannten lernenden Psychotherapie sollte also nicht sein, sich selbst grundlegend zu verändern. Genauso wenig wie ein Weitsichtiger eben aufhören kann, weitsichtig zu sein, kann ein Autist seine Struktur ändern. Es geht darum, sich selbst zu akzeptieren und Hilfsmittel oder Strategien zu entwickeln, um im Alltag besser zurechtzukommen.
Die Diagnose ist der erste Schritt, dem weitere folgen müssen. Man kann viel lernen, zum Beispiel Kompensationsstrategien. Diese Strategien haben Generationen vor uns entwickelt und perfektioniert. Heute gibt es Optiker, die Brillen perfekt anpassen, und ähnlich kann eine lernende Psychotherapie helfen, Kompensationsstrategien für autistische Menschen zu entwickeln. Wir haben ein Psychotherapie-Programm namens FASTER entwickelt, das in einer großen Studie untersucht wird. Es geht darum, lernend Kompensationsstrategien zu entwickeln, die es ermöglichen, die Nachteile der strukturellen Besonderheit optimal auszugleichen, ähnlich wie eben die Brille bei meiner Weitsichtigkeit.
Das heißt, ich sehe Autismus nicht als Krankheit oder eigentlich als Störung, sondern als Phänotyp, ähnlich wie groß oder klein sein.
Prof. Tebartz van Elst: Natürlich kann man Autismus nicht heilen, genauso wenig wie man Weitsichtigkeit oder die eigene Körpergröße heilen kann. Vielleicht sollte man es auch gar nicht heilen wollen. Der erste Schritt ist wirklich Akzeptanz - sich so zu nehmen, wie man ist. Es kann vorkommen, dass sich autistische Menschen eine Fehlkompensation angewöhnen. Zum Beispiel kann es sein, dass sie sich aus Gruppen zurückziehen und sich ganz in ihre vier Wände zurückziehen, weil die Kommunikation oft nicht klappt. Dieser soziale Rückzug ist zwar angesichts der ständigen Misserfolgserlebnisse in Kommunikationssituationen verständlich, aber in der Regel nicht gut und kein strukturelles Phänomen. Sozialer Rückzug ist ein problematisches Verhalten.
Das wäre so, als würde ein Weitsichtiger seine Brille nicht aufsetzen - auch das wäre ein Problemverhalten, weil er ein vorhandenes Hilfsmittel nicht benutzt. Ähnlich verhält es sich mit dem sozialen Rückzug. Manchmal gewöhnen sich autistische Menschen unkluge Kommunikationsstrategien an, die zu noch mehr Konflikten mit anderen Menschen führen. Es ist wichtig, dies zu erkennen und zu lernen, was ein echtes strukturelles Phänomen ist, das man nicht ändern kann und daher akzeptieren muss, um das eigene Selbstwertgefühl nicht zu beschädigen, und was ein Problemverhalten ist, welches man ändern könnte.
Strukturelle Phänomene sollten als Schicksal oder Aufgabe akzeptiert werden. Problemverhalten wie sozialer Rückzug oder die Ablehnung von Hilfsmitteln (weil man sie blöd findet) sind keine Strukturen, sondern Problemverhalten, das gelöst werden sollte. Autismus im strukturellen Sinne ist aber nicht heilbar.
Prof. Tebartz van Elst: Bei der Behandlung von Autismus müssen drei Bereiche unterschieden werden: die autistische Struktur selbst, die damit verbundenen Problemverhaltensweisen und die häufig komorbiden Störungen.
In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, diese drei Bereiche analytisch zu trennen. Das SPZ-Modell, das ich bereits vorgestellt habe, ist ein heuristisches Modell, das hilft, die verschiedenen Phänomene im Kontext von Autismus besser zu verstehen und angemessene Strategien im Umgang mit ihnen zu entwickeln. Es trägt dazu bei, Missverständnisse zu vermeiden und den Umgang mit den verschiedenen Aspekten von Autismus zu verbessern.
