Apraxie: motorische Störungen nach Schlaganfall

Was ist eine Apraxie?

Prof. Binkofski: Apraxie ist eine Störung des motorischen Verhaltens, die nicht auf eine Störung von basalen Funktionen, wie Kraftproduktion, sensorische Wahrnehmung, Ataxie oder eine Störung des Gedächtnisses zurückzuführen ist. Es gibt einige Formen von Apraxien, die wichtigste jedoch ist die Gliedmaßen-Apraxie. Deswegen möchte ich hier diese Form von Apraxie näher beschreiben und sie folglich stellvertretend vorstellen.

Patienten mit Apraxie haben Schwierigkeiten, bestimmte Arten von Bewegungen, wie die Imitation von bedeutungslosen Gesten oder die Imitation von bedeutungsvollen Gesten (per Anhalter fahren, „einen Vogel zeigen“, etc.) oder die Pantomime des Werkzeug- oder Objektgebrauchs (einen Hammer benutzen, mit Messer und Gabel essen, eine Tür öffnen, etc.) durchzuführen. Bei der schwersten Form der Gliedmaßen-Apraxie können die Patienten reale Objekte und Werkzeuge nicht mehr benutzen.

Zum Beispiel können sie nicht mehr mit Messer und Gabel essen oder sich anziehen oder Mahlzeiten zubereiten. Während Patienten mit einer Störung der Imitation oder Pantomime im täglichen Leben weniger auffallen, sind Patienten mit einer Störung des Objektgebrauchs meistens deutlich mehr pflegebedürftig. Apraxien sind häufig mit einer Sprachstörung, der Aphasie, verbunden. Das kommt daher, weil sowohl die Steuerung des motorischen Verhaltens und des Objektgebrauchs, als auch die Steuerung der Sprache in der linken Hirnhälfte stattfindet. Die beiden Störungen können auch unabhängig voneinander auftreten, aber je schwerer die Apraxie, um so höher die Wahrscheinlichkeit einer begleitenden Sprachstörung.

Es gibt einige Formen von Apraxien, die wichtigste jedoch ist die Gliedmaßen-Apraxie.

Gibt es bestimmte Gruppen von Menschen, die häufiger daran erkranken?

Prof. Binkofski: Apraxien entstehen durch eine Hirnschädigung, dabei ist meistens die linke Hirnhälfte betroffen. Bei bestimmten Formen von Apraxien können aber auch die Stammganglien oder der Balken betroffen sein. Die häufigste Ursache von Apraxien sind Schlaganfälle. Ungefähr 30% – 40% der Patienten mit einem Schlaganfall haben auch eine Apraxie. Dabei ist die Häufigkeit von Apraxien bei akuten Schlaganfällen höher, aber dankenswerter Weise bessert sich die Apraxie spontan recht häufig im weiteren Verlauf.

Weitere Ursachen von Apraxien können sein: neurodegenerative Erkrankungen und Demenzen, Hirnverletzungen oder Hirnentzündungen. Mit der steigenden Zahl von Demenzerkrankungen steigt auch die Zahl von Apraxien in dieser Patientengruppe. Bei bestimmten Arten von Demenzen, wie Alzheimer Demenz oder die Kortikobasale Degeneration sind die Apraxien am häufigsten anzutreffen. Deswegen sind Apraxien verwiegend bei älteren Bevölkerungsgruppen anzutreffen, die auch Risikofaktoren für einen Schlaganfall oder eine neurodegenerative Erkrankung oder Demenz haben. Aber natürlich können Apraxien auch bei jüngeren Menschen auftreten.

Woran erkennen Menschen, dass sie an einer Apraxie leiden?

Prof. Binkofski: Wie schon bei der Antwort zur ersten Frage angedeutet, fallen Patienten mit einer Störung der Imitation oder der Pantomime des Objektgebrauchs relativ wenig im täglichen Leben auf. Sehr deutlich werden diese Störungen dann aber in einer Untersuchungssituation, in der die Patienten gebeten werden, bedeutungsvolle oder bedeutungslose Gesten nachzumachen oder die Pantomime des Objektgebrauchs durchzuführen.

