Prof. Weigang: Das Problem bei Aneurysmen ist, dass sie meistens asymptomatisch bleiben. Das heißt, die Patienten verspüren in der Regel keine Schmerzen oder haben selten Beschwerden. Manchmal bemerken die Patienten eine pulsierende Masse, die sich im Bauchraum tasten lässt. Es gibt aber auch Patienten, die über Rückenbeschwerden klagen. Wenn man sich das anatomisch anschaut, dann verläuft die Hauptschlagader ganz nah an der Wirbelsäule. An der Wirbelsäule gibt es Nerven, die dort austreten. Wenn sich die Hauptschlagader vergrößert kann das Aneurysma auf diese Nerven drücken und Rückenschmerzen verursachen. Die meisten Patienten würden bei einem Aneurysma annehmen, dass sie Bauchschmerzen bekommen. Das ist jedoch nicht der Fall. Am Bauch würden die Patienten, wenn überhaupt, eine pulsierende Aussackung bemerken. Schmerzen treten, wenn überhaupt, eher als Rückenschmerzen auf.
Das Problem bei Aneurysmen ist, dass sie meistens asymptomatisch bleiben.
Prof. Weigang: Das ist richtig. Männer ab 65 Jahren haben aber ein Anrecht sich mittels Ultraschall einmal vom Hausarzt oder niedergelassenen Facharzt im Rahmen einer Voruntersuchung untersuchen zu lassen. Bei Frauen ist diese Untersuchung auch sinnvoll. Die Kosten für diese Untersuchung werden im Moment für Frauen leider noch nicht von der Krankenkasse übernommen. Viele Hausärzte oder auch Fachärzte führen diese Ultraschalluntersuchung bereits durch. Mit dem Ultraschall kann man relativ einfach feststellen, ob die Hauptschlagader im Bauchraum erweitert ist. So kommen viele Patienten mit der Zufallsdiagnose zum Beispiel vom Urologen, Gynäkologen, Kardiologen oder auch vom Hausarzt zu uns in die Gefäßspezialklinik zur weiteren Abklärung eines Bauchaortenaneurysmas.
Prof. Weigang: Über 85% der Aneurysmen entstehen durch eine generalisierte
Arteriosklerose, die wiederum durch die kardiovaskuläre Risikofaktoren wie erhöhte Blutfette, Blutzucker und Blutdruck bedingt ist. Auch eine familiäre Veranlagung kann dazu beitragen, ebenso wie das Rauchen, also der Nikotinabusus. Die Risikofaktoren verändern mit der Zeit die Gefäßwand. Im Laufe der Jahre lagert die Gefäßwand diese Stoffe ein und verändert sich mit der Zeit. Sie wird weniger elastisch. Kalk und Fett lagern sich in die Gefäßwand ein. Dadurch verändert sich nach und nach die Struktur der Gefäßwand, sie gibt dem Blutdruck nach und wölbt sich vor. Ab einem bestimmten Durchmesser kann dies kritisch werden und im schlimmsten Fall zu einem Riss (Ruptur) führen, bei der die Hauptschlagader platzt und der Patient daran verstirbt.
Prof. Weigang: Das ist definitiv der Fall! Patienten, die diese kardiovaskulären
Risikofaktoren gar nicht erst haben oder sie frühzeitig ausschalten, senken ihr
kardiovaskuläres Risiko, an einer solchen Erkrankung wie einem Bauchaortenaneurysma zu sterben. Sie senken aber auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden. Denn die gleichen Risikofaktoren sind auch für die Entstehung der koronaren Herzkrankheit verantwortlich, die zu einem Herzinfarkt führen können.
Prof. Weigang: Aus entsprechenden statistischen Erhebungen ist bekannt, dass Aneurysmen mit einem Durchmesser von etwa 5 bis 5,5 cm zu platzen drohen. Die Wand wird dann so dünn, dass die Patienten ein deutlich erhöhtes Risiko haben, dass das Aneurysma platzt. Es gibt aber auch Aneurysmen, die nicht klassisch kugelförmig sind, sondern sich nur in eine Richtung ausdehnen. Diese Aneurysmen sollten schon eher operiert werden, da sie ein höheres Rupturrisiko haben. Ab einem Durchmesser von 5 bis 5,5 cm sollten Aneurysmen operiert werden. Es spielt aber auch eine Rolle, ob die Erkrankung einen großen Herrn mit 120 kg betrifft oder eine kleine zierliche Frau mit 45 kg. Das muss man in Relation zur Aneurysmagröße setzen.
Ab einem Durchmesser von 5 bis 5,5 cm sollten Aneurysmen operiert werden.
