Prof. Leichsenring: Die soziale Angststörung oder soziale Phobie ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Angst vor sozialen Situationen, in denen die Person von anderen Personen beurteilt werden könnte. Dies gilt zum Beispiel für soziale Interaktionen (z.B. Gespräche mit anderen, Treffen mit unbekannten Personen), beobachtet zu werden (zum Beispiel beim Essen oder Trinken) und vor anderen Leistungen zu erbringen (zum Beispiel einen Vortrag halten).
Bei Kindern muss die Angst gegenüber Gleichaltrigen und nicht nur in der Interaktion mit Erwachsenen auftreten, damit die Diagnose gestellt werden kann. Betroffene befürchten, dass sie sich in einer Weise verhalten könnten oder Symptome der Angst offenbaren, die von anderen negativ bewertet werden (d.h. die beschämend oder peinlich sind, zu Zurückweisung führen oder die andere Personen kränken).
Die sozialen Situationen rufen fast immer eine Furcht oder Angstreaktion hervor. Bei Kindern kann sich die Furcht oder Angst durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren, Anklammern, Zurückweichen oder die Unfähigkeit in sozialen Situation zu sprechen ausdrücken. Die sozialen Situationen werden vermieden oder unter intensiver Angst ertragen. Die Angst geht über das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung durch die soziale Situation hinaus und ist im soziokulturellen Kontext unverhältnismäßig.
Die Angst oder Vermeidung ist andauernd, typischerweise über sechs Monate oder länger. Die Angst oder Vermeidung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Wenn die soziale Angststörung ausschließlich auf das Sprechen vor anderen beziehungsweise auf das Erbringen von Leistungen vor anderen beschränkt ist, wird die Diagnose ergänzt durch den Zusatz: „nur in Leistungssituationen“.
Die sozialen Situationen rufen fast immer eine Furcht oder Angstreaktion hervor.
Prof. Leichsenring: Wie oben beschrieben, verursachen die Angst oder Vermeidung in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Dass jemand nicht gerne telefoniert, deutet noch nicht zwangsläufig auf eine soziale Angststörung hin. Es wäre zu prüfen, warum jemand nicht gerne telefoniert und ob soziale Angst auch in anderen Situationen auftritt.
Prof. Leichsenring: Sie vermeiden Situationen, in denen sie von anderen bewertet werden könnten. In Schule, Studium und Beruf kann dies zu erheblichen Nachteilen führen. Aber auch im privaten Bereich kann die soziale Angst sich schwerwiegend auswirken.
Prof. Leichsenring: Menschen mit sozialer Phobie haben einen hohen Leidensdruck. Manche halten ihre Angst aber für Schüchternheit und sehen sie nicht als ein klinisch relevantes Problem.
Prof. Leichsenring: Wie bei den meisten psychischen Erkrankungen geht man heute von einer Wechselwirkung von genetischen, neurobiologischen und Umwelterfahrungen aus. Letztere betreffen in der Regel Situationen, in denen die Betroffenen wiederholt beschämt oder gedemütigt worden sind (z.B. „Du Versager…, „Du hässlicher Vogel“).
Prof. Leichsenring: Da gibt es keinen Unterschied, da es nur eine andere Bezeichnung ist.
Prof. Leichsenring: Die Behandlung der Wahl ist eine Psychotherapie. Eine Pharmakotherapie führt in der Regel nicht zu einer dauerhaften Besserung. In Ausnahmefällen z.B. vor einer Prüfung, einem Vortrag oder einem Auftritt kann es einmal sinnvoll sein, die Angst medikamentös zu reduzieren (z.B. durch Beta-Blocker oder Benzodiazepine), um ein wichtiges Ereignis erfolgreich zu bestehen. Das ist aber keine Lösung auf Dauer.
Die Behandlung der Wahl ist eine Psychotherapie.
Prof. Leichsenring: Eine klinisch diagnostizierte soziale Phobie kann kaum alleine überwunden werden. Wichtig für Betroffene ist es, sich frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen.
Prof. Leichsenring: Heilung („Remission“) kann in einem bestimmten Prozentsatz der Betroffenen erreicht werden. Dies ist jedoch leider nicht bei allen Betroffenen möglich. Bei vielen Patienten kann jedoch eine deutliche Besserung erreicht werden.
Prof. Leichsenring: Hier sind zum einen die anderen Angststörungen zu nennen, wie Panikstörung (plötzliche Angstanfälle) oder generalisierte Angststörung (sich ständig Sorgen machen), aber auch zum anderen depressive Störungen und auch Substanz-Missbrauch, wenn z.B. gegen die Ängste „angetrunken“ wird.
Prof. Leichsenring: Es sind spezifische psychotherapeutische Verfahren entwickelt worden, die genau auf die soziale Angststörung zugeschnitten sind. Hier gibt es psychodynamische und verhaltenstherapeutische Verfahren, deren Wirksamkeit belegt ist. Die psychodynamische Therapie konzentriert sich auf den Konflikt, der der sozialen Angststörung zu zugrunde liegt. Viele Betroffene wünschen sich unbewusst, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie fürchten aber, von anderen abgewertet zu werden. Deshalb haben sie Angst vor soziale Situationen und meiden diese.
Dieser Konflikt wird mit den Betroffenen herausgearbeitet und in verschiedenen Situationen durchgearbeitet (z.B. Vortrag halten, Partys, Kontaktaufnahmen). Die kognitive Verhaltenstherapie setzt den Schwerpunkt auf die Exposition, das heißt darauf, in die gefürchteten Situationen gestuft hineinzugehen und neue Erfahrungen zu machen. Weiterhin wird ein Video-Feedback und Rollenspiele verwendet und die Betroffenen werden angeleitet, z.B. bei Vorträgen die Aufmerksamkeit nicht auf sich (z.B. „Wie wirke ich?“) sondern auf die Zuhörer zu richten.
Außerdem wird an Denkmustern gearbeitet, die mit der sozialen Angst zusammenhängen. Eine zentrale Rolle nimmt auch die Bearbeitung des Vermeidungsverhaltens ein.
Es sind spezifische psychotherapeutische Verfahren entwickelt worden, die genau auf die soziale Angststörung zugeschnitten sind.
Prof. Leichsenring: Wir wissen, dass die verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren wirksam sind. Es ist aber unbekannt, ob es Menschen gibt, die mehr von der einen oder der anderen Vorgehensweise profitieren. Hier ist weitere Forschung erforderlich. Es ist deshalb äußerst wichtig, dass es eine Vielfalt evidenz-basierter Verfahren gibt. Wer von einem Verfahren nicht ausreichend profitiert, für den kann ein anderes hilfreich sein. Eine psychotherapeutische Monokultur mit einer Einheitstherapie für alle kann daher nicht im Sinne der Betroffenen sein.
Vielen Dank für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 02.07.2024.