Prof. Tebartz van Elst: Im Umgang mit autistischen Menschen ist es wichtig, Missverständnisse zu vermeiden. Autistische Menschen kommunizieren oft sehr direkt. Sie äußern Kritik und Meinungen klar und ohne Umschweife. Wenn z.B. auf die Frage "Wie gefällt dir meine neue Frisur?" die ehrliche Antwort "Nein, sie gefällt mir überhaupt nicht" kommt, kann dies von nicht-autistischen Menschen als unhöflich oder verletzend empfunden werden. Diese Offenheit wird oft missverstanden und führt zu negativen Reaktionen wie "Oh, der ist unverschämt" oder "Der mag mich nicht". Solche Missverständnisse sollten vermieden werden, um unnötige Konflikte und Ausgrenzungen zu vermeiden.
Wichtig ist auch zu wissen, dass man autistische Menschen nicht einfach berühren sollte, um sie zu trösten, wenn sie traurig oder gestresst sind. Während neurotypische Menschen sich oft durch Umarmungen trösten, kann dies für autistische Menschen extrem belastend sein. Wenn ein neurotypischer Mensch versucht, einen gestressten Autisten zu umarmen, kann dieser mit einer Abwehrreaktion wie einer Ohrfeige reagieren. Das liegt daran, dass die Berührung für den Autisten überwältigend ist, auch wenn sie gut gemeint ist. Deshalb ist es wichtig zu akzeptieren, dass gestresste Autisten Ruhe und Rückzug brauchen. Ihre direkte Kommunikation sollte nicht als Kränkung empfunden werden.
Generell ist eine gute Menschenkenntnis hilfreich, um das Verhalten anderer in Stresssituationen besser zu verstehen und angemessen zu reagieren. Dies gilt für alle Menschen, aber im Umgang mit autistischen Menschen ist es besonders wichtig, sich bewusst zu machen, dass ihre Reaktionen und Bedürfnisse anders sind. Zum Beispiel sind Reizüberflutungen für sie sehr belastend. Wenn Sie sich mit einem autistischen Menschen auf einen Kaffee treffen, sollten Sie eine ruhige Umgebung wählen und nicht ein belebtes Café an einer belebten Straße. Es ist wichtig, sich in die Besonderheiten des autistischen Erlebens hineinzuversetzen und entsprechend sensibel und respektvoll damit umzugehen.
Deshalb ist es wichtig zu akzeptieren, dass gestresste Autisten Ruhe und Rückzug brauchen. Ihre direkte Kommunikation sollte nicht als Kränkung empfunden werden.
Prof. Tebartz van Elst: Das autistische Anderssein wird nicht unbedingt als Einschränkung erlebt, unter der autistische Menschen meistens oder oft leiden. Natürlich merken sie, dass sie sich selbst nicht verstehen und dass sie anders sind als andere. Sie wissen, dass sie soziale Kommunikation nicht interpretieren können und sie kennen die daraus resultierenden Konflikte und Missverständnisse. Diese Konflikte und Missverständnisse verursachen oft Leid, insbesondere dann, wenn es zu Ablehnung, Ausgrenzung oder Aggressionen - verbaler oder körperlicher Art - kommt.
Das Anderssein an sich ist jedoch nicht zwangsläufig negativ. Wie bei allen Menschen gibt es Zeiten, in denen man mit sich selbst zufrieden ist, und Zeiten, in denen dies nicht der Fall ist. Vor allem im zweiten Lebensjahrzehnt wird man sich seiner Besonderheiten bewusst - sei es das Aussehen, die psychische Veranlagung, die Schüchternheit, die Fähigkeit, leicht oder schwer zu lernen, die Sportlichkeit oder Unsportlichkeit, die Größe, das Gewicht oder ob man eine Brille braucht oder nicht. Viele Menschen lernen in dieser Zeit, ihre strukturellen Besonderheiten zu erkennen, mehr oder weniger zu akzeptieren und damit zu leben.
Für Menschen, die nicht durchschnittlich strukturiert sind, ist dieser Prozess oft schwieriger als für durchschnittlich strukturierte Menschen. Die Grundproblematik bleibt jedoch die gleiche. Autistische Menschen erleben ihren Alltag nicht unbedingt grundsätzlich anders als andere Menschen, wenn sie auf sich allein gestellt sind. Jeder hat seine eigene Struktur. Autistische Menschen erleben jedoch ihre Nicht-Durchschnittlichkeit. Die damit verbundenen Einschränkungen liegen oft darin, dass sie Reizsituationen, Gruppenkommunikation und Small Talk nicht mögen. Sie fühlen sich in großen, lärmenden Menschenmengen unwohl und bevorzugen die 1:1-Kommunikation. Sie bevorzugen ernsthafte, themenbezogene Gespräche gegenüber oberflächlichen Unterhaltungen und Smalltalk in der Gruppe.