Prof. Weigang: Aortenaneurysmen treten am häufigsten im Bauchraum unterhalb der Nierenarterien auf. Die zweithäufigste Stelle ist die aufsteigende Aorta nach dem Herzen und der Herzklappe betroffen. Weitere Aneurysmen können im Bereich des Aortenbogens oder in der absteigenden Hauptschlagader im Bereich des Brustkorbs auftreten. Häufig sind auch Aneurysmen der Beckenschlagader oder der Kniearterie. Aneurysmen der Kniearterie haben ein geringeres Rupturrisiko und führen daher seltener zum Tod des Patienten.
Prof. Weigang: Das kann man so nicht sagen. Man kann nicht sagen, dass Aneurysmen an einer bestimmten Lokalisation gefährlicher sind als an anderer Stelle. Aneurysmen sind ab einer bestimmten Größe und ab einer bestimmten Konfiguration alle gleich gefährlich. Es gibt aber weitere Faktoren, die das Risiko einer Ruptur erhöhen, z.B. ob der Blutdruck bei einem Patienten eingestellt werden kann oder nicht oder ob es schon Anzeichen einer Penetration im Aneurysma gibt. Im CT (Computertomographie) sieht man, ob sich ein Wanddurchbruch abzeichnet. Gefährlich sind Aneurysmen in jeder Lokalisation.
Prof. Weigang: Wenn Patienten mit Verdacht auf ein Aneurysma zu uns kommen, wird zunächst erneut eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt, um den Verdacht zu bestätigen. Bestätigt sich das Aneurysma im Ultraschall, wird als weitere Diagnostik eine CT-Angiographie oder eine Kernspintomographie durchgeführt. Diese Bildgebung wird dann mit dem Patienten besprochen und im Falle einer OP-Indikation für die weitere Operationsplanung benötigt.
Prof. Weigang: Grundsätzlich gibt es mehrere Behandlungsmöglichkeiten in Abhängigkeit vom Befund und den individuellen Gegebenheiten des Patienten. Wenn die Aneurysmen noch klein sind, d.h. unter 5-5,5 cm - werden die Patienten weiter
beobachtet. In Zusammenarbeit mit dem Hausarzt wird versucht, die kardiovaskulären Risikofaktoren auszuschalten. Der Blutdruck wird eingestellt und die anderen Risikofaktoren mitbehandelt. In regelmäßigen Abständen wird eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Dabei wird darauf geachtet, ob die Aneurysmen weiter wachsen oder ob die Aneurysmen „stabil“ sind. Wenn die Aneurysmen klein und „stabil“ sind, können die Patienten weiter konservativ behandelt werden und brauchen vorerst keine Operation.
Patienten mit Aneurysmen über 5-5,5 cm Durchmesser sollten operiert werden. Hierbei gibt es zwei verschiedene Behandlungsmethoden. Der offene chirurgische Ersatz der Hauptschlagader. Wenn es sich um ein Aneurysma der Bauchschlagader handelt, muss der Bauchraum hierfür geöffnet werden. Das Aneurysma wird mit Gefäßklemmen abgeklemmt, dann geöffnet, ausgeschält und eine Kunststoffprothese an die Stelle des Aneurysmas eingenäht. Der Nachteil ist, dass es sich um eine große offene Bauchoperation handelt und der Patient einige Zeit braucht, um sich davon zu erholen. Zwei bis drei Tage sind die Patienten bei uns auf der Intensivstation zur Überwachung und dann etwa zehn Tage auf der Normalstation, von wo aus sie in die
Rehabilitation gehen. Es dauert schon eine Weile, bis sie sich von dem großen Eingriff erholt haben.
Ein großer Vorteil ist, dass diese Art der Operation seit über 50 Jahren durchgeführt
wird und hoch standardisiert ist. Weitere Nachoperationen (Revisionsoperationen) oder engmaschige Kontrollen sind kaum notwendig, da die Langzeitergebnisse einer solchen Operation sehr gut sind. Die Aneurysmen betreffen meist Männer im Alter von 70-80 Jahren. Frauen sind seltener betroffen als Männer. Diese invasive Chirurgie ist mit einem gewissen Risiko verbunden, da diese Patienten nicht nur an der Hauptschlagader erkrankt sind, sondern auch Herz-, Nieren- oder Lungenerkrankungen haben. Sie bringen also für einen derart großen chirurgischen Eingriff ein individuelles Risiko mit.
