Frau Prof. Dr. Röhrig-Herzog, Sie leiten die Arbeitsgruppe “Anämie im Alter” der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie.
Prof. Röhrig-Herzog: Das Wort „Anämie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt so viel wie „ohne Blut“. Natürlich sind Patienten mit einer Anämie nicht völlig blutleer, aber das Blut von Anämiepatienten ist tatsächlich heller und wirkt dünnflüssiger. Das liegt daran, dass diesen Patienten die roten Blutzellen (= Erythrozyten) fehlen, die in ihrem Inneren das Hämoglobingerüst haben, womit Eisen transportiert wird. Das Hämoglobin mit dem darinsitzenden Eisen bildet den „roten Blutfarbstoff“. Wenn ein Mangel an roten Zellen mit dem rotem Blutfarbstoff vorliegt, dann wirkt das Blut heller und dünnflüssiger: es liegt eine Anämie vor.
Prof. Röhrig-Herzog: Es gibt schon seit vielen Jahren immer wieder die Beobachtung, dass ältere Menschen sehr oft eine Blutarmut haben. Leider galt das lange Zeit als „typisch für das Alter“, was aber ganz falsch ist. In den letzten Jahren hat man sich dann intensiver damit befasst und die AG Anämie hat dabei auch eine ganze Reihe eigene Untersuchungen bei älteren Patienten gemacht, die in geriatrischen
(=altersmedizinischen) Abteilungen unterschiedlicher Kliniken in Deutschland behandelt wurden. Dabei zeigte sich, dass mindestens jeder zweite geriatrische Patient eine Anämie hatte! Inzwischen gibt es weltweit Untersuchungen zur Anämie im Alter und man hat vier Hauptkategorien für die Anämieentstehung bei älteren Menschen aufdecken können:
Es gibt schon seit vielen Jahren immer wieder die Beobachtung, dass ältere Menschen sehr oft eine Blutarmut haben. Leider galt das lange Zeit als „typisch für das Alter“, was aber ganz falsch ist.
Prof. Röhrig-Herzog: Der Goldstandard jeder Anämietherapie - unabhängig vom Alter - ist die Zufuhr von Eisen. Bei Anämien, die im Zusammenhang mit einem VitaminB12-, Folsäure- oder Selenmangel stehen, müssen dann aber zusätzlich diese Vitamine und Spurenelemente verabreicht werden. Da die roten Blutkörperchen ihre Funktion als Sauerstofftransporter nur bei ausreichender Verfügbarkeit von Eisen ausüben können, muss Eisen immer (mit) verabreicht werden. Wenn z.B. bei einem Vitamin B12-Mangel nur das Vitamin verabreicht wird, kann die Blutbildung dennoch nicht in Gang kommen, weil dafür das Eisen als Baustein direkt zur Verfügung stehen muss.
Eisengabe ist daher bis heute die grundlegende Therapie, wobei als erstes immer versucht wird, Eisen als sogenannte orale Gabe, also in Form von Tabletten, Kapseln oder Tropfen, zu verabreichen. Das über den Mund (=oral) eingenommene Eisen gelangt dann in den Magen-Darm-Trakt und wird dort über die Darmwand in das Blut
aufgenommen. Wie oben bereits aufgeführt, gibt es jedoch gerade bei Entzündungserkrankungen, die mit einer Entzündungsanämie einhergehen, Schwierigkeiten mit der Aufnahme von Eisen aus dem Darm, weil die Entzündungsbotenstoffe diese Aufnahme blockieren. Daher führt eine orale Gabe von Eisen bei Patienten mit Entzündungsanämie meist nicht zur Besserung der Anämie. Hier muss diese Blockade umgangen werden, indem man das Eisen als Infusion oder Einmalspritze (sogenannte Bolusgabe) über die Venen direkt ins Blut gibt. Die modernen Eiseninfusionen sind heute viel sicherer als noch vor einigen Jahren.
Dennoch kann es vorkommen, dass der Körper auf eine solche Eiseninfusion mit Kreislaufkomplikationen oder Schüttelfrost reagiert. Daher erfolgt eine Eisengabe über die Vene gewöhnlich entweder in einem Krankenhaus oder in einer Praxis, wo geschultes Personal vor Ort ist, das weiß, was im Notfall zu tun ist. Die Eiseninfusionen haben den Vorteil, dass man je nach Präparat nur wenige oder auch nur eine einzige Gabe braucht. Daher sind sie auch deutlich teurer als Eisen in Tabletten- Kapsel- oder Tropfenform.
Unabhängig vom Alter fängt man gewöhnlich bei Anämiepatienten mit einer oralen Eisengabe an und kontrolliert den roten Blutfarbstoff Hämoglobin nach 4-6 Wochen. Wenn er dann angestiegen ist, stimmt dieser Therapieweg und man macht damit weiter, bis der rote Blutfarbstoff Hämoglobin und der Eisenspeicher Ferritin wieder im Normalbereich sind. Das findet man durch kotrollierende Blutabnahmen heraus. Zeigt sich jedoch unter oraler Gabe nach 4-6 Wochen kein Anstieg des Hämoglobinwertes, dann sollte man mit seinem Arzt/seiner Ärztin überlegen, das Eisen über die Vene zu geben.
Unabhängig vom Alter ist der Goldstandard jeder Anämie-Therapie die Zufuhr von Eisen.