Zum Beispiel, wenn ein Patient gebeten wird, den Gebrauch von einem Hammer zu zeigen, dann wird er sich seine Hand anschauen oder die Faust anstelle des Hammers benutzen. Diese Patienten können Schwierigkeiten in der gestischen Kommunikation oder bei der Durchführung von komplexen Handlungen haben. Dagegen haben Patienten mit schwereren Formen der Apraxie, in der der Gebrauch von Objekten und Werkzeugen oder die Durchführung von mehrschrittigen Handlungen betroffen ist, deutliche Schwierigkeiten im Alltag. Deswegen fallen diese Patienten durch ihr fehlerhaftes Verhalten direkt auf. Für alle hier aufgelisteten Domänen des motorische Verhaltens (Imitation, Pantomime, Objekt- und Werkzeuggebrach) stehen erprobte Tests zur Verfügung.

Wie wirkt sich Apraxie auf den Alltag aus?

Prof. Binkofski: Typische Beispiele bei einer ausgeprägten Apraxie können sein, dass der Patient sich das Brot nicht mehr schmieren kann oder mit Messer und Gabel nicht mehr essen kann. Solche Patienten können sich beispielsweise nicht mehr anziehen oder sich waschen. Wenn Patienten mit einer schweren Form von Apraxien gebeten werden, ein Werkzeug, zum Beispiel eine Säge, zu benutzen, dann werden sie mit der Säge Kreisbewegungen durchführen oder die Säge auf ein Stück Holz drücken, aber ohne die Bewegung des Sägens durchzuführen.

Das Gleiche kann passieren, wenn ein Flaschenöffner benutzt werden soll. Ein Apraxie-Patient kann den Flaschenöffner dann auf die Flasche drücken oder andere Ausweichbewegungen durchführen. Das Interessante dabei ist, dass viele Patienten das zu benutzende Werkzeug benennen können und sogar den Zweck des Werkzeugs sagen können. Benutzen können sie diese Werkzeuge dennoch nicht. Patienten mit einer Störung der Imitation oder der Pantomime können Schwierigkeiten haben, sich gestisch zu äußern oder auch Probleme bei komplexeren Handlungen haben.

Typische Beispiele bei einer ausgeprägten Apraxie können sein, dass der Patient sich das Brot nicht mehr schmieren kann oder mit Messer und Gabel nicht mehr essen kann.

Welche verschiedenen Formen und Schweregrade einer Apraxie gibt es?

Prof. Binkofski: Unter den verschiedenen Formen der Apraxien ist die Gliedmaßen-Apraxie die Wichtigste. Wie schon zuvor beschrieben, können bei dieser Form der Apraxie die Imitation von bedeutungsvollen oder bedeutungslosen Gesten oder die Pantomime des Objektgebrauchs oder der Gebrauch von tatsächlichen Objekten und Werkzeugen betroffen sein. Alle diese Störungen können unabhängig voneinander auftreten, aber viel häufiger findet man Kombinationen von diesen Störungen vor.

Patienten mit einer Störung der Imitation von bedeutungslosen Gesten sind am wenigsten betroffen. Bei dem Vorliegen einer Störung der Imitation von bedeutungsvollen Gesten oder der Pantomime ist der Grad der Betroffenheit höher, weil hier bereits das Wissen über die Bewegungsinhalte betroffen ist. Und, wie schon erwähnt, am schwersten sind diejenigen Patienten betroffen, die das Wissen über der Gebrauch von Objekten und Werkzeugen verloren haben. Solche Patienten können dann meistens auch mehrschrittige Handlungen, wie das Kaffeekochen nicht durchführen.

Welches ist die häufigste Form der Apraxie und warum?

Prof. Binkofski: Wie zuvor erwähnt, ist die wichtigste und von daher auch am meisten diagnostizierte Form der Apraxien die Gliedmaßen-Apraxie. Dankenswerter Weise sind die schwersten Formen dieser Apraxie relativ selten. Und Dank der sich ständig bessernden Möglichkeiten der Behandlung von akuten Schlaganfällen werden diese fatalen Formen der Apraxie immer weniger.