Wir sind sehr froh, dass in den 90er Jahren Aorten-Stentgrafts entwickelt wurden, die in vielen Ländern von vielen Unternehmen weiterentwickelt wurden. Es gibt sehr gute Produkte auf dem Markt, auf die wir hier im Gefäß- und Aortenzentrum Zugriff haben. Wir wählen dann individuell für den einzelnen Patienten die beste Firma aus, mit der wir die Stentgraftplanung durchführen. Das wird je nach Anatomie und Pathologie für jeden Patienten individuell gemacht.
Die Stentgrafts können mittlerweile minimalinvasiv ohne chirurgischen Zugang über eine Punktion in der Leiste implantiert werden, wie man es zum Beispiel von einem Herzkatheter kennt. Dies ist sogar unter örtlicher Betäubung möglich. Gerade für ältere Patienten mit Begleiterkrankungen bietet dies viele Vorteile. Es ist ein deutlich schonenderer Eingriff als die offene Operation mit Ersatz der Hauptschlagader.
Die Stentgrafts können mittlerweile minimalinvasiv ohne chirurgischen Zugang über eine Punktion in der Leiste implantiert werden...
Prof. Weigang: Viele Patienten kommen schon mit der Erwartung zu uns, dass sie
minimalinvasiv mit einer Stentgraft-Implantation operiert werden wollen. Wir schauen uns alle Fälle genau an und prüfen, ob das für den Patienten die sinnvollste Variante ist. Das hängt auch von den individuellen anatomischen Verhältnissen ab. Es gibt Situationen, in denen es nicht sinnvoll ist, eine Stentgraft zu implantieren. Wenn das zu erwartende Ergebnis nicht gut genug ist können wir dem Patienten diese Operationsvariante nicht guten Gewissens empfehlen. Diese Patienten werden dann ausführlich über einen offen-chirurgischen Ersatz der Hauptschlagader aufgeklärt.
In den großen internationalen Studien sind die Überlebenskurven beider Operationsverfahren über 10 Jahre identisch. Es sind zwei unterschiedliche Therapieverfahren, die zu Recht miteinander konkurrieren. Man muss individuell abwägen, welche Therapie bei einem Patienten die sinnvollere ist. Es gibt Patienten, bei denen ein Stentgraft nicht sinnvoll implantiert werden kann, das sind unter anderem die Patienten, die wir dann offen chirurgisch versorgen.
Prof. Weigang: Das ist richtig. Da wir die Patienten über eine Punktion operieren, können sie am nächsten Tag nach einer Ultraschalluntersuchung schon wieder aufstehen und nach 3 bis maximal 4 Tagen bereits nach Hause gehen. Sie benötigen keine Reha oder eine längere Genesungsphase, was für die betagteren Patienten ein echter Segen ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch junge Patienten, z.B. 50-Jährige, die ebenfalls Aneurysmen entwickeln können. Viele von diesen Patienten wünschen eine definitive Versorgung, ohne häufige Nachkontrollen. Diesen Patienten bieten wir auch die offene Operation neben der minimal invasiven Stentgraft-Implantation an. Eine sorgsame Abwägung der Vor- und Nachteile beider OP-Techniken ist hierfür bei jedem Patienten notwendig.
Prof. Weigang: Bei minimalinvasiven Operationen sind die Nachkontrollen standardisiert und notwendig. Das heißt, diese Patienten erhalten nach drei Monaten den ersten Termin zur Nachkontrolle mittels CT-Angiographie. In Abhängigkeit vom Ergebnis dieser Untersuchung würde die nächste Untersuchung mit Ultraschall oder mittels CT-Kontrolle in einem weiteren ½ Jahr erfolgen.
Prof. Weigang: Stentgrafts können mit den Jahren die eine oder andere Undichtigkeit aufweisen, die rechtzeitig erfasst werden müssen. Sollten Probleme mit den Stentgrafts auftreten, kann man diese heute fast alle minimalinvasiv korrigieren. Das heißt, wenn es irgendwo eine Undichtigkeit gibt, müsste man das angiographisch nochmal darstellen, gegebenenfalls eine Nachdilatation, mit einem Ballonkatheter durchführen oder nochmal einen Stentgraft in den alten Stentgraft einlegen.
Prof. Weigang: Das ist richtig. Diese häufigen Nachkontrollen sind bei einem offenen Bauchaortenersatz nicht notwendig. Wir bestellen die Patienten nach der Operation zu einer Wundkontrolle und zu einer Ultraschalluntersuchung ein. Wenn hierbei keine Auffälligkeiten vorliegen, ist es ausreichend wenn diese Patienten erst Jahre später zur nächsten Kontrolle kommen.