Prof. Röhrig-Herzog: Es gibt inzwischen eine große Zahl an Untersuchungen, die erforscht haben, welche Symptome bei Anämie im Alter auftreten. Tatsächlich gibt es bisher kein festes allgemeingültiges Beweissymptom, das einem sofort sagt, hier liegt eine Anämie vor. Vielmehr ist es so, dass Anämie bei älteren Patienten eine ganze Reihe von Symptomen und negativen Folgen haben kann: neben den auch bei jüngeren Patienten bekannten Symptomen wie Müdigkeit, Erschöpfung und Blässe weiß man heute, dass die Anämie bei betagten Patienten in engem Zusammenhang steht mit Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, mit eingeschränkter Kompetenz in der Alltagsbewältigung, mit depressiven Verstimmungen und mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten weiterer Erkrankungen (Morbidität) sowie mit einem erhöhten Risiko zu sterben (Mortalität). Daher ist es wichtig, den Befund einer Anämie bei einem älteren Menschen immer ernst zu nehmen und - sofern der Patient einverstanden ist -
die Anämie auch zu behandeln.
Prof. Röhrig-Herzog: Vor rund 50 Jahren legte die WHO Grenzwerte für das Hämoglobin fest, bei deren Unterschreitung man von dem Vorliegen einer Anämie sprach. Die Studien, die damals durchgeführt wurden, um diese Grenzwerte festzulegen, schlossen jedoch keine älteren Menschen ein, so dass zunächst unklar blieb, ob diese Grenzwerte auch für ältere Menschen gelten. Die AG Anämie hat sich vor einigen Jahren mit dieser Frage intensiv beschäftigt und konnte in eigenen Studien darlegen, dass diese Grenzwerte durchaus auch für ältere Menschen in Deutschland gelten.
Diese Einschränkung ist nötig, denn man weiß heute, dass die Höhe des normalen Hämoglobinwertes nicht vom Alter abhängt, sondern davon, welcher Bevölkerungsgruppe der betreffende Mensch angehört. Heute ist bekannt, dass Menschen afrikanischer oder asiatischer Abstammung oft niedrigere normale Hämoglobinwerte haben als Menschen nordeuropäischer Abstammung. Ein Grund dafür scheint der Überlebensvorteil bei bestimmten Bluterkrankungen zu sein, wie z.B. bei der Malariaerkrankung, die besonders oft auf dem afrikanischen Kontinent vorkommt. Hier haben Menschen mit einem im Vergleich zu Nordeuropäern niedrigeren Hämoglobinwert einen Überlebensvorteil. Daher ist es bei der Einschätzung eines Hämoglobinwertes auch immer wichtig zu wissen, wo der jeweilige Patient herstammt, um zu verhindern, dass eine Anämiediagnose falsch gestellt wird.
Prof. Röhrig-Herzog: Gerade im höheren Alter ist es wichtig ist, sich ausgewogen zu ernähren und möglichst keine Diäten zur Gewichtsreduktion durchzuführen. Dabei kann es sehr schnell zu Mangelernährung kommen. Das Auftreten von Entzündungen kann man nicht immer verhindern, aber man kann sein Immunsystem stärken, indem man die für ältere Menschen empfohlenen Impfungen durchführt und sich regelmäßig täglich 30 Minuten aktiv bewegt. Und dann ist es ratsam, die Hausarztpraxis für Checkups regelmäßig (z.B. einmal im Quartal oder alle 6 Monate) aufzusuchen und ein Blutbild machen zu lassen.
Gerade im höheren Alter ist es wichtig ist, sich ausgewogen zu ernähren und möglichst keine Diäten zur Gewichtsreduktion durchzuführen.
Prof. Röhrig-Herzog: Auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie in Frankfurt konnten einige interessante neue Daten vorgestellt werden, die darauf hinweisen, dass es einen Zusammenhang zu geben scheint zwischen Vitamin-D Mangel und Anämie bei Menschen über 60 Jahren. Ein anderer wichtiger, aber bisher noch zu wenig berücksichtigter Bereich im Zusammenhang mit Anämie ist die Mundgesundheit. Auch dazu haben wir schon einige interessante Erkenntnisse gewinnen können: z.B. können chronische Zahnfleischentzündungen im Mund über längere Zeit zu Blutverlusten führen. Dadurch können sowohl eine Entzündungsanämie als auch eine Eisenmangelanämie begünstigt werden. Kauprobleme mit schlechtsitzenden Prothesen führen zudem oft dazu, dass die Patienten bestimmte harte oder zähe Nahrungsmittel weglassen. Das kann dazu führen, dass sie über einen längeren Zeitraum einen Mangel an Blutbausteinen wie z.B. Eisen entwickeln und dadurch eine Anämie.
Auch ist es wichtig, daran zu denken, dass man möglichst keine Haftcreme mit Zinkanteil benutzt, denn dadurch kann es immer wieder - besonders wenn man zusätzlich mit der Nahrung viel Zink aufnimmt oder Zinktabletten zur Erkältungsvorbeugung nimmt – zu einem Zinküberschuss kommt, der den für die Blutbildung wichtigen Blutbaustein Kupfer im Darm verdrängt. Dadurch kann sich dann auch eine Anämie entwickeln.
Prof. Röhrig-Herzog: Wir dürfen vor allem erwarten, dass sowohl Behandelnde als auch Patienten eine Anämie im Alter nicht mehr als „normal“ ansehen und einfach ignorieren. Für die Behandlung der Entzündungsanämie, bei der eine Einnahme von
Eisentabletten- oder -tropfen meist wirkungslos bleibt, da das Eisen infolge der Blockade durch die Entzündungsbotenstoffe nicht mehr über den Darm aufgenommen wird, gibt es Ansätze für Medikamente, die diese Blockade aufheben sollen. Ob das wirklich eine Therapiemöglichkeit wird, ist noch nicht sicher zu sagen, aber es bestehen gute Chancen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 14.11.2023.