Bei diesen schweren Formen ist auch die begleitende Sprachstörung am deutlichsten ausgeprägt. Die leichteren Apraxieformen sind dagegen recht häufig. Wie schon oben ausgeführt, tritt eine Apraxie in akuten Phasen eines Schlaganfalls sehr häufig auf und bessert sich dann spontan im weiteren Verlauf. Bei neurodegenerativen Ursachen von Apraxien ist die Dynamik der Störung umgekehrt. Mit einer wachsenden Ausprägung einer Demenz nimmt die Apraxie auch zu. Deswegen ist anzunehmen, dass diese Ursachen der Apraxie in der Zukunft immer häufiger werden.

Was sind mögliche Ursachen für eine Apraxie?

Prof. Binkofski: Eine Gliedmaßen-Apraxie tritt nach einer Schädigung der linken Hirnhälfte, der Stammganglien oder des Balkens auf. Die Ursachen einer solchen Schädigung kann ein ischämischer Schlaganfall, eine Hirnblutung, ein Hirntrauma, eine Entzündung oder eine neurodegenerative Erkrankung, wie Demenz oder die Parkinsonkrankheit, sein.

Welchen Facharzt sucht man bei auftretenden Symptomen auf und wie erfolgt dann durch ihn die Diagnose?

Prof. Binkofski: Meistens treten Apraxien als Begleitsyndrom einer Hirnschädigung auf - sei es ein Schlaganfall, eine Hirnentzündung, eine Hirnverletzung oder eine neurodegenerative Erkrankung. Apraxie kann aber auch als erstes Symptom eines Schlaganfalls auftreten. In einem solchen Fall sollte der Notarzt gerufen werden und der Patient sollte dann schnellstmöglich zu einer Stroke Unit gebracht werden - also eine Spezialabteilung für Schlaganfälle.

Apraktische Symptome können auch am Anfang einer neurodegenerativen Erkrankung auftreten. Es gibt sogar eine seltene Erkrankung, die Primär Progrediente Apraxie, die sich mit zunehmenden apraktischen Symptomen manifestiert. Im weiteren Verlauf endet diese Erkrankung in einer Demenz. Übrigens: im Bereich der Sprache gibt es ein Pendant, die Primär Progressive Aphasie, die ebenfalls mit einer Demenz endet. In solchen Fällen kann man einen Psychiater, einen Neurologen oder einen klinischen Psychologen konsultieren.

Apraxie kann aber auch als erstes Symptom eines Schlaganfalls auftreten.

Wie kann eine Apraxie behandelt werden und ist sie heilbar?

Prof. Binkofski: Im Falle eines akuten Schlaganfalls kommt es häufig durch den Rückgang des Ödems oder durch akute Reorganisation zu spontanen Besserungen von apraktischen Symptomen. Auch durch effektive Behandlung einer Hirnentzündung kann eine Apraxie rückgängig gemacht werden.

Ist die Apraxie jedoch Folge einer dauerhaften Hirnschädigung, sei es durch eine Gewebsschädigung nach einem Schlaganfall oder Hirnverletzung oder Neurodegeneration, dann kann man sie nicht heilen. Es gilt dann, durch physiotherapeutische, ergotherapeutische oder neuropsychologische Therapien die Symptome zu mildern und die Teilhabe des Patienten zu steigern.

Wie kann man Menschen mit einer Apraxie in ihrem Alltag unterstützen?

Prof. Binkofski: Ein Patient mit einer schweren dauerhaften Apraxie braucht viel Unterstützung. In einem solchen Fall gilt es, durch gezielte Therapien Strategien zu entwickeln, die eine bestmögliche Teilhabe ermöglichen. Ein Problem bei der Therapie von Patienten mit einer schweren Apraxie ist, dass Fähigkeiten, die in einer bestimmten Therapiesituation wieder erlernt worden sind, häufig auf andere Situationen nicht übertragbar (generalisierbar) sind.