Prof. Weigang: Wir versuchen Patienten mit kleineren Aneurysmen erst mal zu beruhigen und versuchen, ihnen die Angst zu nehmen. Es handelt sich hierbei meist um einen Zufallsbefund, der zum Zeitpunkt der Diagnose noch keine Relevanz hat. Es ist aber gut die Diagnose frühzeitig zu kennen um möglichst ein schnelles Wachstum des Aneurysmas zu verhindern. Hierfür ist es wichtig, die kardiovaskulären Risikofaktoren zu beseitigen. Die Belastung der kranken Aorta durch einen zu hohen Bluthochdruck gilt es zu reduzieren, etwa durch das Vermeiden schwerer körperlicher Belastungen und durch eine medikamentösen Blutdruckbehandlung. Die Patienten erhalten Hinweise, wie sie ihr Risiko eines Aneurysmenwachstums oder einer Ruptur durch ihr Verhalten weiter senken können.
Wir sind keine Psychologen, aber wir versuchen, diese Patienten an die Hand zu nehmen, versuchen ihnen die Ängste zu nehmen und binden sie eng an uns oder den Hausarzt und führen hierbei regelmäßige Ultraschallkontrollen durch. Sobald eine Dynamik des Befundes (z.B. Größenzunahme) eintritt, muss man handeln. Selbst wenn das Aneurysma noch unter 5 cm groß ist, aber innerhalb eines halben Jahres um
einen halben Zentimeter wächst oder innerhalb eines Jahres um 1 cm wächst, ist eine OP-Indikation gegeben. Schnell wachsende Aneurysmen haben statistisch gesehen eine höhere Gefahr zu platzen. Solche Patienten sollte man leitliniengerecht früher operieren.
Prof. Weigang: Es wird in allen möglichen Richtungen geforscht. Stichwort: resorbierbares Material! Wir wissen, wenn eine Stentgraft-Implantation erfolgreich war, dann wachsen die Aneurysmen nicht mehr, weil der Stentgraft die Hauptschlagader von innen schient. Entweder wachsen die Aneurysmen nicht mehr, dann ist das schon ein Therapieerfolg oder sie schrumpfen sogar. Wenn man das über Jahre hinweg beobachtet und das Aneurysma immer weiter schrumpft, dann sieht man zum Schluss nur noch den Stentgraft und die natürliche Hauptschlagader, das Aneurysma selbst ist dann nicht mehr sichtbar.
Es wäre schön, wenn sich in diesem Fall auch das Fremdmaterial über die Zeit auflösen würde. Denn das Fremdmaterial, in diesem Fall der Stentgraft, wird dann nicht mehr benötigt. Resorbierbares Stentgraftmaterial wäre also großartig. Die nicht individualisierte OP-Indikation von 5-5,5cm Aneurysmadurchmesser muss dringend überarbeitet werden. Besser wäre ein Risikoscore! In diesen müssten eingehen: die
Aneurysma-Konfiguration, die Wanddicke und die Wandbeschaffenheit des Aneurysmas. Darüber hinaus wären die individuellen Faktoren wie Körpergröße, Körpergewicht und Körperoberfläche relevant. Mit einem Risikoscore könnte der Arzt besser beurteilen, ob ein Aneurysma zu platzen droht oder nicht. Das ist eine der Hauptfragen, die die Patienten in der Sprechstunde stellen. Viele wollen wissen, ob sie jetzt operiert werden müssen oder ob man noch abwarten kann. Wir können ihnen dann nur mit statistischen Werten diese Frage beantworten, weil es noch keine bessere Möglichkeit der individuellen Risikoeinschätzung gibt. Mit einem Risikoscore für Aneurysmen hätten wir die Möglichkeit, individuelle Entscheidungen besser zu treffen.
Ein weiteres Forschungsthema sind die genetische Untersuchungen. Wir wissen, dass einige genetische Erkrankungen Aneurysmen begünstigen. Es wird aktuell daran geforscht herauszufinden, wie man diese Patienten früher identifizieren kann, da sie deutlich früher operiert werden müssen. Ein spannendes Forschungsthema ist Tissue Engineering (Gewebezüchtung) - quasi Gewebe, welches man aus dem Gewebedrucker erhält und dieses zum Beispiel für offene Operationen oder für Stentgraft-Implantationen nutzen könnte. So könnte man körpereigenes Material vom Patienten züchten und das zukünftig als Gefäßprothese implantieren, egal ob mittels minimalinvasiver Verfahren oder durch manuelles Einsetzen als offener chirurgischer Eingriff.
Wir bedanken uns bei Ihnen für das Interview.
aktualisiert am 10.10.2023