Prof. Kellner: Agoraphobie ist eine Angsterkrankung. Wörtlich aus dem griechischen übersetzt bedeutet Agoraphobie „Furcht vor dem Marktplatz“. Agoraphobische Ängste treten sowohl bei dem zu vollen als auch bei dem zu leeren Markplatz auf. Im ersten Fall befürchten die Patienten, nicht aus der Situation flüchten zu können. Im zweiten Fall steht die Angst im Vordergrund, nicht schnell genug Hilfe zu bekommen.
Angstzeichen wie z. B. Herzklopfen, Atembeschwerden, Kontrollverlustängste, teils auch vollständige Panikattacken, treten bei Patienten in agoraphoben Situationen, wie z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, Menschenansammlungen, Fahrstühlen, geschlossenen Räumen, an Kassenschlangen, etc., aber teils auch beim allein zu Hause sein, bzw. allein weit weg von zu Hause sein auf. Betroffene vermeiden aus Angst oft solche Situationen oder trauen sich ohne Begleitung nicht mehr dorthin.
Prof. Kellner: Dies ist im Einzelfall meist nicht genau zu klären. Bei der Agoraphobie besteht oft eine genetisch bedingte erhöhte Verwundbarkeit. Oft haben Familienangehörige auch eine Angststörung oder Depression. Manchmal sind traumatisierende Lebensereignisse vorangegangen, wie Todesfälle oder andere Trennungen. Und manchmal führt der Zufall dazu, nach einer Unpässlichkeit den Körper vermehrt zu beobachten und in agoraphoben Situationen eine Wiederholung zu befürchten.
Bei der Agoraphobie besteht oft eine genetisch bedingte erhöhte Verwundbarkeit.
Prof. Kellner: Etwa 4% der Menschen leiden im Laufe ihres Lebens an einer Agoraphobie, Frauen fast dreimal so häufig wie Männer. Meist beginnt die Störung im jungen Erwachsenenalter.
Prof. Kellner: Agoraphobe Menschen fühlen sich durch die Ängste sehr beeinträchtigt, sind weniger im öffentlichen Raum beweglich und haben Schwierigkeiten, andere Menschen außerhäusig zu treffen. Oft brauchen sie wegen ihrer Vermeidungsstrategien länger, um ein Ziel im Straßenverkehr zu erreichen. Und sie werden teils von Begleitpersonen abhängig, die sie vermeintlich benötigen. Unbehandelt können sich Depressionen, weitere Angststörungen und Suchtleiden zusätzlich entwickeln, welche die Lebensqualität noch weiter reduzieren.
Prof. Kellner: Eine verhaltenstherapeutische Psychotherapie ist anerkannt wirksam und hat die besten Erfolgsaussichten. Hier wird die Angst nach einer individuellen Verhaltens- und Bedingungsanalyse wieder schrittweise verlernt. Dies geschieht sowohl über gedankliche Neubewertungen und insbesondere durch viele zuvor gut geplante Übungen in zuvor gemiedenen Angstsituationen (sogenanntes Expositionstraining). Bei einer zusätzlichen Panikstörung oder einer schwereren begleitenden Depression kann auch eine flankierende Behandlung mit einem geeigneten Antidepressivum sinnvoll sein. In Einzelfällen ist eine tiefenpsychologische, auf die Angst fokussierte Behandlung zu erwägen. Ein komplementärer Besuch in einer Angstselbsthilfe sowie Sport helfen zusätzlich vielen Betroffenen mit Agoraphobie.
Eine verhaltenstherapeutische Psychotherapie ist anerkannt wirksam und hat die besten Erfolgsaussichten.
Prof. Kellner: Die überwiegende Mehrzahl der engagierten Betroffenen profitiert von einer ambulanten Verhaltenstherapie bereits nach kurzem Therapieverlauf. Deutlich weniger Ängste und minimiertes Vermeidungsverhalten sind ein realistisches Ziel. Teils kann die Symptomatik auch völlig verschwinden. Allerdings bleibt die alte agoraphobische Gedächtnisspur im Gehirn erhalten, sodass die Erkrankung im Verlauf wieder an die Tür klopfen könnte. Falls die in einem Rückfallszenario zuvor erlernte Selbsttherapie dann nicht klappen sollte, ist die schnelle Therapiewiederaufnahme zu empfehlen, die aber meist nur kurzdauernd nötig wird.
Teils kann die Symptomatik auch völlig verschwinden.
Prof. Kellner: Zunächst ist es wichtig, über die Erkrankung viel zu lernen, was wir „Psychoedukation“ nennen. Dafür sind Selbsthilfebücher, aber auch manche Internet-Angebote geeignet. In Selbsthilfeorganisationen, wie der Deutschen Angsthilfe e.V., informieren Betroffene über Wesen und Therapiemöglichkeiten der Erkrankung. Sind Angehörige in die Angsterkrankung verstrickt, sollten diese auch wissen, welches Verhalten therapeutisch sinnvoll ist. Alles weitere sollte zunächst mit einem geeigneten Therapeuten abgestimmt werden.
Zunächst ist es wichtig, über die Erkrankung viel zu lernen, was wir „Psychoedukation“ nennen.
Prof. Kellner: Inzwischen sind viele kompetente psychologische und ärztliche verhaltenstherapeutische Psychotherapeuten niedergelassen. Die aktuell etablierten Therapieverfahren sind in Leitlinien zusammengefasst und es gibt auch eine für Patienten im Netz einsehbare hilfreiche Fassung.
Prof. Kellner: Einerseits laufen zahlreiche Studien, mit Hilfe von virtuellen Realitäten Expositionssituationen in den Therapieraum zu holen, die erste erfolgversprechende Resultate ergaben. Andererseits wird mit zusätzlicher Gabe von Lernprozesse unterstützenden Substanzen versucht, die positiven Effekte von Expositionen noch besser und dauerhafter im Gedächtnis zu fixieren. Hier darf man gespannt sein, welche neuartigen Strategien in der Zukunft die Behandlungspraxis bereichern werden.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 13.02.2024.