Zum Beispiel hat ein Patient das Essen mit Messer und Gabel an einem bestimmten Tisch mit einem bestimmten Teller und Besteck in der Ergotherapie wieder erlernt, dies kann er dann zu Hause an einem anderen Tisch mit einem anderen Besteck nicht mehr. Es ist von daher von größter Wichtigkeit, dass eine solche Therapie möglichst alltagsnah und unter Einbeziehung von Angehörigen und Betreuern stattfindet. Hinzu kommt, dass wenn eine begleitende Sprachstörung (Aphasie) vorliegt, die Kommunikation mit dem Patienten eine weitere Herausförderung sein kann. Bei leichteren Formen von Apraxien können therapeutische Interventionen, wie ein Gestentraining, mitunter nützlich sein.

Was hat sich in den letzten Jahren bei der Behandlung der Apraxie verändert?

Prof. Binkofski: Meiner Meinung nach ist die größte Entwicklung der letzten Jahre die immer besser und effektiver werdende Behandlung von akuten Schlaganfällen. Durch die Einrichtung von den sogenannten Stroke Units und durch die steigenden Fähigkeiten der interventionellen Neuroradiologen, kommt es immer seltener zu folgenschweren und ausgeprägten Hirnschädigungen beim akuten Schlaganfall. Folglich nimmt diese Ursache von schweren Apraxien kontinuierlich ab.

Eine gegenseitige Entwicklung findet im Bereich von neurodegenerativen Erkrankungen und Demenzen statt. Mit der immer älter werdenden Bevölkerung nimmt die Häufigkeit dieser Erkrankungen zu und damit auch die Anzahl der begleitenden Apraxien. Auch hier zeichnen sich erste ursächliche Behandlungsansätze ab. Die wichtigste Erkenntnis der letzten Jahre in Bezug auf die Behandlung der Symptome der Apraxie selbst ist, dass man überhaupt behandelt. Denn Apraxie wirkt sich negativ auf den Verlauf der Erholung nach einem Schlaganfall aus.

Am meistens bewährt haben sich Behandlungsansätze, die möglichst alltagsnahe Fähigkeiten und Kommunikationshilfen einüben. Diese Art von kompensatorischer Therapie glingt am besten, wenn ein Therapeut die Fehler des Patienten möglichst zeitnah korrigiert. Wegen häufig fehlender Generalisierung der gelernten Fähigkeiten sollten Angehörige und Pflegenden in die Therapie einbezogen werden. Therapieansätze, die auf eine Wiederherstellung der verlorenen Fähigkeiten abzielen, haben bisher keine überzeugenden Wirkung gezeigt.

Durch die Einrichtung von den sogenannten Stroke Units und durch die steigenden Fähigkeiten der interventionellen Neuroradiologen, kommt es immer seltener zu folgenschweren und ausgeprägten Hirnschädigungen beim akuten Schlaganfall.

Woran wird gerade in diesem Gebiet geforscht?

Prof. Binkofski: Ein sehr aktives Forschungsfeld in diesem Bereich ist die Entschlüsselung der funktionellen anatomischen Grundlagen von Apraxien. Da das Gehirn in Netzwerken organisiert ist, zielt die Forschung auf die Identifizierung der für die Apraxie wichtigen Netzwerke ab. Hier wurden in den letzten Jahren deutliche Fortschritte erzielt.

Da digitale Werkzeuge, wie Smartphones und Computer, immer wichtigere Rolle in unserem Leben spielen, werden die Grundlagen deren Verankerung im Gehirn vermehrt untersucht. Auch die Störungen der Benutzung von digitalen Werkzeugen bei Patienten mit Apraxie werden untersucht. Im Bereich der Therapie von Apraxien wird der Einsatz von nicht-invasiven Hirnstimulationstechniken (transkranielle Magnetstimulation, transkranielle Gleichstromstimulation) erprobt. Die ersten Ergebnisse sind ermutigend.

Danke für das Interview!