Prof. Tebartz van Elst: Menschen mit Autismus haben oft sehr fokussierte Interessen. Das bedeutet, dass sie sich intensiv mit bestimmten Themen beschäftigen, die sie interessieren. Diese Themen können sich im Laufe des Lebens ändern und wechseln. Wenn ein Thema aktuell ist, beschäftigen sie sich intensiv damit. Das führt manchmal dazu, dass sie in diesen Bereichen besonders begabt sind oder bestimmte Fertigkeiten besonders gut beherrschen. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie eine sogenannte Inselbegabung oder ein Savant-Syndrom haben.
Savant-Syndrome beschreiben extreme Fähigkeiten wie die Fähigkeit, sich ein Bild oder eine Umgebung nach kurzem Betrachten vollständig zu merken oder anhand eines Datums den genauen Wochentag und das Wetter zu nennen. Solche außergewöhnlichen Fähigkeiten sind selten. Einige Menschen, die ich kenne, haben solche Fähigkeiten, und die meisten sind Autisten. Solche Fähigkeiten können auch bei Menschen auftreten, die eine Gehirnverletzung erlitten haben oder die Autismus in Verbindung mit einer entzündlichen Gehirnerkrankung entwickelt haben. Diese Neuorganisation des Gehirns kann erklären, warum diese Menschen manchmal besondere Fähigkeiten entwickeln.
Diese Fähigkeiten können funktional sein, sind es aber oft nicht. Denken Sie an den Film "Rainman", wenn Sie ihn kennen. Rainman hatte außergewöhnliche Fähigkeiten im Bereich des Gedächtnisses und der visuellen Wahrnehmung, was in Richtung Savant-Syndrom geht. Auch bei Rainman war dies mit einer allgemeinen Intelligenzminderung verbunden. So ist es im breiten autistischen Spektrum. Es ist aber nicht so, dass alle Autisten solche außergewöhnlichen Begabungen haben.
Ich kenne auch eine autistische Ärztin, die darunter leidet, dass andere immer denken, sie hätte besondere Begabungen. Einmal wollte ein Arbeitgeber ihre Begabung testen, indem er eine Streichholzschachtel auskippte und fragte, wie viele Streichhölzer drin seien. Das hat sie gekränkt, denn sie hat keine besonderen Begabungen.
Viele Menschen mit Autismus haben außergewöhnliche Begabungen, aber das trifft auch auf viele Menschen ohne Autismus zu. Savant-artige Begabungen sind jedoch selten. Bei autistischen Menschen sind die Begabungsprofile oft sehr heterogen. Nicht-sprechende Autisten werden oft unterschätzt und als allgemein behindert angesehen, obwohl sie in bestimmten Bereichen wie Lesen oder analytischem Denken überdurchschnittlich begabt sein können. Sprechende Autisten, die sprachlich begabt sind, können Schwierigkeiten in anderen Bereichen haben, wie z.B. sich ohne Navigationssystem in einer großen Stadt zurechtzufinden. Das Begabungsprofil autistischer Menschen ist oft sehr heterogen.
Menschen mit Autismus haben oft sehr fokussierte Interessen. Das bedeutet, dass sie sich intensiv mit bestimmten Themen beschäftigen, die sie interessieren.
Prof. Tebartz van Elst: In der Autismusforschung muss zwischen verschiedenen Bereichen unterschieden werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Autismus in vielen Bereichen erforscht wird, von den Ursachen und der Neurobiologie über die Genetik bis hin zu Therapien und Auswirkungen. Obwohl es bisher keine großen pharmakologischen Durchbrüche in Bezug auf die Kernsymptome des Autismus gegeben hat, wird weiterhin intensiv geforscht.
Vielen Dank für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 02.08.2024.